Ausgrenzung von Roma und Sinti

Antiziganismus und Asyl

von Albert Scherr

Die deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik verweigert Flüchtlingen aus den Westbalkanstaaten – und bei diesen handelt es sich überwiegend um Roma - gezielt die Anerkennung als Schutzbedürftige. Im politischen und medialen Diskurs werden sie als Armutsmigranten dargestellt, deren unstrittige wirtschaftliche Notlage aber kein hinreichender Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus sei. So argumentiert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Ablehnungsbescheid eines Asylantrags:

Jede dritte Familie in Serbien kann mit dem Einkommen (aus Sozialleistungen, A. S.) die Lebenskosten nicht decken. Nahrung wird immer teurer. Vielen gelingt es nur durch Schwarzarbeit, ihre Existenz zu sichern. (…) Eine allgemein schwierige soziale und wirtschaftliche Lage begründet kein Abschiebungsverbot, sie muss und kann von den Antragstellern ebenso wie von vielen ihrer Landsleute ggf. unter Aufbietung entsprechender Aktivitäten bewältigt werden. Eine Rückkehr für die Antragsteller ist insofern auch zumutbar.“ (s. dazu Scherr 2015)

Durch die Gesetzgebung wurden die Westbalkanstaaten 2015 zu sogenannten „Sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt, für die angenommen wird, dass in ihnen generell keine asyl- und flüchtlingsrechtlich bedeutsame Verfolgung stattfindet. Die Folge davon ist, dass Anträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte regelmäßig als „offenkundig unbegründet“ abgelehnt werden. Dies führt dazu, dass die Ausreise ins Herkunftsland erzwungen wird; dies geschieht durch Abschiebungen und das, was verharmlosend „freiwillige Ausreise“ genannt wird: Deutschland wird verlassen, um die polizeilich durchgesetzte Abschiebung bei Nacht und damit verbundene Sanktionen (Wiedereinreisesperren, Kostenerstattung) zu vermeiden. Faktisch reisen Roma jedoch keineswegs freiwillig in die Westbalkanstaaten aus, denn dort sind sie von massiver Verelendung betroffen: Sie leben in segregierten Wohngebieten ohne funktionierende Infrastruktur, haben keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, müssen ihr Überleben durch Tagelöhnerjobs, Müllsammeln und Betteln zu sichern versuchen, erhalten vielfach keinerlei Sozialleistungen, und auch der Zugang zu Schulen und zur Gesundheitsversorgung ist massiv eingeschränkt. All das ist durch eine Reihe von Studien ausreichend dokumentiert und unstrittig (s. Marx/Warigo 2014; Scherr/Scherr 2013).

Das scheinbar zwingende Argument, dass Roma in den Westbalkanstaaten zwar von Armut und Diskriminierung betroffen sind, aber nicht politisch verfolgt werden und insofern kein Recht auf Anerkennung als Flüchtlinge haben, ist schon rechtlich nicht überzeugend. Denn die Genfer Flüchtlingskonvention lässt es durchaus zu, kumulative Diskriminierung, die zu Verletzungen grundlegender Menschenrechte führt, als Verfolgung anzuerkennen. Es fehlt also allein am politischen Willen, Roma aus den Westbalkanstaaten als schutzbedürftige Flüchtlinge anzuerkennen.

Zudem kann nicht ignoriert werden, dass Deutschland im Umgang mit Sinti und Roma eine besondere politische und moralische Verantwortung zukommt: Sinti und Roma wurden in Nationalsozialismus systematisch verfolgt, in Konzentrationslager verbracht, gefoltert und ermordet. Dies geschah nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Westbalkanstaaten, in den Vasallenstaaten des NS-Regimes und in den von Deutschland besetzten Gebieten. In Kroatien wurden nahezu alle der dort lebenden Roma ermordet, in Serbien wurden Roma im Rahmen der rassistischen Gesetzgebung ausdrücklich Juden gleichgestellt und waren Opfer von Massenexekutionen, die als Racheaktionen für verletzte und getötete Deutsche durchgeführt worden. Nach dem Ende des NS-Regimes wurde Sinti und Roma in Deutschland bis Anfang der 1980er die Anerkennung als Opfer rassistischer Verfolg verweigert, und auch für das ehemalige Jugoslawien stellt eine neuere historische Studie Vergleichbares fest:

Es ist erstaunlich, dass die Roma, die in den gleichen Konzentrationslagern wie die Juden waren und bei den gleichen Exekutionsmaßnahmen getötet wurden, in den Verhandlungen [des zuständigen Militärgerichtshofs, A.S.] nicht zum Thema wurden, obwohl den jugoslawischen Autoritäten bewusst war, dass es eine eigenständige Vernichtungspolitik gegen die Roma gab. (…) Diejenigen, welche den Völkermord gegen die Roma geplant und durchgeführt hatten, wurden von Anfang an nicht verantwortlich gemacht.“ (Pissari 2014, Übersetzung A.S.)

Der historische Schuldzusammenhang wird in den gegenwärtigen politischen Diskussionen in Deutschland und der EU systematisch ausgeblendet. Dies ist Ausdruck eines verbreiteten Antiziganismus, der auf Verdrängung der Geschichte basiert. Nur diese Verdrängung ermöglicht, dass Roma abgeschoben werden können, ohne dass dies Assoziationen zu den Deportationen des NS-Regimes aufruft. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des gegenwärtigen Antiziganismus ist Unwissenheit. Auch in Kreisen, die sich selbst für aufgeklärt halten, sind Stereotype über „die Sinti und Roma“ verbreitet, nicht zuletzt die (falsche!) Vorstellung, es handele sich um eine homogene ethnische Gruppe mit einer eigenständigen Kultur. Nach wie vor werden Sinti und Roma gesellschaftlich überwiegend als unsympathische, schwer integrierbare Fremde wahrgenommen. Dieser Antiziganismus erschwert Solidarität und führt dazu, dass Proteste gegen Abschiebungen von Roma nur in geringem Ausmaß stattfinden.

Literatur

Reinhard Marx/Karin Waringo: Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina: Zur faktischen und rechtlichen Bewertung des Gesetzgebungsvorhabens der Großen Koalition zur Einstufung von Westbalkanstaaten als „sichere Herkunftsstaaten“. Frankfurt (Pro Asyl) 2014

Milovan Pissari: The Suffering of the Roma in Serbia during the Holocaust. Belgrade 2014

Albert Scherr/Elke Scherr: Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung: Die Situation von Roma in Serbien und im Kosovo. Köln 2013 (http://www.grundrechtekomitee.de/node/609)

Albert Scherr: Wer soll deportiert werden? Wie die folgenreiche Unterscheidung zwischen den „wirklichen“ Flüchtlingen, den zu Duldenden und den Abzuschiebenden hergestellt wird. In. Soziale Probleme. H. 2/2015, S. 151-170

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