Prozessbeobachtung in der Türkei

Alle Zeugen widerrufen unter Folter gemachte Aussagen

von Rudi Friedrich

Derzeit gibt es in der Türkei eine Vielzahl von Prozessen gegen MenschenrechtsaktivistInnen und Oppositionelle. Aus Deutschland waren Ernst-Ludwig Iskenius (IPPNW) und Rudi Friedrich (Connection e.V. und War Resisters‘ International) als Beobachter zu einem Prozess gegen den Arzt Dr. med Serdar Küni gefahren, der im Südosten der Türkei in der Provinz Şırnak stattfand.

Eigentlich war die Verhandlung, die am 13. März 2017 in Şırnak in der gleichnamigen Provinz stattfand, ein Lehrstück, wie die Polizei und Sicherheitskräfte während der Ausgangssperren vorgegangen waren. In Cizre waren 2015/2016 bei der 79-tägigen Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre mehrere hundert Personen bei den Auseinandersetzungen zwischen kurdischen jugendlichen Kämpfern und türkischen Sicherheitskräften getötet worden. Zehntausende mussten ihre Häuser verlassen. Heute sind viele dieser Gebiete geräumt, die HausbesitzerInnen enteignet und ganze Stadtviertel abgerissen.
Dr. Serdar Küni ist seit Jahren als Arzt im Gesundheitszentrum von Cizre in dem im Südosten der Türkei gelegenen Bezirk Şırnak tätig, wo er auch während der dortigen über Monate andauernden Ausgangssperren und Gefechte Anfang des Jahres 2016 Behandlungen durchführte. Er wurde im Oktober 2016 vorgeladen und unter dem Vorwurf verhaftet, "mutmaßlich Militante behandelt" und dies nicht gegenüber den Sicherheitskräften zur Anzeige gebracht zu haben. Er sei zudem Mitglied der PKK.

Die Menschenrechtsstiftung der Türkei bat auch wegen der besonderen Bedeutung des Strafvorwurfs um internationale Beobachtung. So waren wir als Delegation mit weiteren vier BeobachterInnen aus England, Schweden, Norwegen und den USA vor Ort.

Schon im Vorfeld waren Zweifel an den Aussagen der Zeugen geäußert worden. Den RechtsanwältInnen war bei Durchsicht der Protokolle aufgefallen, dass alle mitten in der Nacht unterzeichnet worden waren. Zudem enthielten sie wenig substantiierte Vorwürfe gegen eine Vielzahl von Personen in Cizre. Die vier jungen Männer, die dann vor Gericht aussagten, waren alle während der Ausgangssperren verhaftet worden.

Und diese Vermutung bestätigte sich: Ein Belastungszeuge nach dem anderen erklärte unter Eid vor Gericht, dass er den Arzt Dr. Serdar Küni nie gesehen habe und nicht kenne. Einer erklärte, auf ihn sei psychisch Druck ausgeübt worden, damit er die Aussage unterschreibt. Alle anderen Zeugen machten deutlich, dass sie nach ihrer Verhaftung durch die Polizei und Sicherheitskräfte gefoltert worden seien. "Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen", berichtete einer von ihnen. "Dann zogen sie mir eine Weste mit einem Sprengsatz an und drohten mich in die Luft zu sprengen. Ich habe unterschrieben, aber nichts davon, was dort steht, ist wahr."

Bei den etwa 70 BesucherInnen der Verhandlung, FreundInnen, Verwandte und MitstreiterInnen von Serdar Küni, wuchs daraufhin die Hoffnung, dass er aus der Untersuchungshaft entlassen werden könnte. Serdar Küni selbst betonte: "Ich bin in meinem Beruf als Arzt verpflichtet, jeden zu behandeln, der ärztlicher Versorgung bedarf. Aber ich habe mich in diesem Rahmen immer an Recht und Gesetz gehalten."

Die Verteidigung machte in ihren Plädoyers deutlich, dass Dr. Serdar Küni als Arzt der Schweigepflicht unterliege und es seine Verpflichtung als Arzt sei, jede Person zu behandeln, die ärztlicher Versorgung bedarf. Sie forderte angesichts des Prozessverlaufs die sofortige Freilassung von Dr. Serdar Küni.

Die Staatsanwaltschaft hingegen äußerte in dürren Worten weiterhin Zweifel an seiner Unschuld und forderte das Gericht auf, die Untersuchungshaft zu verlängern. Nach kurzer Beratungszeit kam das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft nach. Obwohl also alle von der Staatsanwaltschaft eingebrachten Zeugen ihre Aussagen widerrufen hatten, wurde Künis Untersuchungshaft bis zum nächsten Verhandlungstermin, dem 24. April 2017, verlängert.

Nach der Folterkonvention ist ein Verfahren unverzüglich einzustellen, wenn sich herausstellt, dass Zeugenaussagen unter Folter erpresst wurden. Das betonten im Anschluss mehrere DelegationsteilnehmerInnen. Und klar war auch, dass die Aussagen der Zeugen kaum hätten deutlicher zum Ausdruck bringen können, mit welcher Brutalität die türkischen Sicherheitskräfte im Krieg im Südosten vorgegangen sind.

Die Enttäuschung bei den BesucherInnen der Verhandlung war groß. Aber, so eine spätere Einschätzung, letztlich kam die Verlängerung der Untersuchungshaft nicht überraschend. Das Vorgehen des Gerichts zeigt, wie weit die politischen Vorgaben der türkischen Regierung in das Justizwesen hinein wirken.

Serdar Küni selbst, der in Cizre auch Vertreter der dortigen Menschenrechtsstiftung ist und Präsident der Ärztekammer in Şırnak war, hatte solch ein Ergebnis bereits befürchtet. Er war zu der Verhandlung per Videokonferenz hinzugeschaltet worden und konnte auch mit Angehörigen sprechen. Sichtlich erfreut war er über die zahlreiche Unterstützung. Am Tag zuvor hatte er von der Ärztekammer Diyarbakır den Peace Companionship and Democracy Preis erhalten. Am Abend nach der Verhandlung, so wurde uns berichtet, richteten ihm die Mitgefangenen eine Feier dafür aus.

Metin Bakkalcı von der Menschenrechtsstiftung der Türkei wies im Anschluss an das Verfahren noch einmal darauf hin, dass dieser Fall sehr bedeutsam für die Türkei sei. „Es geht hier um die freie ärztliche Versorgung und Verschwiegenheitspflicht des Arztes.“ Gemeinsam überlegten wir am nächsten Tag, wie Dr. Serdar Küni weiter auf internationaler Ebene unterstützt werden könne. Die AktivistInnen in der Türkei brauchen angesichts der aktuellen Situation unseren Rückhalt. Sie setzen sich unter wirklich großer Gefährdung für die Menschenrechte und für eine friedliche Lösung der Konflikte ein.

Weitere Informationen unter www.Connection-eV.org, www.ippnw.de

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Rubrik

Krisen und Kriege