Friedenstaube führt nicht ans Licht
"Das Leben besiegt den Tod und das Licht die Dunkelheit", wie der ukrainischre Präsident in seiner Rede vor dem EU-Parlamt am 1. März sagte
"Das Leben besiegt den Tod und das Licht die Dunkelheit", wie der ukrainischre Präsident in seiner Rede vor dem EU-Parlamt am 1. März sagte
Vian - Own work, CC BY-SA 4.0

Auf absehbare Zeit bleiben Russland und die Ukraine verfeindete Staaten, die bestenfalls einen Waffenstillstand abschließen können. Die Versöhnung lässt noch mehrere Jahrzehnte auf sich warten. Das ist der letzte Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen". (7/7)

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Die inflationäre Verwendung des Begriffes „Genozid“ sowohl auf der russischen als auch auf der ukrainischen Seite zeigt, wie unversöhnlich sich das offizielle Moskau und das offizielle Kiew gegenüberstehen. Dabei ist aber Genozid, jenes Wort, welches die ukrainische Delegation auf dem Filmfestival von Cannes der Weltallgemeinheit vorzeigte [1] und Putin als Begründung für den Überfall auf die Ukraine galt [2], starker Tobak. Russische Verbrechen im Donbas kommen in ihrer Schwere dem Völkermord nicht mal annähernd gleich. Wer das Gegenteil behauptet, egal, in welchem patriotischen Eifer oder neurotischen Zustand man sich gerade befindet, erweist allen Völkermordopfern einen Bärendienst. Unterstellt man der anderen Seite den Genozid – die russische Propaganda bedient bzw. vollbringt dadurch die Russophobiemär, manche Ukrainer versuchen dem Krieg gegen ihr Land eine andere Dimension zu verleihen –, ist das im Grunde die Endphase der Entmenschlichung.

Dass man den kollektiven Gegner entmenschlicht, ist in Kriegszeiten durchaus verständlich. Die oft dem Nervenzusammenbruch geschuldeten rhetorischen Entgleisungen à la „Es gibt keine guten Russen“ oder „Ein guter Russe ist ein toter Russe“ [3] gilt es im Moment einfach hinzunehmen. In Zeiten wie diesen muss man sich zwangsläufig damit abfinden, dass es für die Mehrheit der Ukrainer momentan keine guten Russen zu geben scheint. Die Versuche, sich als einen solchen hinzustellen, laufen dann ins Leere und dienen nur dem eigenen Wohlgefühl. Und wofür jemanden mit dem Beweis der eigenen Unschuld nerven, dessen Heimat gerade zu verbrannter Erde wird?

Manche Russen – und das ist natürlich nur ein winziger Teil der Gesamtnation – müssen jetzt in erster Linie sich selbst die Frage beantworten, ob und inwiefern sie für diesen Krieg persönlich mitverantwortlich sind. Krokodilstränen der russischen Intelligenzija, deren viele Vertreter jetzt Russland verließen, entbehren nicht eines selbstdarstellerischen Elements. Oft ist das Argument zu hören, man habe als Gesellschaft versagt und durch die eigenen Passivität und Konformismus dem Tyrannen keinen Riegel vorgeschoben. Egal, ob man an die Kollektivschuld glaubt, sind Äußerungen dieser Art kritisch zu betrachten. In einer hartnäckigen Autokratie wie es Russland heute ist, steht ein Gewissensmensch irgendwann mal vor einer Wahl: Entweder die eigene Kritik am Regime öffentlich kundtun und dadurch die eigene Freiheit aufs Spiel setzten bzw. dafür garantiert hinter Gitter zu müssen oder seine Kritik ausschließlich im Privaten äußern und an keinerlei Protestaktionen teilnehmen. Manch ein Dogmatiker lässt sich für seine Überzeugungen gerne der Freiheit berauben. Dass es aber die allermeisten nicht tun und auf politische im Tausch für alltägliche Freiheiten zu verzichten bereit sind, darf man den Menschen nicht übelnehmen. Die in oppositionellen Kreisen einigermaßen verbreitete Parole „Man kann doch nicht alle nicht ins Gefängnis stecken“, die darauf hindeutet, dass bei einer größeren Protestmenge es für das Regime nicht mehr auszuhalten wäre, ist grob falsch. Sehr wohl kann man alle ins Gefängnis stecken, zumal das russische Strafvollzugssystem die GULAG-Traditionen fortsetzt [4].

Ich glaube nicht an die Kollektivschuld, weder damals noch heute. In den ersten paar Wochen nach dem Überfall durchzogen mich Schamgefühle, obwohl dafür streng genommen keine Gründe vorlagen. Drei Monate danach fehlt es mir einigermaßen leicht, das zu sagen. Sich zu entschuldigen und zu distanzieren ist ja unproblematisch, doch wofür und wovon? An dieser Stelle ist erneut darauf hinzuweisen, dass ich ein ziemlich repräsentativer Vertreter der um die Jahrtausendwende in Russland geborenen Generation bin. Sehr viele deren Vertreter haben Putin nie gewählt und machten auch aus ihrer Verachtung für ihn keinen Hehl. Sehr viele deren Vertreter fanden die landesweite Euphorie nach der Krim-Annexion widerlich, genauso wie den faschistischen Siegeskult. Mir und vielen anderen war das völlige politische Desinteresse befremdlich, genau wie das Ausbleiben jeglicher Versuche, totalitäre Vergangenheit aufzuarbeiten.

Es kann sein, dass ich mich irre. Es kann sein, dass ich und alle, die ihren Protest gegen Putins Politik nicht aktiver verkündeten, dafür mitverantwortlich sind, dass der schlimmste Alptraum Realität werden konnte. Trotzdem wollte ich nie für meine Überzeugungen ins russische Straflager. Einzig dort wäre man in Bezug auf den Vorwurf, nicht genug zu tun, auf der sicheren Seite, nur dann hätte man – denkt man diese Einstellung konsequent weiter – das Gefühl, alles in eigener Kraft Stehende getan zu haben.

Der Unwille der Mehrheit der Ukrainer, keine Unterscheidung zwischen bösen und guten Russen vorzunehmen, ist unter anderem ihrem Wunsch geschuldet, ein „Antirussland“ zu sein. Mit ihren eigenen Helden, zum Beispiel den extremen Nationalisten Symon Petljura, Stepan Bandera oder Jewhen Konowalez. Manche davon waren Nazi-Kollaborateure, doch für viele besonders im Westen des Landes sind sie in erster Linie Befreiungskämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit. Nach all den Schrecken der sowjetischen Unterjochung durchaus verständlich: Die Zwangskollektivierung verursachte in der Ukraine den millionenfachen Hungertod. Ziemlich schnell driftet die Ukraine von Russland endgültig ab.

Das ist in Ordnung. In der Geschichte eines jeden Landes gibt es Figuren, die den Nachbarstaaten gelinde gesagt unangenehm sind, damit gilt es sich einfach abzufinden. Das künftige Russland, welches noch nicht in Sicht ist, soll daraus kein überdimensionales Problem machen. Wollen die Ukrainer aber Europäer sein, werden sie sich Werte wie Toleranz und Minderheitenschutz auf ihre Fahnen schreiben müssen. Immerhin wird im Osten noch recht viel Russisch gesprochen. Unabhängig davon, ob die Rückeroberung der von Russland annektierten Gebiete gelingt: Die Leute im Westen und im Osten bleiben unterschiedlich. Sehr viele wurden seit Jahren durch die russische Staatspropaganda einer Gehirnwäsche unterzogen, diese aus den Köpfen auszutreiben wird in vielen Fällen unmöglich sein. Es lässt sich hoffen, dass die Ukrainer tolerant mit ihren Mitbürgern umgehen, die die russischen Propagandanarrative übernahmen. Ein Selbstläufer ist das nicht, die nationale Geduld wird auf eine schwere Probe gestellt.

Mit der Versöhnung von zwei Nationen ist in erster Linie die Versöhnung von zwei Staaten gemeint. Im lokalen Maßstab bedarf es ihrer häufig nicht: Ebbt der Wut ab, stellt manch ein Ukrainer fest, dass nicht alle Russen kriegslüsterne Imperialisten sind und viele ernsthaft der ukrainischen Seite die Daumen drücken. Die Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine lässt auf sich warten, selbst mittelfristig ist sie nicht in Sicht. Eher Russland der Ukraine seine schwielige Hand reicht (noch dürfte das Staatsoberhaupt nicht geboren sein, welches das macht), muss Russland in Bezug auf die Ukraine zumindest Folgendes gemacht haben: 1) Die annektierten Gebiete zurückgeben, 2) Den Krieg beim Namen nennen und schonungslos aufarbeiten, 3) Die Reparationszahlungen aus dem eigenen Willen heraus leisten sowie anderweitige Unterstützung anbieten. Tut man ernsthaft Buße, muss als Ausgleich für begangenes Unrecht viel mehr getan werden als man zerstört hat. Die Verurteilung von russischen Kriegsverbrechern ist hier zwar ein erwünschter, dennoch kein zwingend notwendiger Prozess: Vergeltung und Rache stehen allen Versöhnungsbemühungen im Wege. Ich bin mir bewusst, dass sich die folgenden Worte für manche nicht leicht anhören. Aber: Man muss auch verzeihen können. Wenn die Ukraine zu verzeihen bereit ist und Russland die oben genannten Mindestvoraussetzungen erfüllt haben wird, kann man vom Beginn der Versöhnung sprechen.

Die Aufarbeitung des russisch-ukrainischen Krieges reiht sich ein in die lange Liste notwendiger Veränderungen, deren Umsetzung in Russland längst überfällig ist. Um es kurz zu fassen: Von einer autokratischen Oligarchie muss es zu einer parlamentarischen Demokratie werden, wo für imperialen Wahn kein Platz ist. Einfach ein Land, wie alle andere es auch sind. Das werte Publikum wird nicht glauben, wie oft ich diesen Satz schon hörte: „Warum können wir nicht einfach ein normales Land sein?“. Ein solches normales Land wird es auch werden. Jetzt ist das Regime voll dabei, in sich zusammenzubrechen, was auf lange Sicht für alle gut ist. Um wieder aufzuerstehen, muss man ja zuerst sterben.  

 

 

 

 

Alexander Zaslawski

 

 

Über diesen Blog:

Das ist der letzte Text der Blogserie "Putins Krieg mit den Augen eines Deutschrussen", welche ich im Rahmen meines Praktikums beim Netwerk Friedenskooperative erstelle. Ich freue mich über Anregungen, Feedback und Kritik. Ich bin unter a [dot] zaslawski [at] friedenskooperative [dot] de zu erreichen.

 

Fußnoten:
[1] https://www.euronews.com/2022/05/25/ukrainian-filmmakers-of-butterfly-vi...

[2] https://www.zeit.de/news/2022-02/22/putin-schockt-mit-rede-marionetten-r...

[3] https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_91750420/kriegstre...

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/straflager-russland-101.html