ungehaltener Redebeitrag für den geplanten Ostermarsch in Nürnberg am 13. April 2020

 

Die Friedensbewegung stärken!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

die globale Ausbreitung des Corona-Virus zeigt in aller Schärfe die Verletzlichkeit der menschlichen Zivilisation. Die Wirklichkeit verändert sich radikal. Die Gefahr wächst, dass sie autoritäre Strukturen zementiert und soziale Ungleichheit vertieft. In dieser Schlüsselsituation kann es zu neuer Gewalt kommen.

Die Pandemie trifft alle Länder der Erde, während früher die Folgen derartiger Epidemien regional begrenzt blieben und schrecklicherweise vor allem arme Regionen traf. Die Ausbreitung war oft eine Folge des weltweiten Kolonialismus. Heute haben wir es mit einer neuen Dimension von Gefahren zu tun. Und sie werden auch zur Friedensfrage, von kriegsähnlichen Zuständen wird bereits gesprochen.

Mit der Globalisierung der Märkte und die Digitalisierung der Welt verschmilzt die Erde zu einem einzigen zerbrechlichen Ort, in dem sich reichere Länder mit geschlossenen Grenzen abzuschotten versuchen. Damit verschärfen sie die Konflikte auf der zusammenwachsenden Welt weiter. Es wächst die Gefahr ausgrenzender und gewalttätiger Strukturen.

Tatsächlich ist die Trennlinie zwischen zivilen und militärischen Konflikten schmal geworden. Die Welt steht am Rande des Friedens. Die Bereitschaft zu Kooperation und Verständigung schwindet. Ein neuer Kalter Krieg breitet sich aus. Deshalb ist eine starke Friedensbewegung so notwendig und wichtig. Heute wieder mehr denn je.

Immer mehr Geld wird für das Militär ausgegeben, wieder mehr schon als 1988. Allein für die Modernisierung der amerikanischen Atomwaffen sind in den nächsten Jahren rd. 500 Mrd. US-Dollar vorgesehen. Zusammen mit Waffensystemen, die noch genauer und zerstörerischer sind, sie erreichen Mach 20 und werden zur unwiderruflichen Vernichtungswaffe. Wir erleben die Perversion des militärischen Denkens und neuer Strategien der Gewalt.

Hinter dem Rüstungs-Spitzenreiter USA, die damit auch einen „schmutzigen Keynesianismus“ zugunsten der eigenen Industrie betreiben, folgen China, Saudi-Arabien, Indien und Frankreich. Russland liegt in der Rangfolge an sechster Stelle.

In Deutschland wurden die Militärausgaben seit 2014 um ein Drittel erhöht. Die Grundlage für die massive Steigerung in den Nato-Staaten ist der rechtlich nicht verbindliche, aber von den Regierungen akzeptierte Beschluss, die Ausgaben bis zum Jahr 2024 auf jährlich 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen.

Deutschland würde dann mit fast 90 Mrd. US-Dollar auf Rang 4 weltweit vorrücken. Tatsächlich ist das 2-Prozent-Ziel der Fetisch eines kurzsichtigen Militarismus. Damit würde noch mehr Geld für die Aufgaben fehlen, die für den Frieden wirklich wichtig sind: für Klimaschutz, Bildung, Gesundheit, Sozialsysteme oder Entwicklungszusammenarbeit. 

Neben der neuen Hochrüstung und der Zerstörung der bisherigen Abrüstungs- und Sicherheitsarchitektur wie dem START-Abkommen von 1987 drohen neue globale Gefahren in bisher unbekanntem Ausmaß. In heute erschreckender Anlehnung an die sich schnell ausbreitenden Corona-Gefahren deutete bereits 1992 der damalige amerikanische Vizepräsident Al Gore auch die Erderwärmung als einen planetarischen Virus, der die Gaia, die Mutter Erde, zerstört. Die Anreichung der Treibhausgase kontaminiert die Immunität der Erdatmosphäre und vernichtet menschliches Leben – mit dramatischen Folgen.

Je mehr die sozialen und ökologischen Schutzschichten der Erde zerstört werden, desto verzweifelter werden die Anstrengungen der Menschen, das eindringende Virus zu bekämpfen. Und desto geringer kann die gerade dann notwendige Solidarität und Kooperation werden. In der Folge nehmen auch Kriegsgefahren zu. Wichtige Ursachen liegen in dem neuen Nationalismus, der sich weltweit ausbreitet, und in harten wirtschaftlichen Interessen, die hemmungslos durchgesetzt werden. Und damit auch in ungelösten sozialen und ökologischen Problemen.

Neue strategische Bedrohungen werden deutlich. Sie sind eine Folge der ökonomischen Verwertungszwänge auf den globalen Märkten durch eine permanente Erweiterung von Arbeitsteilung, Beschleunigung, Rationalisierung und Internationalisierung. Entscheidend ist dafür das Regime der „freien“ Märkte., die Zeit und Raum entgrenzen und die Welt zu einer zerbrechlichen Einheit machen.

Wir kommen nicht an der Erkenntnis vorbei, dass die moderne Zivilisation in einer tiefen Krise steckt. Verteilungskämpfe, Gewalt und Kriege zu verhindern, erfordert mehr als eine Erweiterung oder Ergänzung des bisherigen Modells von Wirtschaft und Gesellschaft. Und auch viel mehr als den Versuch, die sozialen und ökologischen Auswirkungen nachträglich zu begrenzen.

Tatsächlich ist das Corona-Virus ein Warnschuss vor den Bug der Selbstgewissheit moderner Gesellschaften. Wir stehen vor der Wahl: Entweder kommt es schnell zu Abrüstung und Rüstungskontrolle und zu einer sozial-ökologischen Gestaltung der heutigen Transformation, die nach dem Leitbild der Nachhaltigkeit eine gemeinsame Zukunft formt. Oder die weitere Entwicklung steuert unsere Zukunft chaotisch und unerbittlich, gewaltsam und schmerzhaft. Tiefe Brüche, schwere Verwerfungen und sogar neue Kriege würden die Folgen sein.

Um in der globalen Welt zu mehr politischer Handlungsfähigkeit zu kommen, darf es nicht zu einer Dominanz militärischer Kategorien kommen. Was wir brauchen, sind mehr Demokratie und soziale und ökologische Gerechtigkeit. Und wir brauchen eine Regionalisierung der Globalisierung: Das erfordert die Regionen zu stärken und ein demokratisches Gleichgewicht zwischen den großen Wirtschaftsräumen und Kontinenten herzustellen. Nur so können neue soziale und ökologische Schutzschichten geschaffen werden, aber nicht mit Waffen und Konfrontation.

In dieser schwierigen Situation wäre demokratische Führungslosigkeit eine der größten Bedrohungen überhaupt. So wie das Versagen beim anthropogenen Klimawandel schon viel zu lange der Fall ist. Und  auch heute wächst auch noch die Gefahr, dass der planetarische Klimavirus wieder verdrängt wird.

Die Politik darf sich nicht in neoliberaler Ideologie den globalen Märkten unterordnen, die wahrscheinlich das mächtigste Werkzeug sind, das von der menschlichen Zivilisation geschaffen wurde. Sie sind aber ohne politische Kontrolle unvertretbar. Sonst sind sie noch stärker der Treiber für die Destabilisierung und Dezivilisierung der Welt.

Der cartesianische Zugang zur menschlichen Geschichte lässt uns glauben, wir könnten die Natur nach Belieben nutzen. Das ist eine fundamentale Fehleinschätzung, die uns tief in die Krise führt. Genauso wie der Irrglaube, freie Märkte ohne Rückbindung an Mensch und Natur wären die Voraussetzung für Wohlstand und Fortschritt.

Wir müssen diese Fehler schnell korrigieren, andernfalls wächst die Gefahr neuer Kriege. Deshalb müssen Friedensbewegung, Umweltbewegung und Sozialbewegung eine Einheit werden. Unsere Aufgabe heißt nicht mehr Rüstung, sondern eine friedliche, gerechte und gesunde Welt. Das ist auch die Lehre aus Corona.

 

Michael Müller ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.

 

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