Weißbuch der Bundeswehr 2016

Ankündigung einer sicherheitspolitischen Zeitenwende

von Otmar Steinbicker
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Dass das Weißbuch 2016 innerhalb der Friedensbewegung sehr unterschiedlich eingeschätzt wurde, sollte nicht verwundern. Es ist in sich ein Dokument voller Widersprüche. Wer Hinweise auf Aufrüstung und neue Kriege sucht, wird fündig. Wer Konkretes sucht, wird vergeblich suchen.

Die Schlüsselsätze des Weißbuches 2016 finden sich im Eingangskapitel „Deutschlands Rolle in der Welt und sicherheitspolitisches Selbstverständnis“. Dort heißt es unmissverständlich: „Deutschland wird zunehmend als zentraler Akteur in Europa wahrgenommen. Diese Wahrnehmung schafft ihre eigene Realität – im Sinne wachsender Handlungsmöglichkeiten, aber auch mit Blick auf die daraus resultierende Verantwortung.“

Es ist ein neuer, offen formulierter deutscher Führungsanspruch in Europa, der künftig die Sicherheitspolitik mit all ihren Aspekten bestimmt. Frühere Großmächte wie England und Frankreich verloren im Laufe der Zeit mehr und mehr an ökonomischem Gewicht und damit auch an politischem Einfluss in der EU. Die über einen längeren Zeitraum gewachsene Bedeutung Deutschlands innerhalb der EU und der NATO dürfte unumkehrbar sein. Dass sich daraus auch Verantwortung ableitet, ist unvermeidlich.

Die angekündigte Bereitschaft der Bundesregierung „mehr Verantwortung“ und „mehr Führung“ zu übernehmen, stellt eine deutliche Zäsur, ja eine Zeitenwende dar. Allerdings gibt es bisher strategische Unsicherheiten und keine Vorstellungen darüber, was „Verantwortung“ konkret bedeuten und wie diese gegebenenfalls umgesetzt werden soll.

Herausforderungen für die deutsche Sicherheitspolitik sieht das Weißbuch 2016 in unterschiedlichster Hinsicht. Transnationaler Terrorismus, Herausforderungen aus dem Cyber- und Informationsraum, zwischenstaatliche Konflikte, fragile Staatlichkeit und schlechte Regierungsführung, weltweite Aufrüstung und Proliferation von Massenvernichtungswaffen stehen dort ebenso im Katalog wie die „Gefährdung der Informations-, Kommunikations-, Versorgungs-, Transport- und Handelslinien und der Sicherheit der Rohstoff- und Energieversorgung“. Auch der Klimawandel, „unkontrollierte und irreguläre“ Migration, Pandemien und Seuchen werden zu den sicherheitspolitischen Herausforderungen gezählt. Inwieweit die Bundeswehr zur Lösung all dieser Probleme eingesetzt werden soll oder kann, wird nicht konkret benannt.

Vage bleibt der Passus zur Krisenprävention. Dort ist zwar davon die Rede, Deutschland wirke „darauf hin, Konfliktursachen zu beseitigen sowie den Aufbau von tragfähigen Institutionen und Strukturen zur friedlichen Konfliktaustragung zu fördern.“ Doch wie erforderliche „maßgeschneiderte Instrumente“ aussehen sollen, bleibt offen. Stattdessen werden erneut „militärische Mittel im gesamten Aufgaben- und Intensitätsspektrum“ benannt. Vergebens sucht man im Kapitel „Internationales Krisenmanagement“ eine Aufarbeitung des gründlich gescheiterten Afghanistankrieges.

Werden im globalen Maßstab Veränderungsprozesse ohne konkrete Feindbilder beschrieben, so ändert sich das mit Blick auf Europa und den Konflikt mit Russland. Da heißt es sehr klar: „Durch seine auf der Krim und im Osten der Ukraine zutage getretene Bereitschaft, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben, stellt Russland die europäische Friedensordnung offen in Frage.“ So berechtigt der Hinweis auf die Völkerrechtswidrigkeit der Krim-Annexion durch Russland ist, so bleiben zugleich eigene Verletzungen des Völkerrechts wie der Kosovokrieg und eigene Anteile an der Konfrontation in der Vorgeschichte der Krim-Annexion ausgeblendet. Diese Sichtweise trägt zugleich dazu bei, mögliche diplomatische Aktionsfelder zur Konfliktlösung außer Acht zu lassen und stattdessen zur alten, massiv gescheiterten Abschreckungslogik des Kalten Krieges zurückzukehren.

Nicht einmal Umfang und Richtung einer weiteren materiellen Aus- und Aufrüstung der Bundeswehr werden konkret benannt. Es finden sich nur wolkige Andeutungen über Mehrausgaben, wenn sie denn bezahlbar sind. Dass dabei das NATO-Ziel von Militärausgaben in Höhe von zwei Prozent beschworen wird, was fast eine Verdopplung bedeutet, sollte dabei nicht verwundern. Alle NATO-Staaten einschließlich Deutschlands haben sich seit vielen Jahren zu diesem Ziel bekannt, es aber nicht eingehalten. Die deutschen Ausgaben lagen zuletzt bei 1,2 Prozent. Jetzt wird eine deutliche Erhöhung angekündigt, wie hoch sie am Ende ausfällt und was mit dem Geld angeschafft wird, bleibt jedoch vorerst offen. „Deutschland bleibt diesem Ziel im Rahmen seiner finanzpolitischen Rahmenbedingungen und Ressourcen verpflichtet“, heißt es lapidar.

Angesichts der Betonung der der „Verantwortung“ im Weißbuch sollte die Friedensbewegung nun ihrerseits Verantwortung übernehmen und es nicht der Regierung überlassen, den Begriff der „Verantwortung“ durch eine Gleichsetzung mit einer unverantwortlichen Orientierung auf militärische Lösungsversuche zu füllen. Allein „Nein zum Krieg“ zu sagen, reicht nicht mehr aus. Ein „Ja zum Frieden“ muss auch konkrete Vorschläge für zivile, nichtmilitärische Konfliktlösungen beinhalten.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de