Von der Conquista zur Theologie der Befreiung.

500 Jahre Kirche in Lateinamerika

von Bruno Kern
Schwerpunkt
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Die Eroberung des amerikanischen Kontinents vor 500 Jahren war der größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit. Durch Krieg und Massaker, Sklavenarbeit in den Bergwerken und den Encomiendes und durch eingeschleppte Krankheiten wurde. die indigene Bevölkerung binnen kurzer Zeit von etwa 70 Millionen auf 10 Millionen dezimiert: Über das grausame Gesicht dieser Invasion liegt uns ein einzigartiges Dokument vor: Der „kurzgefaßte Bericht über die Verwüstung der westindindischen Länder“ des Dominkanermönchs und Bischofs Bartolome de las Casas. Las Casas - zunächst selbst "encomendero", dann ein glühender und diplomatisch geschickter Verteidiger der Indios am spanischen Hof -wandt sich damit an einen einzigen Leser: Kaiser Karl V. In zahlreichen Einzelbeispielen·schildert Las Casas das schier Unglaubliche.

Die Rolle der christlichen Religion bei der Conquista ist keineswegs eindeutig. Die Christianisierung bot zunächst die juristische Grundlage und ideologische Legitimation für die Eroberung. Verständlich wird dies nur von der mittelalterlichen Vorstellung des "orois Christianus“ und der päpstlichen Universalherschaft. Mit der Begründung der Ausbreitung des Christentums übertrugen die Päpste den spanischen und portugiesischen Königen das Patronatsrecht für die neuen Kolonien, sie waren, einer theologisch-juristischen Theorie zufolge, "Vikare", also Stellvertreter des Papstes. Die Eroberung Lateinamerikas verstand sich durchaus in·Kontinuität zur Reconquista, zur „Befreiung“ der iberischen Halbinsel von den muslimischen· Mauren. Die Motivation des CoIumbus .für seine kühnen seefahrerischen Leistungen fügt sich in diese Vorstellungswelt: Er wollte damit- so geht es noch aus seinem Testament hervor- einen Kreuzzug zur Rückeroberung Jerusalems·aus·der Hand der Ungläubigen finanzieren!

Gleichzeitig aber sperrte sie die christliche Religion gegen das Eroberungsunternehmen. Sie war als ideologischer Überbau denkbar schlecht geeignet. Las. Casas war beileibe kein Einzelfall. Der vorgebliche Zweck der „Bekehrung“ der Indios setzte ja deren Anerkennung als erlösungs- und heilsfähige Menschen voraus. Dem Abschlachten und der rückhaltslosen Ausbeutung war damit eine Schranke gesetzt. Die radikale Umkehr des Las Casas wurde dadurch ausgelöst, daß ihm die Dominikanermönche die Absolution verweigerten, weil er als encomendero Indios versklavte. Nicht vereinzelte Praktiken also, sondern durchaus das System der Encomienda als solches wurde von den Ordensleuten in Frage gestellt Allerdings: kirchliches· Engagement zum Schutz der Indios führte nicht  selten dazu, daß rückhaltlose Ausbeutung letztlich durch subtilere und damit rationellere Methoden der Kolonisierung ersetzt wurden und aufgrund der staatlichen Leitung der Heidenmission in Übersee geriet die Kirche in den Kolonien in größere staatliche Abhängigkeit als in den Mutterländern.

Die Ausplünderung der „Neuen Welt“ schuf eine wichtige Grundlage für die Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie in·Europa. Insgesamt ist die Conquista ein Schulbeispiel dafür, daß Ge-schichte nicht in erster Linie als Ideengeschichte zu lesen ist, sondern vor allem Geschichte der ökonomischen Interessen. Ökonomische Interessen aber müssen, um sich durchsetzen und behaupten zu können, den Kampf um Köpfe und Herzen der Menschen gewinnen. Wie ein blutroter Faden durchzieht diese ideologische Auseinandersetzung die letzten Jahrzehnte des lateinamerikanischen Kontinents. Und wieder steht die Kirche im Zentrum der Konflikte und an beiden Seiten der Front.

Mitte der sechziger Jahre zeigten sich innerhalb der lateinamerikanischen Kirche die ersten Ansätze einer atemberaubenden Entwicklung. Die sich zuspitzende Verelendung entlarvte die von den Industrieländern propagierte „Entwicklungsideologie“. Es waren vor allem Gruppen „militanter Christen“ an den Hochschulen, unter der Industriearbeiterschaft und bei den Landarbeitern, die lernten, daß ihre traditionellen Vorstellungen von der gesellschaftlichen Verantwortung der Christen auf der Grundlage einer verstaubten Soziallehre an der Realität vorbeigingen. Die Berührungsängste gegenüber Gewerkschaften und Volksbewegungen wurden überwunden, und man lernte vor allem, daß die Grundlage politischen Handelns eine saubere Sozialanalyse ist. Über die Dependenztheorie, die die sogenannte Unterentwicklung als Ergebnis von Strukturen der Abhängigkeit erklärt, erkannte man den sich weltweit organisierenden Kapitalismus und seine Durchdringungsstrategien an der Peripherie als die primäre Ursache der Verelendung. Innerhalb der Kirche bildeten sich fast überall auf dem Kontinent einflußreiche Gruppen von Klerikern, Ordenleuten und Laien (etwa die „Christen. für den Sozialismus!“ in Chile), die aus der Motivation ihres Glaubens heraus neue Wege eines entschiedenen politischen Engagements suchten. Dabei veränderten sich bald·auch die theologischen Kategorien· und die Sprache, .mit der man den eigenen Glauben ausdrückte. Lange verschüttete, verharmloste oder ideologisch umgebogene Grundworte des christlichen Glaubens wurden neu entdeckt, so etwa, daß der Gott der Bibel, der Gott des Exodus aus dem Sklavenhaus Ägypten und der Gott des als Unruhestifters hingerichteten Nazareners ein parteilicher Gott ist -parteilich·auf der Seite der Sehwachen und Unterdrückten und auf der Seite derer, die sich mit ihnen solidarisieren, Diese „Option für die Armen“ war auch die letzte Grundlage dafür, daß sich die Christen im gesellschaftlichen Konflikt klar auf eine Seite stellten, daß ihre. Gesellschaftsanalyse keineswegs neutral war,  sondern konsequent die Perspektive der Opfer·einnahm. Die Botschaft von der Erlösung wurdede als Verheißung ganzheitlicher; leibhaftiger und historisch , konkreter Befreiung neu durchbuchstabiert.

Aufbruch aus Basisgemeinde …
Ende der sechziger Jahre entfalteten sich in vielen Regionen Lateinamerikas die ersten Basisgemeinden: In den Slums der großen Industriestädte und unter der verarmten Landbevölkerung  bekam Kirche ein ganz neues Gesicht. Kleine Gemeinschaften von etwa 20-30 Familien überwanden- durch den Impuls des Evangeliums- nach und nach ihren Fatalismus, ihre Schicksalsergebenheit und ihre verinnerlichten Mechanismen von Unterdrückung und Gewalt. Sie wurden zu Keimzellen von Solidarität untereinander und vor allem zu Keimzellen politischer Selbstorganisation der Armen. Stadtteilinitiativen, Gewerkschaften, Landlosenorganisationen und andere Volksbewegungen erhielten nicht selten ihre Initialzündung von den Basisgemeinden. Diese Entwicklung schlug innerkirchlich durch. Die beiden Bischofskonferenzen in Medellín (1968) und Puebla (1979) bestätigten und ermutigten im wesentlichen diesen Aufbruch und seine theoretische Artikulation- die Theologie der Befreiung.

…besorgt registriert
Die politische Brisanz dieser- zunächst innerkirchlichen- Entwicklung läßt sich am klarsten an der Irritation und Reak¬tion der US-Strategen ablesen. Im Jahr 1969 bereiste Nelson Rockefeller im Auftrag seines Präsidenten (Nixon) 20 Länder Lateinamerikas. Die traditionell aus den besitzenden Klassen stammen¬den kirchlichen und 'militärischen Hierarchien würden -so Rockefeller- zunehmend proletarisiert und von den armen Schichten „unterwandert“. Sie würden zum Teil sogar für soziale Gerechtigkeit eintreten. (sic!). Das Außenministerium gab darauf eine Studie über den Wandel in der  katholischen Kirche Lateinamerikas·in Auftrag mit dem Ziel; deren Schwachstellen herauszufinden. Und das Ergebnis dieser Studie liest sich wie eine Prophetie der innerkirchlichen "Rechtswende" in den letzten Jahren. Die Kirche hebe institutionelle Interessen und könne sich deshalb nicht den radikalen Gerechtigkeitsforderungen der Basisbewegungen anschließen; sie müsse -so heißt es beru¬higend- ein Arrangement mit dem Staat suchen. Ohnehin sei die Kirche in sich gespalten und man könne zurecht hoffen, daß sie von der praktisch-konkreten Unterstützung des Wandels·wieder in die generelle Anprangerung des Unrechts „zurückfalle“.

Im· Jahr 1980 zu. Beginn des Amtsantritts Reagans, verfaßte der außenpolitische Beirat des Weißen Hauses, ein offiziöses, aber. einflußreiches Gremium; die außenpolitischen Leitlinien der neuen Administration für die Lateinamerikapolitik. Bei uns·wurde diese Schrift als „Geheimdokument von Santa Fe“· bekannt. Das Papier geht von der Prämisse aus, daß wir uns „mitten im Dritten Weltkrieg“ befinden. Alle gegen die US-Interessen gerichteten Bewegungen wurden konsequenterweise als Kriegsakte innerhalb der großen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus interpretiert. Außenpolitik wird hier folgendermaßen definiert: „Die Außenpolitik ist das Instrument, mittels dessen die Menschen ihr Überleben zusichern trachten, mitten in einer feindlichen Welt. Der Krieg, und nicht der Frieden ist die Norm internationaler Angelegenheiten… Amerikas grundlegende Freiheiten und sein wirtschaftliches Eigeninteresse erfordern es, daß die USA eine Supermacht sind und als solche handeln. Die Krise ist metaphysischer (sic!)·Natur… Der Krieg ist ein Krieg um die Köpfe der Menschen… Die, USA sollten eine Politik verfolgen, die den privaten Kapitalismus, den freien Handel und ausländische wie einheimische Direktinvestitionen in produktive lateinamerikansiche Unternehmen fördert“. Weiter fordert der außenpolitische Beirat: „Die US-Außenpolitik muß endlich damit beginnen, gegen die Befreiungstheologie aktiv vorzugehen und nicht nur auf sie zu reagieren. Die Rolle der Kirche in Lateinamerika ist für das Konzept der politischen Freiheit von wesentlicher Bedeutung. Leider haben marxistisch-leninistische Kräfte die Kirche als politische Waffe. gegen das·Privateigentum und den Kapitalismus gebraucht, indem sie die Religionsgemeinschaft mit Ideen infiltrierten, die weniger christlich denn kommunistisch sind“.

Das zweite „Geheimdokument von Santa Fe“ wurde 1988, vor Amtsantritt Bushs, verfaßt. Die Akzente haben sich entsprechend der Entwicklung der·Weltlage verschoben. Im Mittelpunkt steht nicht mehr Zentralamerika, sondern vielmehr·die- hochverschuldeten- "Schwellenländer". Das entscheidende Stichwort ist „demokratischer Kapitalismus“. Darunter versteht man freies Unternehmertum, freien Kapitalmarkkt und eine von politischen Kontrollen freie Wirtschaftsgesellschaft·(also je weniger man politisch kontrolliert, umso demokratischer!). Wirtschaftspolitisch plädiert man für eine Politik des maximalen Ressourcentransfers unter dem Presshebel der Auslandsverschuldung und eine Förderung ausländischer Direktinvestitionen, wobei ausdrücklich vor „nationalistischen Tendenzen“ gewarnt wird. Wieder wird die Bedeutung des Kampfes auf ideologischer Ebene hervorgehoben. Zur Befreiungstheologie glückte eine Formulierung, die von keine Satire übertroffen werden könnte: "Die Befreiungstheologie ist eine politische Doktrin, die sich als religiöser Glaube tarnt. Sie wendet sich gegen. den Papst und gegen das freie Unternehmertum (sic!),  um die Unabhängigkeit der Gesellschaft von staatlicher Kontrolle zu schwächen“. Papst und freies Unternehmertum werden also in einem Atemzug genannt.

Seit 1960 Anlaß war die „Kubakrise“- treffen sich jedes Jahr auf höchster Ebene US-Militärs und ihre lateinamerikanischen . Waffenbrüder, Hauptziel ist  es, die Sicherheit des Kontinents nach innen zu gewährleisten, die Bekämpfung von Aufständen und Unruhen zu koordinieren, die lateinamerikanischen Militärs auf die jeweilige US-Strategie einzuschwören und sie durch Waffen- und Ausbildungshilfen gefügig zu machen. Im November 1987 fand die „Conferencia de Intelegencia de Ejércitos Americanos“ (CIEA) im argentinischen La Plata statt. Die Protokolle und Dokumente (in diesem Fall handelt es sich tatsächlich um Gerichtsdokument) gelangten an die Öffentlichkeit und sind auch auszugsweise auf deutsch zugänglich (U. Duchrow, G. Eisenbürger, J.Hippler, H.g., Totaler Krieg gegen die Armen; Geheime Strategiepapiere der amerikanischen Miitärs, 1991).

Trotz der Veränderungen in Osteuropa versucht man, das alte Feindbild „Weltkommunismus“ aufrechtzuerhalten und für alle sozialen Unruhen verantwortlich zu machen. Es ist von „Eurokommunismus“ als einer subtileren, aber effektiveren Mitteln (so einfach ist das!). Zu den Weltkommunismus gesteuerten Gruppierungen zählt man unter anderem amnesty international, die evangelische Hilfsorganisation „Brot für die Welt“ und Adveniat, das pastorale Hilfswerk der deutschen Bischöfe (hier ist man wohl auf die eigene Propaganda hereingefallen). Die zentrale Strategie zur Kontrolle der Bevölkerung ist „Low Intensity warfare“ (LIC), also einem Krieg auf niedriger Eskalationsstufe. Damit meint man ein integriertes politisches Vorgehen, das psychologische, sozialpolitische, diplomatische, ökonomische usw. Elemente umfaßt, und das den direkten militärischen Einsatz möglichst vermeidet und begrenzt.

Auch in diesem Dokumenten kommt die Brefreiungstheologie wieder zu unverhofften Ehren. „Gemeinsam mit der kirchlichen Hierarchie“ müsse man sie bekämpfen. Den langen Abschnitt, der der Befreiungstheologie gewidmet ist, hat unverkennbar ein kirchlicher „Insider“ (vermutlich aus dem Dunstkreis des reaktionären lateinamerikanischen Bischofsrates) geschrieben. Die innerkirchliche Entwicklung seit den sechziger Jahren wird zutreffend eingeschätzt: Früher konnte sich- so heißt es- die Basiskirche auf die kirchlichen Autoritäten berufen; dies sei heute nicht der Fall. Unter den „besonders gefährlichen“ Befreiungstheologen werden neun namentlich aufgeführt. Unter ihnen befindet sich der Jesuit Ignatio Ellacuria, der inzwischen zusammen mit fünf Mitbrüdern und zwei Frauen an der Hochschule in San Salvador einem grausamen Massaker zum Opfer fiel.

Die 500jährige Geschichte der Unterwerfung Lateinamerikas geht also weiter. Vielleicht ist es gut, neben der Geschichte der Sieger auch die anderen Geschichten in Erinnerung zu rufen- die Geschichten von Widerstand, von Müttern von der Placa de Mayo, von Chico Mendes und den Gummizapfern am Amazonas, von Padre Cosimo und dem Kampf der Landlosen im Nordosten Brasiliens … Zu dieser unterirdischen Wasserader gehört auch die Geschichte der Basisgemeinden und der Theologie der Befreiung: eine Theologie und Praxis, die ihren Beitrag dazu geleistet hat, daß sich Menschen selbst organisieren, sich solidarisieren und den Herrschenden ihre Hoffnung entgegensetzen, daß das letzte Wort über die Geschichte Gott vorbehalten ist.

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