Weiter so bis zur Erschöpfung?

Anregungen zur Überwindung des Stillstands im Ukraine-Konflikt

von Christine Schweitzer
Im Blickpunkt
Im Blickpunkt
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Es ließe sich viel dazu schreiben, welche faschistoiden Entwicklungen in Russland, welche Versäumnisse von Seiten der NATO-Staaten und welche Fehler bei der Umsetzung von Minsk II zu dem russischen Angriff auf die Ukraine beigetragen haben. Doch jetzt, wo der Krieg sich in absehbarer Zeit jähren wird, muss dringlicher denn je gefragt werden, wie sein Ende beschleunigt werden kann. Hierzu sollen an dieser Stelle einige eher realpolitische Vorschläge gemacht werden.

Die meisten Kriege heutzutage werden – oftmals eher später als früher – durch Verhandlungen beendet, nicht durch einen Sieg einer der Konfliktparteien. (1) Muss aber darauf gewartet werden, bis beide Seiten sich festgefahren haben und keine Vorteile auf dem Schlachtfeld mehr sehen, damit sich ein neues „Fenster der Gelegenheit“ für Verhandlungen öffnet, wie es im März 2022 schon mal zu geben schien? (2)

Natürlich entsteht bei der Forderung nach „Verhandlungen jetzt“ ein Dilemma: Wie kann eine Einigung zustande kommen, ohne dass auch die Ukraine Zugeständnisse macht? Würde damit der russische Angriffskrieg nicht belohnt werden und man sich auf einen „Diktatfrieden“ (Baerbock) einlassen? (3)

Doch mit jeder Woche, in der der Krieg weiter geht, gibt es mehr Tote unter der Zivilbevölkerung wie unter den Soldat*innen beider Seiten, nehmen Zerstörung und Leid zu, wird immer mehr Natur vernichtet und CO2 freigesetzt. Dazu gibt es die realen Gefahren einer Konflikteskalation über die Ukraine hinaus, eines atomaren Unfalls in einem ukrainischen AKW oder des Einsatzes von Atombomben.

Deshalb sollte nach Lösungen gesucht werden, die nicht auf den Status quo vor dem Krieg rekurrieren, sondern für die strittigen Gebiete einen Prozess vereinbaren, in dem sich letztlich der Wille der Mehrheit der dort lebenden Menschen (nicht der Wille Kiews oder Moskaus) durchsetzt, bei gleichzeitigem Schutz der jeweiligen politischen oder ethnischen Minderheiten.

Für die Krim könnte das z.B. bedeuten, dass man sich auf ein neues Referendum verständigt, in dem alle stimmberechtigt sind, die 2014 dort gelebt haben und in dem per Briefwahl auch diejenigen mit abstimmen können, die nach der Annexion aus der Krim geflohen sind.

Für die anderen drei von Russland annektierten Regionen könnte das Beispiel von Ostslawonien herangezogen werden. Ostslawonien ist ein Teil Kroatiens, der 1992 von dem serbischen Militär besetzt wurde. Mit Zagreb und der örtlichen serbischen Administration vereinbarte die UN 1996 die Einrichtung eines Protektorats („United Nations Transitional Administration“), das zwei Jahre andauerte, von UN-Truppen überwacht wurde und in dem eine Wiederherstellung eines zivilen Lebens und Miteinanders der Bevölkerung so erfolgreich umgesetzt wurde, dass nach der Reintegration Ostslawoniens in Kroatien es zu keiner neuen Massenfluchtbewegung kam. (4)

Viele zweifeln, dass der Krieg beendet werden kann, solange Putin an der Macht ist. Doch was könnte geschehen, um die russische Innenpolitik zu beeinflussen? Eine Möglichkeit drängt sich auf: Glaubhaft anzukündigen, dass ein Großteil der Sanktionen gegen Russland in dem Moment aufgehoben wird, in dem Russland einem Waffenstillstand zustimmt, und alle Sanktionen aufgehoben werden, sobald es sich aus der Ukraine zurückzieht. Leider ist es bei Sanktionsregimes i.d.R. so, dass Sanktionen leichter verhängt als wieder aufgehoben werden, weil es immer einen Grund zu geben scheint, sie fortzusetzen. (5) Die Erfahrungen des Irak und des Iran werden auch den Mächtigen in Moskau nicht unbekannt sein. Doch wenn ihnen eine reale Perspektive geboten würde, wieder frei wirtschaften und reisen zu können, sobald der Krieg zu Ende ist, könnte das vielleicht ihre Motivation, etwas an ihrer politischen Führung zu ändern, deutlich steigern.

Und vor Kriegsende?
Auch bevor es zu Verhandlungen und/oder einem Waffenstillstand kommt, gibt es realpolitische Möglichkeiten, den Konflikt zu deeskalieren. Dazu könnten die Schaffung von entmilitarisierten Zonen genauso gehören wie der öffentliche Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und der Verzicht auf die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine.

 

Anmerkungen
1 Destradi, Sandra und Andreas Mehler (2010) Wann, wie und warum enden Kriege? GIGA Focus 4/2010, https://pure.giga-hamburg.de/ws/files/24565529/gf_global_1004.pdf
2 Einzelheiten können hier nachgelesen werden: https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Waffenstillstand_und_Fried...
3 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/annalena-baerbock-klare-absag.... Der von ihr benutzte Begriff des „Diktatfriedens“ ist übrigens eng mit der Kritik am Versailler Vertrag von royalistischer und nationalsozialistischer Seite her verbunden.
4 https://peacekeeping.un.org/sites/default/files/past/untaes_e.htm
5 Siehe z.B.: https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/sanktionen/

Der Artikel beruht auf einem Vortrag, den die Autorin inzwischen an verschiedenen Orten gehalten hat. Eine Langfassung kann hier heruntergeladen werden: https://soziale-verteidigung.de/shop/anregungen-uberwindung-stillstands-...

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.