"Alle Soldaten sind potentielle Mörder"

von Heide Platen

Der Frankfurter Arzt Peter Augst ist ein sanfter Mann mit freundlichen blauen Augen. Nur manchmal regt er sich auf. Eben darum hat er im Sommer 1984 während einer Podiumsdiskussion vor Schülerinnen und Schülern der Friedrich-Ebert-Schule gesagt: "Alle Soldaten sind potentielle Mörder!" Seither fühlen sich die "Bürger in Uniform" und ihre obersten Dienstherren schwer beleidigt durch den Pazifisten und prozessieren. Die moderate Sprache allerdings, den Dialog mit der Bevölkerung, den gesellschaftlichen Diskurs, mit dem die Bundeswehr hinter dem Abrüstungswunsch der Bevölkerung hinterherhinkt, verlangte sie nur dem aufmüpfigen Mediziner ab. Für sich selber sah sie keine Notwendigkeit, sich mit dem Vorwurf, sie bilde Menschen zum Töten aus, auseinanderzusetzen.

So wurde der Saal des Frankfurter Landgerichtes zur Bühne für ein Lehr­stück dessen, daß die Offiziere des bundesdeutschen Teilstücks des westli­chen Verteidigungsbündnisses NATO nicht nur einen Doppelbeschluß ha­ben, sondern zur Selbstverteidigung auch eine Doppelstrategie praktizie­ren, wenn sie sich angegriffen fühlen. Die Militärs gaben sich offen und ge­sprächsbereit. Sie mahnten den Pazifi­sten Augst, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden und die harschen Worte zurückzunehmen. Eine nachge­rade preußische Ehrenerklärung und Entschuldigung forderten sie. Den Ju­gendoffizier, Hauptmann Witt, der bei der inkriminierten Podiumsdiskussion dabei war und der sich persönlich ge­troffen fühlte, schauerte es im Vorfeld des Freispruchs geradezu: "Ich möchte nicht, daß dann auf einem Plakat mein Name in Zusammenhang mit Mord er­scheint!" Die Sprache der Militärs ge­rann immer wieder an der dead-line ihrer eigenen Toleranz. Wir sind doch keine Mörder! Hier setzte die Sprachlosigkeit ein zwischen den Pro­zeßbeteiligten, eine Verständigung war nicht mehr möglich.

Die Hamburger Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach ver­suchte in ihrem Gutachten vor Gericht zu klären, warum der von Richter Gehrke immer wieder angemahnte Diskurs nicht führbar ist. Der strategi­sche Jargon ist eine Voraussetzung dafür, daß intelligente, sympathische und auch liebenswerte Menschen das Undenkbare denken (Hermann Kahn) können." Sie zitiert die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Carol Cohn: "Wer selbst die Sprache lernt, bemerkt zwangsläufig, wie abstrakt Denken werden kann - so abstrakt, daß das Überleben von Waffen das Überleben von Menschen dominiert."

Dies allerdings war im Gerichtssaal nur zu augenfällig. Generalleutnant Rolf Hüttel versicherte immer wieder, fast verzweifelt, er wolle ganz gewiß niemanden ermorden. Und die Bun­deswehr, geschweige denn die NATO, wolle dies schon gar nicht. Wer ihn hörte, hätte ihm fast glauben mögen. Umso erschreckender entdeckten alle Prozeßbeteiligten, daß seine persönli­che Glaubwürdigkeit ihn nicht in die Lage setzte, überhaupt, geschweige denn "das Undenkbare", zu denken. Vorsitzender Richter Gehrke balan­cierte am Rande der Fassungslosigkeit, als er - immer wieder nachfragend - feststellen mußte: die Bundeswehr schließt den "Erstschlag im Verteidi­gungsfall" nicht aus, er gehört im Ge­genteil zum Verteidigungskonzept. Aber: Es gibt keinen noch so beschei­denen Plan für den Schutz der Zivilbe­völkerung, wenn die Bombe gefallen ist. Dies mag neu gewesen sein für jene aus der Friedensbewegung, die die fin­stersten Horror-Szenarien für diesen Ernstfall in den tiefsten Tiefen gehei­mer Schubladen verborgen wähnten. Umso erschütternder für sie die - ihm vom Gericht abgerungene Erkenntnis des Praktikers Hüttel: "Das ist nicht händelbar"!

Daß die Konsequenz von Massenpa­nik, Tod und Entsetzen im Vokabular der Bundeswehr ausgeklammert ist, versucht Birckenbach zu erklären: "Diese Tabuisierung ist ... auch eine psychologisch verständliche Abwehr­haltung gegenüber dem auch im Mili­tär vorhandenen Unbehagen am Auf­trag der Institution. Schon das Reden über den Gewalteinsatz löst auch bei Soldaten meist heftige Ängste aus." Der Prozeß zeigt eindringlich, daß dies auch auf Führungsoffiziere zutrifft, die sich - auch ein Selbstschutz - lieber den friedensschützenden, väterlichen Ge­stus zuschreiben möchten. Dagegen steht die unversöhnliche Abwehr, sich mit dem eigenen Handeln auseinan­derzusetzen. So empfahl sich Gene­ralleutnant Rolf Hüttel für den Ernst­fall eher in Gottes Hand als sein Wir­ken hinieden in Frage zu stellen.

Das Maß von Verdrängung und Ag­gression, das das Frankfurter Urteil trotz der im Verfahren nachgerade mit Friedenstauben und nicht mit Atomsprengköpfen bewehrten NATO frei­setze, steht dazu nicht im Widerspruch. Krebs, Tod, Verdammnis, ewiges Fegefeuer beschworen Brief­schreiber und anonyme Anrufer und Anruferinnen inzwischen vor allen auf Richter Gehrke und auch auf den frei­gesprochenen Arzt herab. Hanne-Margret Birckenbach: "Die Tabuisie­rung des eigentlichen Problems ist also selbst dann, bzw. gerade dann, ge­währleistet, wenn es unübersehbar ist. Auf diese Weise werden Soldaten un­empfindlich für ihre eigenen Gefühls­lagen." Im Krieg steigert sich diese Unempfindlichkeit zu einer Überlebenstechnik."

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Heide Platen ist Redakteurin der TAZ in Frankfurt.