Flüchtlinge

20 Jahre Änderung des Grundrechts auf Asyl

von Marei Pelzer

Am 26. Mai 1993 beschloss der Deutsche Bundestag mit der notwendigen Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten die Änderung des Grundgesetzes. Damit ging ein langer Abwehrkampf gegen die Angriffe auf das Grundrecht auf Asyl verloren. Bis zum Tag der Abstimmung im Bundestag protestierten Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und unzählige andere Organisationen und Einzelpersonen gegen die Änderung des Grundrechts auf Asyl. Mehr als 100.000 Unterschriften wurden für den Erhalt des Grundrechts gesammelt und der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth übergeben. Pro Asyl appellierte vor der Abstimmung an die Abgeordneten, den neuen Asylgesetzen nicht zuzustimmen.

Der Grundgesetzänderung vor zwanzig Jahren ging eine lange Kampagne gegen das Asylgrundrecht voraus. Seit dem Beginn der neunziger Jahre nahmen die rassistischen Verbalattacken von PolitikerInnen gegen MigrantInnen und Flüchtlinge dramatisch zu. Mit Parolen wie „Das Boot ist voll“ und Schlagworten wie „Asylantenflut“ oder „Missbrauch des Asylrechts“ wurden bewusst fremdenfeindliche Ressentiments gegen AsylbewerberInnen geschürt.

In einem Rundbrief vom 12. September 1991 an alle CDU-Fraktionsvorsitzenden in den Landtagen, Kreistagen, Stadt- und Gemeinderäten und Bürgerschaften forderte der damalige Generalsekretär der CDU, Volker Rühe, dazu auf, „die Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern, gegenüber den Bürgern zu begründen, warum sie sich gegen eine Änderung des Grundgesetzes sperrt – oder aber öffentlich die Bereitschaft zu bekunden, innerhalb der eigenen Partei für eine Änderung der bisherigen Politik einzutreten“.

Rassistische Vorurteile wurden bedient und Stimmungen in der Bevölkerung verstärkt. Gleichzeitig dienten sie als Nährboden und Legitimation für die zahlreichen Gewaltübergriffe auf Flüchtlinge, die seit der Wiedervereinigung an der Tagesordnung waren. Im September 1991 wurde das Ausländerwohnheim in Hoyerswerda tagelang zum Ziel rechtsextremer Angriffe. Im Oktober 1991 wurden in Hünxe vier libanesische Flüchtlingskinder bei Brandanschlägen schwer verletzt.

Dies sind nur zwei Beispiele für die unzähligen Übergriffe im Jahr 1991. Im August 1992 kam es zum Höhepunkt der Pogrome. In Rostock-Lichtenhagen setzten Neonazis unter dem Beifall der umstehenden deutschen NachbarInnen ein Haus, in dem 120 Vietnamesen eingeschlossen waren, in Brand. Die Eingesperrten mussten unter akuter Lebensgefahr stundenlang im Haus ausharren. Die Löschfahrzeuge kamen zu spät und die Polizei schritt nicht rechtzeitig ein. Nur durch Zufall gab es keine Toten.

 

Die Instrumentalisierung der Opfer
Aber auch dieses schreckliche Ereignis führte nicht dazu, dass die Bonner PolitikerInnen ihre Hetze gegen das Asylgrundrecht einstellten. Das Gegenteil war der Fall. Nach den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen wurden die Forderungen nach der Grundgesetzänderung noch deutlicher vorgetragen. Man führte die Übergriffe auf die angeblich zu hohen Asylbewerberzahlen zurück. Diese perfide Logik wurde mit der Warnung vor der „Gefährdung des inneren Friedens“ verbunden. Der Beifall klatschende Mob vor dem brennenden Haus wurde als Ausdruck der Stimmung in der Bevölkerung gewertet.

Der Kanzleramtsminister Friedrich Bohl wies im August 1992 die Forderung, Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) solle sich nach Rostock begeben, mit dem Argument der „unnötigen Dramatisierung“ zurück. Stattdessen wies er darauf hin, dass die Bundesregierung nach vier Nächten ausländerfeindlicher Krawalle in Rostock ihre vordringlichste Aufgabe in der Einschränkung des Asylrechts im Grundgesetz sehe. Man müsse die Überforderung der Menschen beenden. „Das wird nur dadurch geschehen, dass wir dem Missbrauch des Asylrechts begegnen.“

Herbert Leuninger prangerte diesen skandalösen Umgang mit den Opfern an und kritisierte die führenden Politiker der Bundesregierung und der SPD scharf. „Ihnen kommen die Ausschreitungen vielleicht nicht gelegen, aber sie machen sie sich als Instrument für Ihre Abwehrpolitik gegen Ausländer zunutze“, sagte er der taz am 27. August 1992. Es gebe eine gewisse Komplizenschaft zwischen den rechtsextremen Krawallmachern und den PolitikerInnen, deren Ziel die Abschreckung weiterer Flüchtlinge sei. Pro Asyl rief damals zu einer „Großen Koalition für Flüchtlinge“ und zu Demonstrationen auf.

Es dauerte nicht mehr lange, bis die SPD nachgab. Zuvor hatte schon der damalige Parteivorsitzende, Björn Engholm, seine Bereitschaft erklärt, das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen. Im September 1992 stellte der Parteivorstand fest: „Die darüber hinaus erforderlichen Ergänzungen oder Änderungen der Verfassung werden wir mit auf den Weg bringen.“ Auf einem Sonderparteitag im November 1992 wurde die Grundgesetzänderung von der Mehrheit der Parteibasis gebilligt.

Es folgten die Verhandlungen über die Ausgestaltung der Asylrechtsänderungen. Am 6. Dezember ‚92 schlossen CDU/CSU, FDP und SPD den so genannten Nikolauskompromiss. Seine Bestandteile waren das Konzept der sicheren Herkunftsländer, die Drittstaatenregelung, das Flughafenverfahren, eine eigenständige Regelung für Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten außerhalb des Asylverfahrens, ein eigenes Sondergesetz (das die sozialen Leistungen für Asylbewerber regelt und die Leistungen für Flüchtlinge in Form von Sachleistungen auf einem niedrigeren Niveau als für Deutsche festschreiben sollte), eine Altfallregelung (um die damals über 700.000 im Bundesamt und den Verwaltungsgerichten anhängigen Asylverfahren zügig zu bearbeiten) und eine konzeptionelle Gesamtlösung für die Zuwanderung.

Am 26. Mai 1993 wurde der Asylkompromiss beschlossen. Statt der Feststellung „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ (Art.16, Abs.2, S.2, alte Fassung) wurde ein neuer Artikel 16a GG geschaffen. Zur faktischen Aufhebung der Schutzgarantien führten vor allem die neue Drittstaatenregelung, das Konzept der sicheren Herkunftsländer und die Verkürzung des Rechtsschutzes, verbunden mit dem Flughafenverfahren. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte im Mai 1996 die Grundgesetzänderung in ihren wesentlichen Inhalten.

 

Nach der Grundgesetzänderung
Als der Kampf um das Asylgrundrecht verloren war, orientierte sich die Flüchtlingsbewegung neu. Positive Veränderungen versprach man sich künftig nur noch von Europa.

In den achtziger Jahren haben sich deutsche Organisationen wie Pro Asyl kaum auf europäischer Ebene betätigt“, heißt es in Günter Burkhardts Text vom 30. Mai 1996: „Perspektiven nach Karlsruhe. Erste Überlegungen für die künftige Arbeit von Pro Asyl“. „Priorität hatte die Verteidigung von Artikel 16 Grundgesetz und des nationalen Asylrechts. Eine europäische Harmonisierung wäre ein Schritt nach unten gewesen. Spätestens nach der Grundgesetzänderung, definitiv nach dem Urteilsspruch von Karlsruhe, ist diese Sicht obsolet. Zu einem europäischen Asylrecht gibt es keine Alternative. Pro Asyl muss sich deshalb künftig verstärkt dafür einsetzen, dass die bisherigen zwischenstaatlichen Vereinbarungen einzelner EU-Staaten in ein einheitliches europäisches Asylrecht übergeführt werden.“ Seither setzt sich Pro Asyl für die Schaffung eines europäischen Asylrechts auf hohem Schutzniveau ein.

Im Jahr 1999 trat der Amsterdamer Vertrag in Kraft, und fortan verfügte die EU über die Kompetenz zur Schaffung eines europäischen Asylrechts. Es wurde verabredet, innerhalb von fünf Jahren Richtlinien zu verabschieden, welche die Flüchtlingsdefinition, das Asylverfahren, die Familienzusammenführung, die sozialen Rechte von Asylbewerbern und weitere Fragen regeln sollten.

 

Schikane mit Methode
Einen gravierenden Einschnitt in den Flüchtlingsschutz von 1993 stellte die Einführung der Drittstaatenregelung dar. Flüchtlinge, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, können sich grundsätzlich nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen und können an der Grenze sofort zurückgewiesen werden. Eine Einzelfallprüfung entfällt, da die Sicherheit des Flüchtlings im Drittstaat durch gesetzliche Definition oder – im Falle der Mitgliedstaaten der Europäischen Union – durch Nennung im Grundgesetz selbst festgestellt wurde.

Da Deutschland von „sicheren Drittstaaten“ umgeben ist, führt eine Flucht nach Deutschland über den Landweg zu einer Ablehnung der Asylberechtigung. Nur für denjenigen, der per Flugzeug oder Schiff einreist, besteht noch ein verfassungsrechtlicher Asylanspruch. Flüchtlinge, die aus einem „sicheren Drittstaat“ einreisen, sollen ihr Asylverfahren dort erhalten. Wenn der Drittstaat aber in einen Viertstaat abschiebt, dann besteht die Gefahr der Kettenabschiebung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Flüchtling wieder im Verfolgerstaat landet.

Mit dieser Regelung wurde ein zentrales Element des Asylgrundrechts aufgegeben: das Recht auf Einreise. Dieses Recht stellte sicher, dass in einem rechtsstaatlichen Verfahren der Anspruch auf Asylgewährung geprüft wird. Die Bedeutung des Rechts auf Einreise erkannten schon die Verfasser des Grundgesetzes. Deswegen einigten sie sich auf die Formulierung: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“

Das Konzept der sicheren Herkunftsländer sieht vor, dass Flüchtlinge aus bestimmten Staaten generell keinen Asylanspruch haben. Welches Land als sicher gilt, wird per Gesetz festgelegt. Der Asylantrag wird in der Regel als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen. Außerdem wurde das Flughafenverfahren eingeführt – ein Schnellverfahren, das direkt im Flughafentransit durchgeführt wird.

Wenige Monate nach der Grundgesetzänderung beschloss der Bundestag das Asylbewerberleistungsgesetz. Es enthält die Ausgrenzung von Asylsuchenden aus dem Bundessozialhilfegesetz sowie eine neue Definition der Existenzsicherung weit unterhalb der bisher als Minimum angesehenen Sozialhilfe. Folgen waren Diskriminierung, Stigmatisierung und soziale Entrechtung.

 

Kampf um Wiederherstellung von Flüchtlingsrechten
Nicht erst seit der Grundgesetzänderung kämpfen Betroffene und die Asylbewegung in langjährigen und zähen Auseinandersetzungen um die Wiederherstellung von Flüchtlingsrechten, durchaus mit Erfolgen:

  • Es erforderte zehn Jahre intensiven Einsatzes, bis auch in Deutschland Opfer nicht-staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung in den Schutzbereich der Genfer Flüchtlingskonvention fielen.
  • Fast 20 Jahre dauerte es, bis das Bundesverfassungsgericht mit eindeutigen Worten große Teile des Asylbewerberleistungsgesetzes für verfassungswidrig erklärte.
  • Nach 18 Jahren erst machten der Menschengerichtshof in Straßburg und der Europäische Gerichtshof in  Luxemburg dem deutschen Sonderweg ein Ende und stellten klar: Ein „blindes Vertrauen“ in die Sicherheit anderer EU-Staaten dürfe es nicht geben.  

Für viele Opfer der restriktiven bundesdeutschen und europäischen Flüchtlingspolitik kam solche Gerechtigkeit zu spät. Die Kontrolle durch die Justiz kann politische Gestaltung nicht ersetzen.

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