Redebeitrag für den dezentralen Aktionstag der Friedensbewegung am 1. Oktober 2022 in Berlin

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Zu den Risiken und Nebenwirkungen des Ukrainekrieges
Verhandeln statt Schießen – 5 Vorschläge, wie wir aus dem NATO-Russland-Stellvertreterkrieg wieder herauskommen können

 

Liebe Anwesende,

als Mitglied der Internationalen ÄrztInnen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) freue mich sehr, mit Ihnen allen am heutigen bundesweiten Aktionstag der Friedensbewegung hier in Berlin zu sein. Ich bedanke mich sehr für die Einladung, vor dem Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages zu Ihnen zu sprechen. Vielen Dank außerdem an die OrganisatorInnen dieser bedeutsamen Veranstaltung sowie an meine VorrednerInnen für die vielen wichtigen Dinge, die von ihnen bereits gesagt wurden! Ich hoffe sehr, dass auch einige der vielen Abgeordneten, die hier ihre Büros haben, Interesse für die Anliegen der Menschen vor dem Haus aufbringen! Die Zahl der UnterzeichnerInnen des Offenen Briefes „Frieden jetzt!“ von Alice Schwarzer geht inzwischen an die 400.000!

Der Grund, warum wir uns heute versammelt haben und vor dieses Haus gezogen sind, ist der – von Russland begonnene – Ukrainekrieg. Der durch die zunehmende Bewaffnung der Ukraine durch die NATO immer mehr zum Stellvertreterkrieg zwischen NATO und Russland wird. Mit immer mehr deutscher Beteiligung. Und immer größerer Gefahr der Eskalation zum Welt- und Atomkrieg.

In puncto Atomwaffeneinsatz ein kurzer Blick zurück:

Atombomben wurden bisher 2x eingesetzt – 1945 von US-amerikanischen Piloten auf zwei japanische Großstädte abgeworfen. Die über Hiroshima gezündete hieß „Little Boy“, hatte die für heutige Begriffe geringe Sprengkraft von 15.000 Tonnen TNT (viele der heutigen haben eine mehr als 100-fache Sprengkraft) und sie tötete sofort etwa 45.000 der damals 350.000 EinwohnerInnen der Stadt. Bis Ende 1945 war fast die Hälfte von ihnen tot – viele
durch Druckwelle und Verbrennungen getötet, die meisten aber durch qualvolle Strahlenkrankheit, unbehandelte Verletzungen und auch Hunger und Durst. Nur die wenigsten der Verletzten und Erkrankten erhielten ärztliche
Hilfe: Von ursprünglich 298 ÄrztInnen überlebten letztendlich nur 28...

Daher unsere Mahnung:

Im Fall eines Atomkriegs werden wir ÄrztInnen Euch nicht helfen können!

Ist das Alarmismus? Die uns als „Experten“ präsentierten Leute wie Liana Fix von der Körber-Stiftung behaupten das. „Putin wird schon nicht.“ Diese Annahme steht auf tönernen Füßen. U.a. setzt sie ein komplett fehlerfreies Funktionieren aller Mechanismen und AkteurInnen voraus. Was auch für die Atom-Kraftwerke immer wieder beteuert worden war – und sich inzwischen als falsch herausstellte. Roderich Kiesewetter, außenpolitischer Experte der Unions-Bundestagsfraktion, erklärte gar mehrfach öffentlich, die Anwendung strategischer Atomwaffen bräuchten wir nicht zu befürchten, und die Anwendung taktischer sei nicht so schlimm. Darüber müsse man die Bevölkerung aufklären.

TATSÄCHLICH aufklären müssen wir die Bevölkerung über folgendes:

Die IPPNW hat kürzlich ihre Studie „Nuclear Famine“ auch auf Deutsch herausgebracht: „Nukleare Hungersnot“. Sie zeigt: Selbst ein regional begrenzter Atomkrieg (sofern er sich überhaupt begrenzen ließe) – mit dem Einsatz von 100 der weltweit vorhanden 13.000 Atomsprengköpfe – würde einen „nuklearen Winter“ auslösen und damit eine globale Hungersnot. Die dann auch uns hier im reichen Norden ereilen und viele von uns dahinraffen würde. Zum Unbewohnbarmachen der Erde würden 1.000 dieser Sprengköpfe ausreichen... „Die Zeit“ titelte auf Seite 1 diese Woche:

„Auf einmal ist der Einsatz von Atomwaffen eine reale Gefahr.“

Wer einen Atomkrieg - auch einen „begrenzten“ - in Kauf nimmt, kann nur als Hasardeur bezeichnet werden (oder als Hasardeurin, wie im Fall unserer Außenministerin...).

„Wiederkehr der Hasardeure“ hat Willy Wimmer, CDU-Verteidigungs-Staatssekretär unter Helmut Kohl, sein Buch genannt, das er zum 100. Jahrestag des 1. Weltkrieges 2014 veröffentlichte. Die darin aufgezeigten Parallelen zwischen damals, als Europa mit viel Getöse und Ahnungslosigkeit in den 1. Weltkrieg schlitterte, und heute, wo wir von Leuten mit großem moralischem Gestus und geringer Sachkenntnis regiert werden, diese Parallelen sind erschreckend.

Schauen wir auch einmal kurz auf 2014:

NATO und EU halfen Arsenij Jazenjuk bei der Machtergreifung in der Ukraine, um mit seiner Hilfe Russland von seiner Schwarzmeerbasis auf der Krim zu vertreiben. Ziel war die Einverleibung der Ukraine in NATO und EU. Ergebnis war ihre Spaltung mit seither über 8 Jahre andauerndem „kleinem“ Krieg dort, der Anschluss der Krim an Russland und inzwischen der große Krieg zwischen Russland und der Ukraine seit Februar diesen Jahres.

Wie sieht es heute aus?

Die jahrzehntelange Eskalation westlicher Hybris – aus dem Selbstverständnis der NATO-Führungsmacht, „Die einzige Weltmacht“ zu sein (Titel des berühmten Brzezinski-Buches von 1997) – mit permanenter NATO-Ostexpansion, fortgesetzter Kündigung zentraler Rüstungskontrollabkommen und Ausschlagung zahlreicher russischer Verständigungs- und Kooperationsangebote – beantwortete Moskau im Februar diesen Jahres seinerseits mit Eskalation: dem Einmarsch in die Ukraine. Zuvor hatte es keinerlei ernsthafte Verhandlungen über die im Dezember 2021 vorgelegten russischen Forderungen bezüglich seiner Sicherheitsinteressen gegeben. Begründung: Das komme alles nicht in Frage.

Seither wird – von einem kurzen Hoffnungsschimmer in Istanbul abgesehen – weiter eskaliert, von beiden Seiten: Nachdem Kanzler Scholz anfangs Bedenken gegen die Lieferung schwerer NATO-Waffen mit Weltkriegsgefahr begründete, luden die USA zahlreiche NATO-Verbündete ins deutsche Ramstein ein und machten ihm klar, wer hier das Sagen hat. Dazu wurde ein Wirtschaftskrieg gegen Russland erklärt (der seit Christian Lindners Aussage dazu diese Woche auch offiziell ist), der Russland „ruinieren“ soll (Baerbock) - und Deutschland am besten gleich mit (so das offenbare Kalkül seiner transatlantischen Gewinner). Jetzt Teilmobilmachung in Russland, Annexion von großen Teilen der Ukraine sowie Sprengung beider Gaspipelines nach Deutschland. Nach jahrelangem Kampf der USA gegen die Pipeline und Bidens öffentlichem Statement „We will put an end to it“ https://www.blick.ch/video/werden-dem-ein-ende-setzen-us-praesident-bide... (Anfang Februar in Washington zu dem überraschten Olaf Scholz) rätseln jetzt alle, wer den Anschlag verübt haben könnte.Was ist das Ziel? Ein militärischer Sieg gegen Russland? Mit seinen tausenden von Atomsprengköpfen? ERNSTHAFT? „Demütigung als Gefahr“ erkannte Erhard Eppler schon 2014, als es konkret wurde mit Plänen für den Anschluss der Ukraine an NATO und EU.

Nein. Ein Friedenschluss durch Verhandlungen ist jetzt alternativlos. Hier 5 Vorschläge, wie wir den Weg dahin ebnen können:

1.

Den Weg in den Krieg verstehen – um einen Weg heraus zu ermöglichen: Nicht rechtfertigen, sondern SEHEN und VERSTEHEN, wie es zu der Situation im Februar diesen Jahres und heute gekommen ist: Für Moskau hatte der fortschreitende NATO-Griff nach der Ukraine und damit nach seiner Schwarzmeer-Flottenbasis auf der Krim das Fass des westlichen Vormarsches zum Überlaufen gebracht. Seine Forderungen von Dezember 2021 waren verhöhnt statt ernsthaft beantwortet worden. Es ist nun spät geworden. Der Krieg und seine Eskalation erschweren einen Ausweg aus dieser Spirale erheblich. Trotzdem muss nun endlich – wenigstens jetzt – umgesteuert werden. Es liegen mehrere fundierte Ansätze für Verhandlungen auf dem Tisch – aus Italien, dem Vatikan, aus Mexiko und Südafrika. Was wir durchbrechen müssen, ist die jahre-/ jahrzehntelange Weigerung, Russland mit seinen Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen. JETZT, HIER, bei uns!

2.

Begriffe zurechtrücken – wieder selbst Besitz von der Sprache ergreifen:

  • Die UN-Charta hat für das geschilderte jahrelange Vorrücken gegen Russland keinen Begriff. KSZE-Schlussakte und OSZE-Charta hingegen verbieten die militärische Expansion in Nachbarstaaten. Dies sollten wir als „Aggression neuen Typs“ beim Namen nennen und ihre Beendigung fordern.
  • Das sogenannte „Sondervermögen“ von 100 Milliarden € für Aufrüstung ist kein Vermögen, sondern es gründet auf SCHULDEN. Faktisch handelt es sich somit um Kriegskredite – sehr ähnlich denen, die 1914 der Reichstag zur Vorbereitung des 1. Weltkrieges bewilligte. Ihre Refinanzierung (zwecks Rückkehr zur „Schuldenbremse“) wird durch Enteignung mittels Inflation erfolgen. (Seit dieser Woche kommt noch ein weiteres „Sondervermögen“ hinzu: Weitere 200 Milliarden Euro zusätzliche Kriegskredite...)

3.

Verwechslungen und Verdrehungen entgegentreten

  • Das Argument gegen die Thematisierung des gravierenden westlichen Beitrags zum Weg in den Krieg lautet stets, das relativiere die Schuld Russlands: Ein Angriffskrieg lasse sich durch nichts rechtfertigen. Ja, richtig, er lässt sich nicht RECHTFERTIGEN! Nur: Wer Sachanalyse mit Rechtfertigung verwechselt und so moralisch denunziert, versteht entweder nichts von Politik (die faktisch ja nicht moral-, sondern interessengeleitet ist), oder betreibt – interessengeleitet – Vernebelung seiner Eskalationsagenda. Koste sie, was sie wolle.
  • Ablehnen sollten wir zudem die Verwechslung von „Solidarität mit der Ukraine“ mit Waffen für den NATO-Mann Selenskyj: Solidarität im Krieg heißt Rettung von Menschenleben und Schutz von Deserteuren. Den Missbrauch des wichtigen Begriffs Solidarität sollten wir nicht zulassen.

4.

Die Eskalation des Krieges befeuert die Zerstörung des Klimas und damit von unser aller Lebensraum. Lasst uns dies täglich anprangern:

  • Nicht nur fehlen die 100 Mrd. € „Sondervermögen“ für den Klimaschutz.
  • Sondern auch LNG- statt Pipeline-Gas, mit tausenden Tonnen von Diesel über die Ozeane transportiert, treibt die Klimaerhitzung an!
  • Schließlich verursacht die Produktion von Bergen von Waffen und ihre massenhafte Anwendung immense Mengen von zusätzlichem CO2. In den fast täglichen Meldungen über neue Flut-, Sturm- und Dürrekatastrophen (aktuell Hurrikan Ian, davor Puerto Rico und Pakistan, vor einem Jahr Eifel und NRW) werden Rüstung und Krieg als Öl ins Feuer der Klimakatastrophe konsequent verschwiegen. Daher müssen wenigstens WIR diesen Zusammenhang überall und mit großem Nachdruck thematisieren!

5.

Appell an alle SozialpolitikerInnen – und zwar auch an die der „Linken“, die jetzt notgedrungen immer mehr und immer größere „Entlastungspakete“ fordern – die die heraufziehende Inflation und massenhafte Vernichtung von betrieblichen und menschlichen Existenzen mildern sollen: Fast stets wird dabei vergessen, den „Elefanten im Raum“ als Ursache des Desasters zu erwähnen: Den Krieg und seine Eskalation – einschließlich des Wirtschaftskrieges gegen Russland. Den Elefanten müssen Sie – bitte! – JEDES MAL BEIM NAMEN NENNEN! Die entscheidende Maßnahme zur „Entlastung der Menschen“ ist doch das Ende der Kriegseskalation, einschließlich des Wirtschaftskrieges! Ich weiß, wie diejenigen diffamiert werden, die das tun (ein Beispiel dafür sind die massiven Angriffe gegen Sahra Wagenknecht). Trotzdem!

Zum Abschluss 4 Forderungen:

  • 1) Die einzig mögliche Hilfe gegen die tödlichen Auswirkungen eines Atomkrieges besteht in seiner Verhütung! Durch Deeskalation!
  • 2) US-Atomwaffen endlich raus aus Deutschland! Und Abschaffung ALLER Atomwaffen: Beitritt Deutschlands zum Atomwaffen-Verbotsvertrag! (AVV / TPNW)
  • 3) Frieden und Soziales sind untrennbar! Von „Entlastungen“ reden und vom Krieg schweigen ist Neusprech...
  • 4) Brot, Heizung und Frieden! Statt Waffen-Lieferungen, (selbst-)ruinösen Sanktionen und Eskalation der Weltkriegsgefahr: Waffen-Stillstand!

Verhandlungen mit Russland – endlich wirkliche – sofort!

Ich danke Ihnen und Euch allen!

Und ich wünsche Ihnen und uns den Mut, den wir brauchen, auch in Kriegszeiten noch FÜR Frieden und GEGEN die Eskalation des Krieges einzutreten!

 

Christoph Krämer ist aktiv bei der IPPNW.