Kirche in Ost- und Mitteldeutschland

10 Thesen zur Kirche im Vorfeld, in der friedlichen Revolution und danach

von Harald Bretschneider
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Im Folgenden sollen zehn Thesen zur Rolle der Kirche im Vorfeld der friedlichen Revolution 1989, während der Revolution und danach vorgestellt werden.

1. Die Friedliche Revolution ist nicht vom Himmel gefallen, sie hatte einen langen Vorlauf. Sie ist  "Inkarnation", "Fleischwerdung und Verkörperung" des biblischen Wortes.
Die Verkündigung weckte verbindlichen Glauben. Dieser führte zu ethischen Konsequenzen im persönlichen Leben und zum Mut zur Zivilcourage. Prophetische Worte trafen unmittelbar die Situation, sodass Menschen in der Schule und auf der Straße darüber zu sprechen begannen und davon berührt waren.

2. Die friedliche Revolution war kein „glorreicher Schachzug“ kirchlicher oder politischer Führung. Aber basierend auf biblischem Grund und angesichts der maroden geschlossenen Gesellschaft der DDR kam es zu sozial-ethischem und gesellschaftspolitischem Handeln. Der Bürgermut wuchs, gegen Unfreiheit, Bevormundung, Willkür und Lüge zu protestieren. "Gott sei Dank" kam es zu einem Aufbruch ohne Gewalt aus der Mitte unseres Volkes.

3. Durch wunderbares Zusammentreffen von geschichtlichen Ereignissen gab es Chancen zur Veränderung.
Dazu zählen die Reformbewegungen Gorbatschows (Glasnost und Perestroika), die Entwicklungen in Polen, die KSZE, die wirtschaftliche Katastrophe in der DDR, der Mut der BürgerrechtlerInnen und bewegter BürgerInnen, die Wirkung der unzähligen Ausreisekandidaten, die Öffnung der Grenzen durch Ungarn und Tschechoslowakei, aber auch das energische politische Geschick der damaligen Bundesregierung mit Hans Dietrich Genscher und Helmut Kohl. Dazu gehört aber auch, dass sich einige politisch verantwortliche KommunistInnen gegen eine gewaltsame Lösung des gesellschaftlichen Konflikts entschieden haben.
Das alles war nicht planbar und organisierbar. Es ist Geschenk und Ausdruck von Gottes Güte.

4. Die Vorgeschichte schrieben viele, Junge und Alte, ChristInnen und NichtchristInnen, Mutige und Angepasste. Gefangene und Freie.
Es waren Worte und Taten, Gebete und Akte der Zivilcourage, Widerstand und Ergebung, kirchliche Verlautbarungen und mutige Lebensäußerungen von BürgerInnen, die oft danach in den Gefängnissen eingesperrt waren.

5. Couragierte ChristInnen, aber auch thematisch interessierte und nach Lebenssinn suchende NichtchristInnen trafen sich zunehmend in thematischen Gruppen unter dem Dach und im Schutzraum der Evangelischen Kirche. Die frei machende biblische Botschaft inszenierte den Prozess der „Entschüchterung gegen jegliche Art der Bevormundung“.
Da die staatlichen Instanzen nicht zum Dialog fähig und bereit waren, entwickelten sich die Gruppen immer stärker zur Opposition. Das führte schließlich zur Revolution der Kerzen und Gebete, auf die die DDR nicht vorbereitet war.

6. Die Kirche war die einzige gesetzlich legitimierte, aber nicht in die Machtmechanismen des Staates integrierte gesellschaftliche Größe.
Sie hielt die „Gottesfrage wach“, nahm zu “Lebensfragen des Volkes Stellung“ und kümmerte sich barmherzig um Menschen in Bedrängnis, und mit Behinderungen. Dem Evangelium entsprechend gab es in der Kirche demokratische Strukturen bei der Wahl in verantwortliche Ämter in Jugendkreisen, Kirchenvorständen und Synoden. In den Gemeindekreisen wie in den Gremien wurde eine demokratische Gesprächskultur (in der Gesprächsleitung und im Umgang der Gesprächspartner miteinander) eingeübt und praktiziert. Insofern bot die Kirche lange Zeit Übungsfelder für den nach der Revolution beginnenden Aufbau des demokratischen Gemeinwesens.

7. Weder Anpassung noch Widerstand, weder Kollaboration noch Konfrontation charakterisieren die Haltung der Kirche.
Die Kirche war insgesamt keine bestechliche, manipulierbare, ferngelenkte Institution, auch wenn es verschiedentlich sehr „menschelte“.
Die Kirche rang um die richtige Ortsbestimmung in einer Gesellschaftsordnung, der sie nicht besonders lieb war. Dieses Ringen ging vom „Überwintern“, über den Wunsch nach einer veränderbaren Gesellschaft bis zur Enttäuschung über die ideologische Verkrustung.
Es ging von der Suche nach der Stadt Bestes und den Mut, Vertrauen zu wagen, bis zur Enttäuschung über die geschlossene Gesellschaft.
Häufig, aber besonders 1989, war es die Angst und Sorge vor brutaler Gewalt, infolge einer verunsicherten Regierung und einer strapazierten Bevölkerung, die zur Zurückhaltung mahnte. Das Gewaltmonopol sollte solange wie möglich respektiert werden, um ein Blutbad zu verhindern.

8. Die Erinnerung an die friedliche Revolution nötigt zu dankbarer und zugleich kritischer Bestandsaufnahme.
Bei aller Wertschätzung des Engagements und des Mutes der bekannten, häufig gezeigten und zitierten BürgerrechtlerInnen dürfen die vielen BürgerInnen nicht vergessen werden, die demokratisch bewegt und durch den Glauben ermutigt, namenlos zur friedlichen Revolution beigetragen haben.

9. Erinnerung an die friedliche Revolution nötigt, weder die Bedeutung von Buße, Umdenken und Umkehr als Grundhaltung des Glaubens, noch Gottes Güte in den Zufällen des Zusammentreffens von geschichtlichen Ereignissen zu vergessen. Sie führten zur Einmischung des Glaubens, zur mutigen Präsenz in der Krise. Dadurch wurden Kirchen zu Orten der Volksversammlung und kirchliche MitarbeiterInnen zu VermittlerInnen im Dialog.

10. Auch wenn die dankbare Freude über die gewaltlose Revolution und über die Einheit Deutschlands überwiegt, ist gegenwärtig wache Aufmerksamkeit nötig.
Gottes Wort verhilft zu einer gewissen Distanz gegenüber der bedrängenden Gegenwart und eröffnet neue Perspektiven. Es befreit, die Ansprüche und Zwänge der Marktwirtschaft, mit dem scheinbar unumstößlichen Gesetz notwendiger Gewinnmaximierung, zu vergöttern.

Die 10 Gebote und die Bergpredigt, als Grundlagen der Gesetzgebung aller europäischer Staaten sind ein “Moralkapital“, das beherzigt werden will. Es hilft dem Leben wie der Wirtschaft zur Gesundung. Es dient zwar vordergründig weniger der Gewinnmaximierung. Aber es führt zur Welt erhaltenden, Wert schöpfenden Sinnorientierung,

Es fördert den sozialen Grundkonsens, der maßgeblich ist für den Frieden in unserer Gesellschaft und in der Welt.

Die biblische Botschaft, das prophetische Wort, die 10 Gebote wie die Bergpredigt Jesu ermuntern zu wacher Aufmerksamkeit gegenüber den geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie befähigen, persönlich und kirchlich Zeitansagen zu wagen, und helfen, sich nicht nur vom Zeitgeist bestimmen zu lassen. Sie ermöglichen Dankbarkeit für Gottes Güte und gelebte Menschenwürde. Sie nötigen aber auch, Buße zu tun für menschliche Selbstüberschätzung und Selbstvergötterung und eigene Gottvergessenheit. Buße bedeutet: Betroffenheit und Wahrnehmung der Kompliziertheit der Situation, die vor vorschnellen Urteilen und vor Fingerzeigen auf die Verantwortlichen bewahrt, die aber Unrecht beim Namen nennt. Buße bedeutet auch: Bekenntnis eigener Schuld in Form mangelnder Zivilcourage, Manipulierbarkeit und Desinteresse. Buße führt zur Besinnung, dass Gottes Möglichkeiten immer noch größer sind, als unsere menschlichen Unmöglichkeiten. Denn: Jede Macht, die sich auf Unrecht gründet, macht Gesellschaft mürbe und züchtet den Keim eigener Vernichtung in sich.

Auch gegenwärtig gilt, was in 2. Chronik 7, 14 geschrieben steht:
„Wenn dann mein Volk, über das mein Name genannt ist, sich demütigt, dass sie beten und mein Angesicht suchen und sich von ihren bösen Wegen bekehren, so will ich von Himmel her hören, ihre Sünde begraben und ihr Land heilen.“

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Harald Bretschneider arbeitete, nachdem ihm wegen Verweigerung des Wehrdienstes das Architekturstudium verweigert wurde, nach dem Theologiestudium als Bauhelfer und später als Zimmerer auf Montage. Danach war er zehn Jahre Dorfpfarrer, wurde zum Landesjugendpfarrer, nach zwölf Jahren zum Stadtmissionsdirektor in Dresden und 1997 zum Oberlandeskirchenrat berufen.