15 Jahre „Ferien vom Krieg“

von Helga DieterBrigitte Klaß

Welche Erfahrungen sind bei über 20 000 Kindern und Jugendlichen aus sehr unterschiedlichen Krisengebieten verallgemeinerbar?
Bei der Aktion „Ferien vom Krieg“ des „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ begegneten sich seit 1994 mehr als 20 000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus den Kriegsgebieten des Balkans bzw. des Nahen Ostens zu gemeinsamen Freizeiten.

Über den Ablauf der Ferien, über individuelle Schicksale und die Gruppenprozesse gibt es in den jährlichen Broschüren lebendige Beschreibungen. Auf einer DVD (Video) geben Ausschnitte aus Fernsehsendungen und Interviews einen anschaulichen Eindruck. Viele Briefe und Selbstzeugnisse sind auch im Internet dokumentiert (http://www.ferien-vom-krieg.de).

An dieser Stelle ist nur Raum für einige thesenhafte Schlussfolgerungen.

1. In der Planungsphase mussten wir in allen Krisen- und Kriegsgebieten viele bürokratische Hürden überwinden und dazu Kontakt zu den Behörden aufnehmen – meist UN- oder EU-Verwalter. Von Sarajevo bis Prishtina waren die internationalen Statthalter oder Diplomaten von der Idee gemeinsamer Kinder-Freizeiten sehr angetan, rieten aber heftig von der Realisierung ab. In Israel und Palästina baten wir bekannte Friedensaktivisten um Unterstützung. Doch auch sie rieten uns von „diesem gefährlichen Experiment“ ab. Bei einer solch brisanten Konstellation könne es gerade bei Kindern und Jugendlichen schnell zu Streit und Gewaltausbrüchen kommen. Das gäbe Mord und Totschlag. Dialogprojekte seien nur für Erwachsene und Funktionsträger sinnvoll usw.

Wir haben die gegenteilige Erfahrung gemacht. Bei mehr als 20.000 TeilnehmerInnen gab es noch keine einzige tätliche Auseinandersetzung! Aggressionen und Drohungen mit nationalistischem Hintergrund gab es verschiedentlich zwischen den erwachsenen BegleiterInnen – aber nie zwischen den Kindern und Jugendlichen.

2. Uns wurde auch prophezeit, dass wir gar nicht genügend Teilnehmer für diese brisanten „Feindberührungen“ finden würden, weil die Eltern das nicht erlauben würden. Die Feindbilder seien zu verfestigt. Wir haben aber festgestellt, dass es in allen Krisen- und Kriegsgebieten Kinder und Jugendliche gibt, die neugierig auf die „Anderen“ sind. Viele Eltern sind kriegsmüde und wünschen sich für ihre Kinder ein friedliches Zusammenleben. Allerdings gab es bei den Gruppen aus Palästina und Israel auch junge Erwachsene, die es nicht gewagt haben, ihren Eltern zu sagen, dass sie in Deutschland die „Feinde“ treffen wollten. Am schwierigsten war es im Kosovo, eine interessierte Partnerorganisation zu finden. Inzwischen hat sich aber überall herumgesprochen wie interessant und abwechslungsreich die „Ferien vom Krieg“ sind und es gibt lange Wartelisten.

3. Von den 1995 aus Srebrenica deportierten (muslimischen) Kinder, die ihre Ferien mit serbischen Kindern, die jetzt in Srebrenica in den Häusern der vertriebenen Muslime wohnen bis zu den in der palästinensischen Stadt Nablus eingeschlossenen Jugendlichen und den jungen Israelis, die erstmals den Militärdienst in den besetzten Gebieten als patriotische Pflicht infrage stellten, schienen fast alle zu spüren, dass sie einen einmaligen Prozess durchlebten. Ihnen schien bewusst zu sein, dass sie bei diesen außergewöhnlichen Begegnungen den Erwachsenen und Politikern ein Beispiel vorleben. Sie wollen diese Botschaft weiter geben.

Die Kinder aus dem Norden Mazedoniens verlebten 2001 gemeinsam die Ferien am Ohrid-See, während die Männer aus ihren Heimatdörfer aufeinander schossen. Sie schrieben einen Appell an ihre Eltern und an Politiker: „Ihr Erwachsenen: Werdet endlich klug!“ (Text siehe www.ferien-vom-krieg.de) Dieser Appell wurde von uns in sechs Sprachen übersetzt. Kinder und Jugendliche sammelten auch in anderen Krisen- und Kriegsgebieten auf dem Balkan und im Nahen Osten über 15 000 Unterschriften.

4. Alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von Prishtina bis Ramallah haben etwas ebenso Einfaches wie Außergewöhnliches erlebt, was ein junger Palästinenser auf den Begriff brachte: „Wir können zusammen leben, sogar unter einem Dach, das ist eine phantastische Erfahrung!“

5. Die wichtigste Bedingung dafür ist bei allen Altersgruppen aus den unterschiedlichen Krisen- und Kriegsgebieten dieselbe: Gleichheit! In den über 100 kriegsbiografischen Interviews mit Kindern aus Bosnien, Kroatien und Serbien wurde zum Schluss gefragt: „Was war das schönste Erlebnis in Deinem Leben?“ Fast die Hälfte der Kinder antwortete: „Hier diese Freizeit, weil hier alle gleich behandelt werden!“

Beim Bedrucken von T-Shirts wählten 2004 die Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien die Frage: „Warum denn Unterschiede machen?“ und zwei Jahre später die Aufforderung: „Es soll keine Unterschiede geben!“

Eine Betreuerin aus dem Kosovo schreibt 2003: „Rückblickend erscheint diese Freizeit wie ein erfüllter Traum... Das Gefühl, hinsichtlich der Nationalität gleichberechtigt zu sein und auch jemanden gleichberechtigt zu behandeln, ist wohl ein Gefühl, was ich schon in meiner Kindheit ersehnte, es aber jetzt erstmals zwischen serbischen und albanischen Bewohnern meiner Heimat als Betreuerin dieser Kinder erlebt habe... Man fragt mich jetzt oft in meiner Umgebung zu Hause: „Wie konnte das bloß klappen?“ Meine Antwort darauf ist: „Wieso denn nicht? Niemand fühlte sich bezüglich der Nationalität von den anderen benachteiligt!" Daran glaube ich, dass Gleichbehandlung der Schlüssel für die Lösung vieler Probleme ist, in einer kleinen Gruppe, aber auch für eine funktionierende Gesellschaft, egal wo man lebt.“

Drei Gruppen aus Israel und Palästina schrieben 2003 in einem gemeinsamen Brief an die SpenderInnen: „Dieses Seminar war eine einzigartige Erfahrung. Was für uns unter den alltäglichen Umständen kaum denkbar ist, wurde hier ermöglicht: Wir teilten unsere Gedanken, Ansichten und den Alltag in großer Aufrichtigkeit. Fast alle von uns sind in Israel/Palästina geboren und aufgewachsen. Für viele war diese Begegnung die erste Gelegenheit, einen Menschen aus Fleisch und Blut von der anderen Seite zu treffen. Die Atmosphäre in dem Seminar war getragen von Respekt, Verständnis und dem Gefühl der Gleichheit. Verschiedene Themen wurden diskutiert, wie zum Beispiel die ökonomischen und kulturellen Differenzen im Alltagsleben, die jeweiligen Bedingungen zur Realisierung der Menschenrechte, die unterschiedliche historische Perspektive sowie andere relevante und tief bewegende Probleme...“

6. Die Gruppen und einzelne TeilnehmerInnen haben vielfältige Formen gefunden, miteinander in Kontakt zu bleiben. In den letzten Jahren haben wir diese Bemühungen verstärkt finanziell unterstützt. Hier bleibt kein Platz zu weiteren Ausführungen dazu.

Auch persönliche Wandlungssprozesse könnten wir an vielen Selbstzeugnissen beschreiben. Abschließend soll dies am Beispiel von Vanja gezeigt werden, die zunächst als Jugendliche an einer Freizeit teilnahm, dann als Assistentin wieder kommen durfte und inzwischen selbständig eine Teilnehmergruppe auswählt und betreut.

Vanja: Ich gehöre zu den „Ferien vom Krieg“
Vanja schrieb 2003:
Ich heiße Vanja und komme aus...Vukovar im Nord-Osten von Kroatien. Meine 14 Jahre habe ich zwischen Ruinen gelebt. Oft habe ich Geschichten von der legendären Fabrik „Borovo“ gehört, darüber, wie schön sie einmal gewesen sei. Unter dem Krieg haben aber nicht nur die Gebäude gelitten. In meiner Familie ist niemand im Krieg umgekommen, aber wir waren sieben Jahre voneinander getrennt. Jetzt bin ich in der achten Klasse. In unserer Schule gibt es zwei Schichten: eine serbische und eine kroatische, und das ist eine große Barriere zwischen uns. Hier in Drvenik gibt es keine Hindernisse und Unterschiede. Ich glaube, dass dieses Camp ein guter Weg ist, um Kinder aus verschiedenen Gegenden zusammenzubringen.

Die Zeit hier ist für mich die schönste Zeit, die ich je hatte...

Vanja schrieb 2005:
Ich habe im Sommer 2003 an den „Ferien vom Krieg“...teilgenommen. Ich will Euch nur sagen: Diese Zeit änderte mein ganzes Leben. Inzwischen bin ich Mitglied in einigen Friedensgruppen in Vukovar. Seither war ich in verschiedenen Friedenscamps, doch keines hat mich so geprägt wie das erste in Drvenik. Daran werde ich mich bis an mein Lebensende erinnern.

Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich fähig, diejenige zu sein, die ich wirklich bin – ohne Furcht vor irgendwelchen Urteilen oder Reaktionen anderer. Auch das Verhältnis zu meinen Eltern änderte sich. Meine Mutter ist Kroatin und mein Vater Serbe. Beide Seiten übten ständig Druck auf mich aus – nicht zu einem bestimmten Zweck, es war ihnen sicher gar nicht bewusst, aber ich konnte es spüren. Ich wollte aber nicht Partei ergreifen, so stand ich ständig unter Spannung. Das habe ich erst in Drvenik begriffen. Seitdem kann ich viel besser damit umgehen, vor allem auch mit meinen Eltern darüber sprechen. Auch zwischen ihnen hat sich die Spannung dadurch abgebaut.

Es gab bei der Freizeit kein besonderes Ereignis, das mich veränderte, die ganze Freizeit war ein besonderes Ereignis, das mich und meine Lebensverhältnisse veränderte.

Gerade habe ich mit FreundInnen eine neue Friedensgruppe „Regenbogen“ gegründet, wir haben bereits über 50 Mitglieder – aus allen Volksgruppen. Unterschiede gibt’s bei uns nicht. Wir wollen die Barrieren, die in Vukovar immer noch bestehen, gemeinsam überwinden.

Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was die „Ferien vom Krieg“ für mich bedeutet haben!

Vanja schrieb 2006:
Zum zweiten Male berichte ich über Neum, über meine Geschichte dort, denn in diesem Jahr waren es für mich im Wortsinn Ferien vom Krieg. Letztes Jahr habe ich von meiner Familie berichtet. Dieses Mal möchte ich von meiner augenblicklichen Situation erzählen: Ich habe einen Freund, Toni, er ist Kroate und ich bin Serbin, wir leben beide in Vukovar. Was das heißt? Diese Beziehung ist für uns nicht leicht! Nationalität ist hier die Grundlage für alles – in welche Schule Du gehst, in welches Cafe, mit wem Du Deine Freizeit verbringst usw. Für mich ist das auch eine Art von Krieg, ein Krieg, der nie endet. Viele Leute wollen nicht anerkennen, dass Nationalität für uns keine Rolle spielt, dass wir einfach nur zusammen sein wollen. Er spricht Kroatisch und ich Serbisch – diese Sprachen sind sehr ähnlich, aber es gibt Unterschiede – trotzdem verstehen wir uns. Es ist doch nicht entscheidend, ob wir „hleb“ für „Brot“ sagen oder „kruh“. Viele Leute wollen nicht anerkennen, dass uns das alles egal ist, dass für uns Nationalität kein hoher Wert ist. Wir kommen wunderbar miteinander aus, unsere Beziehung ist uns sehr wichtig. Doch die Leute reden über uns, miese Beschimpfungen und üble Hetze!

Es ist nicht leicht, wenn du dir immer bewusst sein musst, dass man dich verurteilt, weil du bist, wie du bist, oder sich Andere ein Urteil über den Menschen anmaßen, den du liebst. Als gemischtes Paar ist es in Vukovar für uns extrem schwierig, die alltäglichen Probleme zu bewältigen. Ich denke oft, das wäre das Einzige, was uns trennen könnte, wenn einer von uns es nicht mehr aushält, sich ständig gegen Vorurteile und Anfeindungen wehren zu müssen, dann ist es mit uns vorbei. Davor habe ich Angst, dass wir von Anderen getrennt werden, nicht aufgrund unserer eigenen Entscheidung. Dann wären w i r Teil der Geschichte dieser unsinnigen Kriege.

Wir waren schon vor der Freizeit in Neum ein Paar, aber die Zeit bei den „Ferien vom Krieg“ hat uns viel enger zusammengebracht. Es hat uns sehr geholfen zu erleben, dass wir nicht alleine sind, dass wir mit hundert Leuten zusammen waren, die nicht nach unserer Nationalität fragten. Wir konnten ihre Unterstützung spüren. Das war sehr wichtig für uns: Unterstützung. statt Verurteilung. Deshalb bin ich dankbar dafür, ein Teil der „Ferien vom Krieg“ zu sein. Es ist schön, wenn du weißt, dass du irgendwo dazu gehörst und ich - ich gehöre zu den „Ferien vom Krieg“.

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Brigitte Klaß arbeitet als Sachbearbeiterin in einem Geschäft für Braut- und Abendmoden. Seit 2000 fährt sie zu den "Ferien vom Krieg" im ehemaligen Jugoslawien und koordiniert diesen Teil des Projektes. Sie ist in Frankfurt auch in der Friedensbewegung aktiv.