Friedenslogik in Zeiten des Krieges

Acht Argumente für eine friedenslogische Herangehensweise

von Sabine Jaberg
Schwerpunkt
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Am 24. Februar 2022 hat Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. (1) Seither erreichen uns tagtäglich schreckliche Bilder aus dem geschundenen Land, die uns das Leid der Menschen drastisch vor Augen führen. „Der Krieg muss aufhören!“ Dieser Impuls verbindet all jene, die mit den Opfern fühlen. Doch wie kann das Ziel am besten erreicht werden? Die Antwort des Westens ist im Prinzip klar: Unterhalb der Schwelle eines aktiven militärischen Einschreitens unterstützen die NATO und ihre Mitglieder die Ukraine nach Kräften: mit immer leistungsfähigerem Kriegsgerät, umfangreicher finanzieller Militärhilfe, kriegsrelevanten Geheimdienstinformationen und militärischer Ausbildung. Russland hingegen unterwerfen sie einem strengen Sanktionsregime, das Russland „ruinieren“ (2) werde, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock formulierte.

Das Bündnis und seine Mitglieder sind mithin Partei: Sie wollen, dass Kiew den Krieg gewinnt oder zumindest nicht verliert. Hinter ihrem kriegslogischen Handlungsprogramm steckt aber nicht nur ein humanitärer Impetus, sondern auch das sicherheitslogische strategische Kalkül, Russland sich in der Ukraine militärisch so weit aufreiben zu lassen, dass es zu weiteren Feldzügen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, zu der ja auch NATO-Staaten gehören, definitiv nicht mehr in der Lage wäre. (3) Befürchtungen über ein weiteres gewaltsames Ausgreifen sind – ungeachtet tatsächlicher Fähigkeiten Moskaus – keineswegs aus der Luft gegriffen: Präsident Wladimir Putin macht aus seinen imperialen Ambitionen seit geraumer Zeit kein Geheimnis. Mittlerweile wähnt er sich gar in den Fußstapfen Peters des Großen, dessen Eroberungskriege nur das zurückgeholt hätten, was Russland zugestanden habe. (4)

Deutschland hat sich innerhalb der NATO in die Kriegsunterstützerfront zugunsten der Ukraine eingereiht. Auch hierfür steht das Schlagwort der „Zeitenwende“ (5), das Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Angriff prägte. Gleichwohl weist es über den Ukrainekrieg hinaus. Im Mittelpunkt steht nämlich ein in der bundesdeutschen Geschichte einmaliges Aufrüstungsprogramm, das Kiew bei seinem aktuellen Abwehrkampf nicht hilft. Mit einem „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro und einer dauerhaften Erhöhung des Wehretats auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts soll die Bundeswehr zu einer Armee entwickelt werden, deren Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung außer Zweifel steht. Bundestag und Bundesrat haben im Juni 2022 der erforderlichen Grundgesetzänderung bereits zugestimmt.

Darüber hinaus impliziert die proklamierte Zeitenwende einen tiefen und womöglich auch nachhaltigen Einschnitt in die mentale Verfasstheit der Bundesrepublik. Dieser manifestiert sich schon jetzt: Ungeachtet des Friedensgebots in der Präambel des Grundgesetzes verlagert sich der Rechtfertigungsdruck zusehends von den Befürworter*innen einer offensiven Rüstungsexportpolitik zu deren Kritiker*innen. Darüber hinaus wird jegliche Friedenspolitik der Vergangenheit als naiv gebrandmarkt oder gar für die Aggression Russlands mitverantwortlich gemacht. Das diskreditiert derartige Ansätze sowohl für den aktuellen Umgang mit dem Ukrainekrieg als auch für die Gestaltung des zukünftigen Verhältnisses zu Russland gleich mit.

Wie lassen sich angesichts all dessen überhaupt noch friedenslogische Positionen vertreten, die auf das Ziel des Friedens orientieren und sich in Analyse wie Praxis von dessen Prinzipien leiten lassen? Dazu zählen Gewaltprävention und Gewaltabbau, Deeskalation und konstruktive Transformation von Konflikten, aber auch unmittelbarer Opferschutz und Leidmilderung, Stärkung von Völkerrecht und Menschenrechten sowie Selbstreflexion und Empathie. (6) Zur Beantwortung werden zuerst Argumente für eine solche – dem Grundsatz der Gewaltfreiheit verpflichteten – Position mit Blick auf den Ukrainekrieg gesammelt, um danach eine friedenslogische Argumentation zu dessen Ursachen und Folgen zu skizzieren.

Zur Begründung friedenslogischer Positionierungen im Ukrainekrieg
Angesichts der Kriegsentschlossenheit aller Konfliktbeteiligten und der Rücksichtslosigkeit des Aggressors gibt es keine Garantie, dass friedenslogische Ansätze zeitnah eine Chance erhalten werden, Krieg und Leid der Menschen nachhaltig zu beenden. Allerdings haftet dem Handlungskatalog der Sicherheits- oder gar der Kriegslogik die gleiche Ungewissheit an. Daher ist vor einem bellizistischen Fehlschluss zu warnen: Nur weil Friedenslogik nicht schnell zum gewünschten Ergebnis führen könnte, bedeutet das keineswegs, dass Sicherheitslogik und Kriegslogik hier verlässlicher wären. Eher dürften diese dazu beitragen, die Gewaltspirale weiter anzuheizen. Für eine solche Einschätzung sprechen sowohl konkrete Erfahrungen im Ukrainekrieg als auch grundsätzliche Erwägungen. Beides geht in den folgenden Begründungskatalog ein.

Aus welchen Quellen können sich friedenslogische Positionen mit Blick auf den Ukrainekrieg speisen? Dazu zählt erstens eine normative Verpflichtung auf einen konsequenten Pazifismus. Zweitens gäbe es das pragmatische Eingeständnis einer grundsätzlichen oder zumindest situativen Aussichtslosigkeit gewaltsamer Optionen. Drittens könnte eine friedenslogische Position eine rationale Reaktion auf die strukturelle Kriegsuntauglichkeit technisch hochentwickelter Gesellschaft darstellen (Stichwort Atomkraftwerke). Viertens ergäbe sie sich auch aus strategischer Einsicht in die unbedingte Vermeidungspflichtigkeit eines Krieges zwischen der NATO und Russland, also zwischen Atommächten. Damit eng verbunden wäre fünftens ein risiko-averses Kosten-Nutzen-Kalkül: Die nicht definitiv auszuschließende Eskalation in einen Atomkrieg bzw. dritten Weltkrieg lässt selbst bei geringer Eintrittswahrscheinlichkeit das Risiko aufgrund des immensen Schadensausmaßes als deutlich zu hoch erscheinen, als dass weiter Öl ins Feuer gegossen werden sollte. Hinzu kommt sechstens das konfliktpsychologische Argument, wonach ungebremste Eskalationsdynamiken Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen der Parteien immer weiter so einschränken, dass diese schlussendlich um den Preis der Selbstvernichtung bereit sind, sich gemeinsam in den Abgrund zu stürzen. Siebtens könnte eine herrschaftskritische Perspektive in der Friedenslogik eine Alternative zum gewaltsamen Austrag konkurrierender Dominanzansprüche erblicken und den Ansatz gleichzeitig auf seine verdeckten Herrschaftsanteile hinterfragen. Achtens ließen sich friedenslogische Positionen mit dem diskursiven Ziel der Aufrechterhaltung alternativer Denk- und Handlungsräume einnehmen, die auch hierzulande schrumpfen.

Jedes einzelne dieser Motive ist sowohl plausibel als auch hinreichend. Zusammengenommen ergeben sie eine starke Basis für eine pluralistisch begründete Positionierung zugunsten einer reflexiven Friedenslogik, die auch Raum für Zweifel und kritisches Nachfragen lässt.

Rückblick und Ausblick
Die friedenslogische Antwort auf die Frage, ob die Politik des Westens an zu wenig oder zu viel Friedenspolitik gescheitert sei, lautet: an zu wenig. Was nach dem Ende des Systemkonflikts seit 1990 in Gesamteuropa entstanden ist, war eben keine zur konstruktiven Konflikttransformation fähige Friedensordnung, in der sich alle Beteiligten auch sicherheitspolitisch gut aufgehoben gefühlt hätten. Vielmehr handelte es sich um eine vom Westen dominierte Machtordnung, in der Moskaus schon früh geäußerten Einwände ignoriert und seine Initiativen – wie beispielsweise der Entwurf für einen Sicherheitsvertrag (2009) – nicht aufgegriffen wurden. Gleiches Schicksal ereilte die beiden an die USA bzw. an die NATO adressierten russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021, die in ihrem Kern den Verzicht auf eine weitere Ostausdehnung des Bündnisses und die Rückführung militärischer Infrastruktur auf den Stand zur Zeit der NATO-Russland-Grundakte (1997) völkerrechtlich fixieren wollten. Wenngleich die Entscheidung des Kremls zu einer Invasion bereits gefallen gewesen sein könnte: Die letzte Chance auf eine Verhandlungslösung nicht ergriffen zu haben, stellt ein schwerwiegendes Versäumnis des Westens dar.

Das alles rechtfertigt Russlands brandgefährlichen Versuch nicht, die bestehende Ordnung mit Hilfe eines völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Angriffskriegs zu revidieren. Aber genauso wenig erlaubt dieser die pauschale Verurteilung friedenslogischer Ansätze, zumal diese bislang ja nicht wirklich zum Tragen kamen. Statt nach dem heißen Krieg bewusst auf einen Kalten Krieg 2.0 mit all seinen Risiken zuzusteuern, sollte im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft schon jetzt daran gearbeitet werden, möglichst viele friedenslogische Elemente im Konzept einer „Gemeinsamen Sicherheit wider Willen“ zu adaptieren. Andernfalls drohen sich schlechte Prophezeiungen für eine Nachkriegsordnung gleichsam selbst zu erfüllen.

Anmerkungen
1 Der Beitrag basiert auf einer Stellungnahme aus der AG Friedenslogik der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung vom 11. Mai 2022, an der die Autorin federführend mitgewirkt hat. https://pzkb.de/wp-content/uploads/2022/05/Stellungnahme-AG-Friedenslogi....
2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/rede-der-bundesministerin-d....
3 Vgl. Gnauck, Gerhard u.a.: „Wir wollen Russland schwächen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26.04.2022.
4 Vgl. Schmidt, Friedrich: In der Tradition Peters des Großen, in: FAZ vom 11.06.2022.
5 https://www.bundeskanzler.de/bk-de/suche/regierungserklaerung-von-bundes....
6 Ausführlicher vgl. https://pzkb.de/wp-content/uploads/2017/09/friedenslogik_d-8s-web.pdf sowie Sicherheit und Frieden (S+F), 3/2020.

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