Redebeitrag für die Antikriegstagsveranstaltung am 2. September 2023 in Stukenbrock

 

- Es gilt das gesprochene Wort! -
- Sperrfrist: 2.9. 2022, Redebeginn: 12 Uhr -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

 

es ist an diesem Platz schon eine lange Tradition, jedes Jahr am Antikriegstag nicht nur den Frieden zu beschwören und gegen die aktuellen Kriege die Stimme zu erheben, sondern vor allem an die unvorstellbaren Verbrechen des deutschen Volkes und die Toten dieses bisher größten Krieges der Menschheitsgeschichte zu erinnern. Ich danke Ihnen/Euch und fühle mich durch Ihre Einladung geehrt, dieses Jahr wieder hier zu sprechen.

Ich bin 1938 geboren und habe selbst nur schwache Erinnerungen an die Zeit des Krieges. Wir lebten, ausgebombt und evakuiert bei Bauern in einem Dorf, Sandstedt, an der Weser. Der Krieg ging an ihm vorbei. Nur an eines erinnere ich mich genau. Auf dem Nachbarhof gab es einen russischen Arbeiter, zwischen uns ein Zaun, er war freundlich, wir glaubten, er würde sich von Baumrinde ernähren und behandelten ihn so, boten ihm Baumrinde durch den Zaun. So wurde das Bild vom „russischen Untermenschen“ in die Gehirne der Kinder gepflanzt. Ich schäme mich bis heute.

Erst Jahrzehnte später – nicht in der Schule, nicht im Studium – erst lange nach den Jahren des „organisierten Vergessens“ erfuhr ich, dass es mehr als 5,7 Millionen solcher russischen Arbeiter und Kriegsgefangener in Deutschland gab, von denen fast zwei Drittel, bis zu 3, 3 Millionen nicht überlebte. 65 000 der durch Zwangsarbeit und Hunger umgekommenen liegen hier. Schon vor Kriegsbeginn war der Massentod sowjetischer Kriegsgefangener im sogenannten „Hungerplan“ einkalkuliert worden. Sie sollten in arbeitsfähige Gefangene unterschieden werden, die am Leben bleiben sollten, und nichtarbeitsfähige Gefangene, die ermordet wurden. Etwa 140.000 sowjetische Gefangene wurden als „politisch untragbar“ zur Ermordung an die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und den Sicherheitsdienst (SD) übergeben. All diese sowjetischen Kriegsgefangenen waren nach der jüdischen Bevölkerung die zweitgrößte Opfergruppe der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.

Vor einigen Monaten nahm ich in Hamburg an einer Gedenkfeier für die in der Schule am Bullenhuser Damm noch im April 1945 ermordeten 20 jüdischen Kinder teil. Alljährlich wird in dem schon lange nicht mehr als Schule benutzten Gebäude am 20. April des grauenhaften Mordes gedacht. Eine private Initiative. Hinterbliebene und Verwandte werden aus Israel, Polen, Italien und Frankreich eingeladen. In den letzten Jahren hat sich auch die Stadt Hamburg zur Unterstützung dieser Initiative entschieden und entsendet seither eine Vertretung der Stadt. Am gleichen Tag wurden aber auch 24 sowjetische Kriegsgefangene ermordet. Wie sie hießen, weiß man bis heute nicht. Hinterbliebene oder Verwandte sind nicht bekannt. Sie werden bei der Gedenkfeier für die Kinder zwar erwähnt, aber eine Feier für sie gibt es nicht.

Diese Gesellschaft weiß zwar, dass der heroische Krieg der Sowjetunion 27 Millionen Menschenleben gekostet hat und der Angriff der deutschen Armee am 22. Juni 1941 mit einer Lüge begann, sie weigert sich aber, das Erbe der Erinnerung, wie es zumindest in der DDR bis zu ihrer Auflösung aktiv gepflegt wurde, zu übernehmen und weiterzuführen. Das Gedenken und die Erinnerung werden privaten Initiativen überlassen mit ihren schmalen Mitteln, wie in Stukenbrock oder Gudendorf, nur zögerlich unterstützt von der öffentlichen Hand. Sucht man aber in Wikipedia nach Stukenbrock, so stößt man auf das Schloss Holte, den Safaripark und den FC Stukenbrock, kein einziger Eintrag verweist auf die Gedenkstätte.

Wohl jeder Redner an dieser Stelle hat an die Mahnung von Christa Wolf erinnert: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Das darf nicht sein, deswegen sind wir hier, um das Gedenken lebendig zu halten, uns nicht vor der Geschichte zu drücken, wenn auch auf dem Obelisken immer noch das Kreuz steht, wo einst die sowjetische Flagge wehte, wo sie hingehört – wie auf der Einladung zu dieser Gedenkfeier zu sehen.

Am 6. September ist Antikriegstag, und den 21. September hat die UNO-Generalversammlung 1981dem Frieden gewidmet. Offiziell heißt es in dem Entscheid: „Dieser Tag soll offiziell benannt und gefeiert werden als Weltfriedenstag und soll genutzt werden, um die Idee des Friedens sowohl innerhalb der Länder und Völker als auch zwischen ihnen zu beobachten und zu stärken.“ Beide Tage gehören zusammen und werden verbunden durch die Erinnerung. Es fehlt ein Tag der Erinnerung, der deutlich macht, dass der Ruf „Nie wieder Krieg“ nur aus der Erinnerung an die furchtbaren Folgen vergangener Kriege Sinn macht und die Idee des Friedens ohne Erinnerung hohl ist.

Vor über 70 Jahren, 1952, mahnte Bertold Brecht in seiner Rede für den Frieden:

„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast nicht geringer. Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Gräueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben. Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht und nicht nass, sagen viele.

Die Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns heute schon vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen.

Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne Zweifel, wenn denen die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.“

Als ich vor genau 20 Jahren hier in Stukenbrock zum Antikriegstag am 6. September die Gedenkrede hielt, habe ich den ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow zitiert. Er erinnerte sich in seinen Memoiren an den Besuch seiner Frau Raissa im Juni 1989 in Stukenbrock und schrieb:

„Endlich geschah, was schon längst hätte geschehen müssen: Man verneigte sich vor den Gräbern unserer Landsleute, die in dem vom Faschismus aufgezwungenen Krieg ihr Leben lassen mussten, und man richtete ein gutes Wort an die Bürger des neuen Deutschland. Die deutsche Presse berichtete ausführlich darüber und würdigte diesen Akt als ein bedeutsames Ereignis, als eine >Geste der Versöhnung<.“

Damals sagte ich: „Auch heute verneigen wir uns vor den Gräbern der sowjetischen Kriegsgefangenen und Verschleppten, die hier zu Tode gequält wurden. Aber welches sind heute die „guten Worte“, die wir an die Bürgerinnen und Bürger richten können, und wie wird die Presse dies als eine „Geste der Versöhnung“ werten können?

Der Krieg, mit dem US-Präsident Bush im März 2003 den Irak überfallen hatte, war gerade beendet. Noch am 15. Februar hatte die größte internationale Friedensbewegung der Welt, über 35 Millionen Menschen, mit einer weltweiten Demonstration versucht, diesen Krieg zu verhindern. Auch wenn der Versuch scheiterte, er hat gezeigt, wie stark der Friedenswille die Menschen mobilisieren kann und sich von den Lügen der Kriegstreiber nicht täuschen lässt. Er zeigt allerdings auch, wie schwach dieser Friedenswille gegenüber den ökonomischen Interessen der großen Konzerne und ihrer politischen Vertretung in den Regierungen und Parlamenten ist, wie brutal das Kapital auch um den Preis eines Krieges seine Interessen durchzusetzen vermag. Denn nichts anderes als die nach wie vor begehrten Rohstoffe Gas und Öl hatten die US-amerikanische Regierung zu diesem Krieg getrieben. Seine unermesslichen Zerstörungen und menschlichen Opfer belasten noch heute das Leben in Irak.

Und nun stehen wir wieder mitten in einem Krieg, den wir uns so nie haben vorstellen können und der allen unseren Friedensprinzipien widerspricht. Hatten wir es bisher mit den zahlreichen Kriegen und Überfällen zu tun, die die USA und die NATO zur Absicherung ihrer Weltherrschaft ob in Lateinamerika oder Afrika begingen, so ist es nun die russische Armee, die unter schwerem Bruch des Völkerrechts in einen Nachbarstaat eingefallen ist. Russland hat sich weite Landstriche, die Krim und die beiden Oblasten Lugansk und Donezk widerrechtlich angeeignet und führt einen gnadenlosen Krieg mit unübersehbaren Zerstörungen und menschlichen Opfern. Alle Voraussagen gehen davon aus, dass dieser Krieg auch in diesem Jahr nicht beendet wird und wohl auch noch weit ins neue Jahr reichen wird. Wo ist der Ruf nach Frieden? Stattdessen spricht die Politik in der NATO wie in der deutschen Regierung nur von Sieg.

Heute gibt es genügend Stimmen, die davon ausgehen, dass dieser Krieg bis zum letzten Tag vor dem Einmarsch hätte verhindert werden können. Warum ist das nicht geschehen? Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte, seine Wurzeln, über die in Politik und in den Medien aber weitgehend geschwiegen wird. Doch gerade wir Deutsche dürfen nicht schweigen, da es um die Verantwortung des Westens und auch der deutschen Regierung geht.

Schon lange Jahre vor dem Beginn des Krieges beherrschte ein Problem die Beziehungen zwischen der NATO und Russland: die Bedrohung der Sicherheitsinteressen Russlands durch die Ausdehnung der NATO auf die beiden letzten Staaten in Europa, die an Russland grenzen: Georgien und Ukraine. Schon Gorbatshow und Jelzin hatten vor dieser Erweiterung gewarnt, sie gefährde die Sicherheitsinteressen Russlands. Aber die NATO-Staaten haben diese Warnungen immer missachtet. Noch im Abkommen von Minsk im Jahr 2015 bis zu dem Angebot Putins im Dezember 2021 ging es um nichts anderes als um die Sicherheitsinteressen Russlands und die Forderung, diese beiden Staaten nicht in die NATO aufzunehmen. Doch die Staaten lehnten ab und nahmen sehenden Auges die Gefahr eines Krieges in Kauf, ja provozierten ihn.

Keine Provokation vermag den schweren Bruch des Völkerrechts, das Verbrechen des Angriffskrieges, der Aggression in den Worten des Art. 8bis des Internationalen Strafgesetzbuches, zu rechtfertigen. Wie es in dem Aufruf zu dieser Feier heißt: „»Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen.“

Welche Verantwortung ergibt sich aber jetzt für uns? Wir müssen die Kriegslogik, die diesen Krieg Russlands gegen die Ukraine schon lange zu einem Krieg der NATO gegen Russland ausgeweitet hat, durchbrechen. Der Krieg hat zu einer unberechenbaren Konfrontation von großen Mächten geführt, die nicht nur über Atomwaffen verfügen, sondern in einer unübersehbaren Situation verführt werden können, sie auch einzusetzen. Jeder wird mir zustimmen, dass dies zu einer Katastrophe führt, die unbedingt vermieden werden muss. Gewiss hat jeder Staat, der angegriffen wird, das Recht sich zu verteidigen – die UNO-Charta garantiert das Recht. Doch dieses Recht muss seine Grenzen haben, wenn die Opfer an Leben und Gesundheit der Menschen den Wert der Unantastbarkeit ihres Territoriums übersteigen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden steht vor der Alternative Schutz des Lebens und der Städte der Menschen oder Rückeroberung der besetzten Gebiete. Und diese Entscheidung darf nicht zugunsten eines Krieges zur Rückeroberung gehen, an dessen Ende, ob unter ukrainischer oder russischer Herrschaft, ein zerstörtes Land mit zu vielen Toten und Verletzten übrig bleiben wird. Ein Angriff auf die Krim mit den neuen weitreichenden Waffen wird Reaktionen der russischen Regierung provozieren, von denen wir später vielleicht sagen müssen, dass wir sie uns nicht haben vor stellen können, wir sie aber hätten verhindern müssen.

Die Lehren aus den fürchterlichen Schlachten und Stellungskriegen zweier Weltkriege, die die Deutschen verschuldet haben, sollten den Schutz menschlichen Lebens an die oberste Stelle jeder Politik rücken. Die immer noch herrschende Kriegslogik muss durch eine Friedenslogik ersetzt werden, deren oberstes Gebot Verhandlungen zur Beendigung des Krieges ohne Waffen und nicht die Fortführung des Krieges mit Waffen bis zum Sieg ist. Siege haben nie zu dauerhaftem Frieden geführt, sondern nur Verhandlungen. Ein Sieg in diesem Krieg wird in den Stäben der NATO ohnehin von keiner Seite erwartet, man richtet sich auf einen langen Krieg. Nicht die Lieferung immer gefährlicherer Waffen, sondern Diplomatie, das ernsthafte Bemühen um Interessenausgleich und die Respektierung des Völkerrechts durch alle sind nach über einem Jahr Krieg jetzt gefordert. Von hier aus muss der Ruf an die Bundesregierung gehen, alles in ihren Möglichkeiten zu unternehmen, damit die Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine beendet werden und Friedensverhandlungen beginnen.

Und noch eines ergibt sich aus unserer Verantwortung: Wie auch immer dieser Krieg endet, nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland werden bestehen und unsere Nachbar bleiben. Ein dauerhafter Frieden wird es nur mit Russland und nicht gegen Russland geben. Mit allen Staaten ist trotz schwerer Kriegsverbrechen, die sie begangen haben, schließlich Frieden geschlossen worden. Ob mit den NATO-Staaten, die Jugoslawien unter Bruch des Völkerrechts überfallen haben, oder den USA, die die ersten Atombomben über Japan abgeworfen und vor zwanzig Jahren den Irak überfallen haben – wir alle können nur im Frieden überleben. Das wird von Russland die Anerkennung der Souveränität der Ukraine und die Pflicht zur Entschädigung und Wiedergutmachung fordern. Über die Zukunft der besetzten Gebiete muss verhandelt werden, genauso wie über die seit über 50 Jahren von Israel besetzten Gebiete Palästinas. Von uns aber werden alle Bemühungen verlangt, diesen Krieg so bald wie möglich zu beenden und nicht aus falscher Solidarität zu verlängern. Wir müssen die unterbrochenen Gespräche und Kontakte zu den Menschen und Institutionen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben, wieder aufnehmen, um den Frieden schon jetzt vorzubereiten. Nur dann macht es Sinn, dass wir an diesen Gräbern trauern und uns vor den Toten verneigen.

Von diesem Ort muss immer wieder der Ruf nach Frieden unter den Menschen und Völkern ausgehen. Dazu ist die Erinnerung an die Verbrechen und das Gedenken der Opfer ebenso notwendig wie der ständige Kampf gegen Propaganda, Manipulation und Lügen, Militarismus und Gleichgültigkeit, Machtinteressen und Opportunismus, Diffamierung und Arroganz - kurz die täglichen schwierigen Aufgaben der Friedensbewegung.

Ich danke Ihnen.

 

Norman Paech ist Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg.