Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“

Weltweite Aufrüstung - weltweiter Hunger und Armut

von Reiner Braun

Am 6.11.2017 wurde der Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“ veröffentlicht. Die ca. 70 ErstunterzeichnerInnen - unter ihnen vier Gewerkschaftsvorsitzende, wissenschaftliche Nobelpreisträger, Abgeordnete aus drei Parteien des deutschen Bundestages, FriedensforscherInnen, UmweltwissenschaftlerInnen und UmweltaktivistInnen, HochschullehrerInnen und FriedensaktivistInnen aus unterschiedlichen Organisationen - wenden sich gemeinsam an die Öffentlichkeit und rufen zu einer hoffentlich großen Unterschriftensammlung auf.

Im Aufruf heißt es: Die Bundesregierung plant, die Rüstungsausgaben nahezu zu verdoppeln. Auf zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung (BIP). So wurde es in der NATO vereinbart. Zwei Prozent, das sind mindestens weitere 30 Milliarden Euro, die im zivilen Bereich fehlen. … Eine andere Politik muss her. Damit wollen wir anfangen: Militärische Aufrüstung stoppen, Spannungen abbauen, gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Perspektiven für Entwicklung und soziale Sicherheit schaffen, Entspannungspolitik auch mit Russland, verhandeln und abrüsten. Diese Einsichten werden wir überall in unserer Gesellschaft verbreiten. Damit wollen wir helfen, einen neuen Kalten Krieg abzuwenden. Keine Erhöhung der Rüstungsausgaben – Abrüsten ist das Gebot der Stunde.

Was verbindet diese gesellschaftliche Koalition so unterschiedlicher, in vielen Auseinandersetzungen der letzten Jahre eher gegensätzlicher Kräfte? Was führt zu dieser neuen Gemeinsamkeit, die viel an die Friedensbewegung der 1980er Jahre erinnern lässt?
Es sind die Sorgen um den Frieden in der Welt und die Einsicht in die Gefahren einer hemmungslosen Aufrüstung.

Dabei geht es nicht um abstrakte Zahlen. Die Beschlüsse des NATO-Gipfels von Newport/Wales 2015 und Warschau 2016 sowie ihre Bestätigung von Brüssel 2017, in allen NATO-Ländern 2% des Bruttosozialproduktes für die „Verteidigungsanstrengungen“ bereit zu stellen, klingen erst einmal nicht so dramatisch, 2% von 100% scheinen nicht besonders viel.

Abstrakte Zahlen, konkret nachgefragt, zeigen ein anderes Bild. Die Bundesregierung gibt 2017 ungefähr 1,3% des Bruttosozialproduktes (BSP) für Verteidigung aus. Dies sind ca. 35 Milliarden Euro. 2% des BSP würde bei einer angenommenen Steigerungsrate des Bruttosozialproduktes um 1,5% pro Jahr eine faktische Verdoppelung dieser Rüstungsausgaben auf ca. 65 bis 70 Milliarden bedeuten. Selbst bei einer leichten Steigerung des Bundeshaushaltes würde der Ansatz für den „Verteidigungsetat“ von bislang 9% auf 15 bis 20% wachsen.
Dieses wäre aus dem Haushalt nur zu finanzieren, wenn die Steuern massiv steigen oder die Ausgaben für andere Ressorts drastisch gesenkt würden.

Höhere Steuern für wen? Weder von einer Jamaika- noch von einer großen Koalition ist eine Erhöhung einer Reichensteuer bzw. eine Vermögensteuer oder eine gerechte Besteuerung von Erbschaften zu erwarten, bleiben also Steuerbelastungen für die „normale“ Bevölkerung. Von den Kürzungen wären besonders die Bereiche Infrastruktur, Soziales, Gesundheit, Bildung betroffen – alles Bereiche, die heute schon unterfinanziert sind. Massive Investitionen sind gerade hier notwendig, um eine Zukunft für die jetzige Gesellschaft und die zukünftigen Generationen zu sichern.

Einige Zahlen, die diese Aussage untermauern:

  • Um den massiven Investitionsstau in der Infrastruktur (u.a. Bahn, Radwege, Brücken) abzubauen, sind in den nächsten Jahren nach Meinung des DGB mindestens 50 Milliarden notwendig.
  • Jährlich müssen 450.000 neue Wohnungen gebaut werden, viele davon mit Sozialbindung. Kostenpunkt 20 Milliarden in den nächsten fünf Jahren.
  • Nur der Einstieg in eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft (der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umwelt WBGU spricht von der Notwendigkeit einer „großen Transformation“) wird für die Zukunftssicherung und Gestaltung jährlich Milliarden kosten, wenn diese gerecht und sozial durchgeführt werden soll.
  • Schulen und Hochschulen stehen auf der Kippe. Ein Modernisierungsprogramm muss in einem ersten Schritt auf zehn Jahre angelegt sein. Es erfordert einen jährlichen Investitionsbedarf von 3,2 Milliarden Euro für die Schulen und einer Milliarde Euro für die Hochschulen.

Nicht alles für die Zukunft kann von der Rüstung genommen werden, ohne Profit- und Reichensteuer wird es nicht gehen, aber die (Ab)rüstung kann einen erheblichen Beitrag leisten. Wir können uns Hochrüstung und sozial-ökologische Sicherheit und Nachhaltigkeit nicht mehr leisten.
Täglich erfahren wir doch: Geld für eine tragfähige Rente, für eine Erhöhung der Hartz 4-Sätze auf ein menschenrechtlich verantwortbares Niveau, höhere Löhne im öffentlichen Dienst – immer ist angeblich kein Geld da. Wenn die NATO ruft und Frau von der Leyen den Mund auf macht, klingeln aber die Kriegskassen. 51 Milliarden haben die bisherigen Interventionskriege von Afghanistan über Somalia bis Mali gekostet. Das Ergebnis ist weniger Sicherheit auch bei uns. Wir brauchen ein neues Sicherheitsparadigma. Sicherheit kann nur noch folgendermaßen buchstabiert werden: Sozial und ökologisch, kooperativ und abgerüstet in einer gerechteren Welt.

Eine weltweite Herausforderung
Es geht aber nicht nur um die Aufrüstung unseres Landes: Die weltweiten Ausgaben für den Rüstungsbereich liegen 2017 bei 1,7 Billionen US-Dollar, davon gibt die NATO jetzt schon über 800 Milliarden aus, China ca. 200 Milliarden, Russland ca. 65 bis 70 Milliarden.
Bei 2 % Ausgaben in allen NATO-Staaten würden diese Ausgaben in den NATO-Ländern auf ca. 1 bis 1,2 Billionen steigen. Exakte Daten sind schwer vorherzusagen, da der rüstungswahnsinnige US-Präsident Trump allein den US-Etat für 2018  um 65 Milliarden auf dann ca. 700 Milliarden US-Dollar als „Basishaushalt“ erhöhen will.

Was für eine Vergeudung von Ressourcen! Welche Unmenschlichkeit steckt hinter diesen Zahlen: Jeden Tag geht fast eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett.
So großartig die Pläne der UN mit den 2016 verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDG) gegen Hunger, Armut, für gerechten Wasserzugang und Erziehung für alle sind, ohne Finanzierung ist alles fast nichts. Die UN beziffert die Ausgaben für die Realisierung dieser ambitionierten Ziele auf ca. 300 Milliarden Dollar pro Jahr!

Die Herausforderungen der Klimaveränderungen sind täglich weltweit stärker spürbar. Für die Lösung dieser Herausforderungen hat die UN einen Green Climate Fund der UN zur Anpassung an die globalen Krisenveränderungen aufgelegt. Ab 2020 soll die internationale Gemeinschaft 200 Milliarden pro Jahr in diesen Topf einzahlen. Bis jetzt gibt es Zusagen von 37 Milliarden. Woher soll das Geld für die Ärmsten der Armen kommen, wenn nicht von der Rüstung?
Abrüstung ist also die weltpolitische Herausforderung. Mit dem Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“ wollen wir einen kleinen Beitrag zur Sensibilisierung für die Notwendigkeit weltweiter Abrüstung und „bei uns anfangen“ leisten.
Abrüstung ist aber nicht nur aus finanziellen Gründen ein absolutes Gebot.

Begrenzte Ressourcen
Dieser Planet mit seinen begrenzten Ressourcen kann nicht unbegrenzt Ressourcen für die Rüstung verschwenden. Jeder Panzer, jedes Flugzeug, jede Granate verschlingen materielle Ressourcen, die wir dringend brauchen, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, die wir aber überall auch einsparen müssen, wenn wir ein nachhaltiges Leben auf diesem Planten auch für die nächsten Generationen sichern wollen. Es geht nicht nur um materielle, es geht auch um „humane“ Ressourcen. Wir brauchen mehr LehrerInnen und ErzieherInnen, mehr AltenpflegerInnen und medizinisches Personal und weniger Offiziere und SoldatInnen, die töten und zerstören.

Wir brauchen Abrüstung auch, weil sich eine friedliche Philosophie durchsetzen muss. Abrüstung bedingt Kooperation, Dialog und Gemeinsamkeit mit dem potenziellen Gegner. Aufrüstung bedingt Konfrontation (heute aktuell besonders mit Russland), Feindbilder, Hass, Rassismus und Gewalt. Gemeinsame Sicherheit heißt immer auch die Sicherheit des anderen berücksichtigen und mit einzubeziehen, immer zu wissen, nur wenn die Sicherheit des anderen auch gegeben ist, ist auch meine Sicherheit möglich. Diese gemeinsame Sicherheit bedingt und ermöglicht Abrüstung. Es wird doch keiner glauben, dass Abrüstung bei einer Konfrontation mit dem anderen möglich ist. Unser historisch so geprägtes Verhältnis zu Russland muss sich dieser Verantwortung stellen: Entspannung, Freundschaft, Kooperation und Abrüstung müssen es prägen.

Eine Überwindung oder ein Austritt aus dem größten Militärbündnis ist nur in einem Klima der Kooperation und des Verständnisses möglich. Eine Reformpolitik, die diesen Namen verdient und keine neoliberale Umverteilung darstellt, ist in einem Klima der Konfrontation und Hochrüstung kaum realisierbar.
Abrüstung ist damit auch immer ein Teil der Philosophie für eine gemeinsame, gerechte Welt. Abrüstung ist immer ein Sieg der Vernunft und der Humanität über den Aberglauben an Sieg und Krieg.

Abrüstung und weitere antimilitaristische Schritte zu einer Welt ohne Militärblöcke und Krieg wird es nur durch das aktive Handeln der Menschen - von vielen Menschen - gegen die Interessen von wenigen wirtschaftlichen und politischen Rüstungsprofiteuren geben. Zu diesem Handeln will der Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“ einen kleinen Beitrag leisten. „Glaube keiner, dass das individuelle Engagement eines jeden umsonst ist“, hat uns der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling für Frieden und Chemie immer wieder als Handlungsmaxime aufgetragen.
Mag der Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“ dazu seinen Beitrag leisten.

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Reiner Braun war Geschäftsführer der IALANA Deutschland und ist ehem. Co-Präsident des Internationalen Friedensbüros (IPB).