Bestandsaufnahme

Abschaffung von Krieg und all seiner Ursachen

von Christine Schweitzer

"Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten." Diese Grundsatzerklärung der War Resisters' International (WRI) wurde bei ihrer Gründung gerade drei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben, und sie ist heute noch genauso eine Herausforderung wie damals.

“Keine Art” – welche Art von Krieg?
Als die WRI 1921 gegründet wurde, geschah dies vor dem Hintergrund der Erfahrung eines Krieges mit Massen von Soldaten in Gräben auf den Schlachtfeldern. Seither haben sich die Wahrnehmung und die Realität von Krieg verändert. Es gibt heute viel mehr interne als internationale Kriege. Bürgerkriege, bei denen es um die Kontrolle über Land, fruchtbaren Boden oder Weiderechte, um Selbstbestimmung, um Sezession, um Kontrolle über auf dem internationalen Markt zu Geld machbare Ressourcen geht, oder wo schlicht Krieg der einzige Weg zum Lebensunterhalt für die Starken ist. Das drastischste Beispiel ist vielleicht Mexiko, wo Organisationen organisierten Verbrechens sich Kämpfe mit den Sicherheitskräften in einem Ausmaße geliefert haben, dass Mexiko mit mehr als 70.000 Toten zwischen 2006 und 2013 in die Liste der Länder aufgenommen wurde, in denen Krieg herrscht.

Internationale Kriege sind hingegen heute gewöhnlich sehr asymmetrisch. Regierungen erklären einem Land keinen Krieg mehr, sondern intervenieren “humanitär” oder sprechen abstrakt vom “Krieg gegen Terror”, als ob es nicht weiterhin Menschen, keine abstrakten Dinge wie Terror seien, die getötet, verstümmelt oder in die Flucht getrieben werden. Die Regierungen der reichen Länder sind bereit, ihre Interessen zu verteidigen. Und wir sollten uns nichts vormachen: Viele unserer MitbürgerInnen werden ihnen zustimmen, sobald sie die Konsequenzen von Klimawandel, dem Zuendegehen der ersten natürlichen Ressourcen in ihrem eigenen Leben spüren werden. Das Erstarken von Rechtsextremismus in vielen europäischen Ländern ist dafür ein klarer Indikator.

Wir sprechen heute auch noch von anderen Arten von Krieg. Wir sprechen vom Krieg der Reichen gegen die Armen, von Weiß gegen Schwarz, von Krieg gegen die Umwelt, von Krieg gegen Frauen und LGBTQ-Leute, Krieg gegen nicht-menschliches Leben usw. Krieg findet nicht nur statt, wenn eine Armee gegen eine andere marschiert. (Oder wenn eine Drohne, die aus einer sicheren Position tausende von Kilometer entfernt gesteuert wird, Menschen ermordet.) Krieg ist da, wo immer Gewalt eingesetzt wird, legitime Interessen zu unterdrücken, oder wo strukturelle Gewalt dominiert.

Deshalb: Können wir immer noch davon sprechen, “keine Art” von Krieg zu unterstützen, wenn Krieg so viel komplexer geworden ist, als dass eine Regierung einer anderen den Krieg erklärt? In einer gewissen Weise unterstützen wir Krieg, wann immer wir unser Auto anlassen, unser Handy benutzen oder unsere Einkommenssteuer bezahlen. Vielleicht ist das unvermeidbar – völlige Nicht-Unterstützung scheint praktisch unmöglich. Aber wir sollten unwillige Unterstützung nicht mit dem Fehlen von Widerstand verwechseln. Um so komplexer Kriege geworden sind, desto vielfältiger sind auch die Möglichkeiten zum Widerstand geworden.

An der Beseitigung aller Kriegsursachen mitarbeiten
In der Friedensforschung wurde keine universelle, von allen geteilte und überzeugende Erklärung entwickelt, warum es Krieg gibt. Theorien reichen von biologischen und psychologischen Erklärungen über Erklärungen, die verschiedenen Ideologien und Weltsichten (einschließlich Religionen) die Schuld geben, über die marxistische Theorie der Ausbeutung, dem Patriarchat der FeministInnen bis zur kapitalistischen („realistischen“) Annahme von Gier und dem rationalen Abwägen von und der Suche nach dem maximalen Vorteil. Wenn langsam ein Konsens entsteht, dann ist es der, dass es die eine monokausale Erklärung nicht gibt, sondern dass nur Systemtheorie oder vergleichbare Ansätze helfen, die multiple, miteinander verwobene Faktoren als Elemente einer Erklärung ansehen, und dabei zwischen Hintergrund-Ursachen, Katalysatoren und Auslösern unterscheiden.

AntimilitaristInnen und PazifistInnen haben entsprechend unterschiedliche Herangehensweisen entwickelt, wie man Krieg überwinden und abschaffen kann. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind die vielleicht wichtigsten die folgenden:

  1. Abschaffung von Krieg und Militär durch direkten Widerstand (Kriegsdienstverweigerung, Streiks, Zivilen Ungehorsam). Die Weigerung, direkt teilzunehmen, weder als SoldatIn noch in zivilen Unterstützungsstrukturen (zivile Verteidigung), noch als ArbeiterIn in der Rüstungsindustrie oder als PolitikerIn, die die politische Entscheidung über Krieg trifft, ist das, was neben der Ablehnung jeder Art von Krieg War Resisters’ International vielleicht am meisten von anderen Friedensorganisationen unterscheidet.
  2. Die Regierungen und internationalen Organisationen durch Protest zwingen, eine andere Politik zu betreiben (oder sich, wie im Falle der NATO, aufzulösen).
  3. Krieg und Militär abschaffen, indem sie durch gewaltfreie Mittel für rein defensive Zwecke ersetzt werden (Soziale Verteidigung, gewaltfreie ‘Friedensarmeen’, Ziviles Peacekeeping).
  4. Die ökonomische Seite von Krieg angehen: Rüstungskonversion und Verbot von Waffenhandel.
  5. Konstruktive Programme entwickeln, wie Gandhi es genannt hat – alternative Weisen, wie man Lebensmittel herstellt, Wirtschaft treibt, Energie nutzt, zusammenlebt, usw.
  6. Krieg ‘indirekt’ durch radikalen und umfassenden sozialen Wandel überwinden. In diese Kategorie würden u.a. verschiedene Konzepte von Sozialismus und Anarchismus gehören.
  7. Krieg effektiv verbieten, indem man einen stabilen Rahmen internationalen Rechtes schafft, der genauso funktioniert wie das Gewaltmonopol innerhalb einzelner Staaten. Die Stärkung der Vereinten Nationen, Schaffung einer Weltpolizei, die nationales Militär ersetzt, oder sogar die Gründung eines Weltstaates sind Schlüsselwörter für diesen Ansatz. Er ist nicht notwendigerweise pazifistisch, denn er enthält oft einen Rest von militärischer Gewalt, die den PolitikerInnen weiter zu Verfügung stehen soll.
  8. Mit den schlimmsten Symptomen von Gewalt und Krieg zu beginnen, in der Hoffnung, dass Fortschritt in diesen Feldern zu einer Dynamik weiterer Abrüstung führt. Hierzu gehören die Bewegungen gegen bestimmte Waffentypen (Landminen, Atomwaffen, Drohnen, Waffenexport usw.). Auch diese Ansätze teilen PazifistInnen mit jenen, die nicht so weit gehen würden, totale Abrüstung zu verlangen.
  9. Die Einstellungen gegenüber Gewalt verändern – das ist das Herzstück von Friedensbildung, Friedenskonsolidierung und Konflikttransformation.

“An der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten“ ist jedoch noch mehr als das. Es bedeutet nicht nur, gegen die jeweils jüngste Drohung, die neueste Militärbasis, die irgendwo gebaut wird, oder die gerade stattfindende „Militärintervention“ zu kämpfen. Menschen fragen zu Recht: “Welche Alternativen habt Ihr?”. Die Entwicklung, Propagierung und das Praktizieren von Alternativen zu Krieg, zumindest den Opfern von Krieg zu helfen, wenn es im Moment schon nichts anderes mehr gibt, und sich für Zivile Konfliktbearbeitung einzusetzen, sind integrale und notwendige Elemente der Arbeit an der Überwindung von Krieg.

Die Ursachen von Krieg zu beseitigen, bedeutet außerdem, sich die Strukturen von Ausbeutung und Ungleichheit und menschenfeindliche und auf Hass basierende Ideologien anzusehen, sich zu fragen, wie wir uns in Beziehung setzen zur Natur und allem Leben. Deshalb: All diese Ansätze, die oben aufgezählt wurden, sind notwendig. Es kann keinen Masterplan geben, der uns genau sagt, welche Schritte wir gehen müssen, um Krieg zu überwinden. Sozialer Wandel ist schlicht zu komplex, und (glücklicherweise) hat die Wissenschaft bisher es nicht geschafft, diese Komplexität so herunterzubrechen, dass sie Vorhersage-Modelle erstellen könnte. Aber wir wissen, dass komplexer und radikaler Wandel möglich ist. Sonst gäbe es immer noch legale Sklaverei, Frauen würden nirgendwo auf der Welt wählen und ihr Leben unabhängig von einem Ehemann gestalten dürfen, Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle würden überall ins Gefängnis gehen oder hingerichtet werden, es gäbe keine solchen Konzepte und Instrumente wie Peace-Building oder Konflikttransformation, und niemand würde autoritäre Regierungsformen in Frage stellen. Es ist dies Wissen, an das wir uns erinnern sollten, wenn Dinge einmal wieder besonders düster aussehen.

 

Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift der War Resisters' International (WRI), dem „Broken Rifle“ Nr 100, im Herbst 2014 erschienen. Christine Schweitzer ist Redakteurin des Friedensforums, Co-Geschäftsführerin im BSV und Vorsitzende der WRI.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.