Karabach-Konflikt - Solange der Hass anhält:

Es könnte bald wieder Krieg ausbrechen – oder ein Dialog beginnen

von Bernhard Clasen
Photos von vermissten Karabach-Armeniern, die seit Anfang der 90-er Jahre vermißt werden. Wird es bald wieder solche Photos geben? Aufgenommen in Stepanakert/Chankendi im Jahre 2000.
Photos von vermissten Karabach-Armeniern, die seit Anfang der 90-er Jahre vermißt werden. Wird es bald wieder solche Photos geben? Aufgenommen in Stepanakert/Chankendi im Jahre 2000.
Photo: Bernhard Clasen

Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus FriedensForum 6/2020. Verfasst wurde der Aritkel vor dem 27. September 2020.

Der 77-jährige Rentner Razim Gasiew könnte sich in Ruhe an seinem Lebensabend ins Privatleben zurückziehen, hätte sich eigentlich einen ruhigen Lebensabend verdient. Der Politiker, der als Nationalist seine Karriere in der aserbaidschanischen „Volksfront“ begonnen hatte, war mit dabei, als das junge Aserbaidschan, soeben von der Sowjetunion losgelassen, eigene Strukturen aufbaute. Und wenig später, 1992, war er Verteidigungsminister Aserbaidschans. Dann folgte ein Krieg mit den Armeniern. Militärisch hat Aserbaidschan diesen Krieg verloren.

Schon 1993 war seine Volksfront nicht mehr an der Regierung, an die Macht kam der Diktator Heidar Aliew. Und nun wurde Razim Gasiew zum Sündenbock für den verlorenen Krieg gemacht. Die aserbaidschanischen Medien bezeichneten ihn als den Mann, der Schuscha/Schuschi (1) an die Armenier verloren, mitunter sogar „verraten“ hat. Ende 1993 wurde er wegen Hochverrat angezeigt und verhaftet. Schuscha/Schuschi ist eine alte Stadt mit einer sehr schönen Moschee. Und sie liegt in Berg-Karabach. Hoch oben auf den Bergen. Unten im Tal liegt Stepanakert/Chankendi, die Hauptstadt der von keinem Staat anerkannten „Republik Berg-Karabach“. Von Schuscha/Schuschi aus hatten die Aserbaidschaner Stepanakert/Chankendi beschossen und deswegen war es eines der wichtigsten Kriegsziele der Armenier, den Aserbaidschanern die Kontrolle über Schuscha/Schuschi zu nehmen.

1994 konnte Razim Gasiew aus dem Gefängnis fliehen und fand zunächst in Moskau Zuflucht. Unterdessen verurteilte man ihn in Aserbaidschan in Abwesenheit wegen Verbrechen gegen die Souveränität des Staates und der Verletzung der Unverletzlichkeit der Grenzen zum Tode. Seine „Schuld“: Er soll die Stadt Schuscha/Schuschi an die Armenier verraten haben.

1995 lieferte Moskau ihn an Aserbaidschan aus. Sein Todesurteil war inzwischen in lebenslange Haft umgewandelt worden, 2005 wurde er begnadigt.

Dann am 12. Juni 2020 wurde er auf offener Straße unweit seiner Wohnung von Unbekannten zusammengeschlagen. Weder Polizei noch Krankenwagen bemühten sich zunächst um den schwer Verletzten.

Am 13. Juli 2020 wurde Gasiew verhaftet. Die Gründe sind unklar, man wirft ihm Sabotage vor. Doch der Subtext ist eindeutig: Er ist der Mann, der angeblich schuld ist an dem verlorenen Krieg. Und an ihm will man sich rächen. Zwar wurde die U-Haft von Gaziew im September in Hausarrest umgewandelt. Doch die Verfolgung und die Angst vor einer erneuten Verurteilung sind real.

Der Fall Gaziew zeigt, wie sehr die Stimmungen in Aserbaidschan, aber auch bei den Armenier*innen, von dem Konflikt um Nagornij Karabach (Berg-Karabach) geprägt sind.

Dort hatten zu Sowjetzeiten nach Angaben der 1974 herausgegebenen Großen Sowjetischen Enzyklopädie 80,5% Armenier*innen und 18,1% Aserbaidschaner*innen gelebt. Heute leben nach Angaben von Wikipedia sechs Aserbaidschaner dort, das sind 0,005 % der Bevölkerung, in Karabach.

Am 2. September 1991 riefen die Abgeordneten des Gebietes Nagornij Karabach und des Rayons Schaumjan die „Republik Nagornij Karabach“ aus.

Es folgte ein armenisch-aserbaidschanischer Krieg. 30.000 Menschen kamen ums Leben, eine Million Aserbaidschaner*innen mussten fliehen, Armenier*innen, die bis dahin in Aserbaidschan gelebt hatten, wurden entweder bei anti-armenischen Pogromen in Sumgait und Baku ermordet oder schafften die Flucht nach Armenien oder Russland.

Fast täglich Schüsse
Am 9. September 2020 berichtet das auf den Kaukasus spezialisierte unabhängige russische Internetportal Kavkaz-uzel.eu, dass aserbaidschanischen Angaben zufolge am Vortag aserbaidschanische Stellungen 51 mal von armenischer Seite beschossen worden seien. Derartige Meldungen liest man fast täglich. Je nach Quelle, armenisch oder aserbaidschanisch, ging die Aggression entweder von der armenischen oder der aserbaidschanischen Seite aus.

Einen Höhepunkt haben diese Auseinandersetzung in einem Kleinkrieg im Juli 2020 gefunden. Zwischen dem 12. und dem 27. Juli sind auf armenischer Seite sechs Menschen, auf aserbaidschanischer Seite 13 getötet worden.

Zwar konnte im Juli 2020 noch einmal ein großer Krieg abgewendet werden. Aber da die Voraussetzungen, die den Krieg mit 30.000 Toten vor knapp 30 Jahren ermöglicht hatten, die gleichen sind, wie heute, ist auch heute jederzeit ein derartiger Krieg möglich.

Und heute spielen regionale Mächte eine größere Rolle als damals. Anfang September 2020 fanden im aserbaidschanischen Nachitschewan aserbaidschanisch-türkische Militärmanöver statt. Gleichzeitig bindet sich Armenien immer stärker an Russland.

Internationale Vermittlungsbemühungen
Gegenüber dem Portal azatutyun.am, einem Projekt von Radio Liberty, beklagt sich der Außenminister der „Republik Nagornij Karabach“, Masis Mailjan, dass derzeit von Seiten der internationalen Vermittler überhaupt keine Vorschläge einer Konfliktregelung vorlägen, die diskutiert würden.

Und in der Sache scheint es auch kaum Spielraum zu geben. Die Karabacharmenier*innen sind der Auffassung, dass ihre Unabhängigkeit nicht zur Disposition gestellt werden darf. Aserbaidschan besteht darauf, dass Karabach aserbaidschanisches Territorium ist. Hinzu kommt, dass die Karabach-Armenier*innen ein sehr großes Gebiet um Karabach, den sog. „Sicherheitsgürtel“, besetzt halten. Und der macht 15 % des aserbaidschanischen Gebietes aus. Seit November 2007 stehen die von der Minsk-Gruppe, die von einem russischen, US-amerikanischen und französischen Sonderbotschafter geleitet wird, vorgeschlagenen sog. „Madrider Prinzipien“ zur Diskussion. (2). Diese sehen eine Rückgabe der von Armeniern besetzten Gebiete um Karabach vor, gestatten gleichzeitig weiterhin einen Korridor zwischen Armenien und Karabach. Außerdem soll Flüchtlingen eine Rückkehr ermöglicht werden und Karabach einen temporären Status erhalten. Während Aserbaidschaner*innen wie der in Baku lebende Konfliktforscher Avas Hasanov in den Madrider Prinzipien eine Lösungsmöglichkeit sehen, werden die Madrider Prinzipien von den Armenier*innen inzwischen weitgehend abgelehnt.

Wie weiter?
Der aserbaidschanische Menschenrechtler Avas Hasanov sieht gegenüber dem „Friedensforum“ einen Schlüssel in der Förderung der Volksdiplomatie, also in mehr zivilgesellschaftlichen Kontakten zwischen Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen. Hasanov hat schon mehrfach, sehr zum Verdruss der aserbaidschanischen Gesellschaft und Regierung, die armenische Seite besucht. Er dürfte wohl der Aserbaidschaner sein, der die meisten armenischen Freunde auf seiner Facebook-Seite hat.

Eine wichtige Rolle in dieser Volksdiplomatie, so Hasanov in seinem auf Russisch erschienenen Buch „Nagornij Karabach – der schwierige Weg der Volksdiplomatie“, könnten die armenischen Flüchtlinge spielen, die aus Aserbaidschan geflohen sind. Denn sie kennen beides: den Hass, aber auch respektvolle Beziehungen zu Aserbaidschaner*innen. Viele armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan würden gerne an eine Zeit anknüpfen, in der sie friedlich zusammengelebt hatten.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es sich nicht lohnt, irgendetwas zu unternehmen, solange es keine Brücken des Vertrauens zwischen den Konfliktparteien gibt“ erklärt Gegam Bagdasarjan, Präsident des „Presseclubs Stepanakert“, gegenüber dem Friedensforum. „Es ist nun mal ein entscheidender Aspekt bei einer Regulierung des Karabach-Konfliktes, dass in den Positionen der Konfliktparteien Welten auseinanderliegen. Armenien und die Republik Karabach sind der Auffassung, dass ein Aufbau von Beziehungen zwischen den Gesellschaften der im Konflikt stehenden Seiten der Regulierung des Konfliktes förderlich sein können“. Doch derartiges, so Bagdasarjan, wolle Aserbaidschan nicht. Aserbaidschan, so Bagdasarjan, sehe erst nach der Regulierung des Konfliktes einen Sinn in zivilgesellschaftlichen Kontakten. „Gleichzeitig muss man doch sehen, dass man in anderen Konflikten gerade Wert legt auf eine Zusammenarbeit auf unterschiedlichsten Ebenen der Gesellschaften der Konfliktparteien.

Anmerkungen:
1) Ortsbezeichnungen habe ich in armenischer und aserbaidschanischer Schreibweise geschrieben. Beispiel: Was für die Aserbaidschaner Schuscha ist, ist für die Armenier Schuschi. Nicht getan habe ich das bei dem Namen „Presseclub Stepanakert“.
2) Siehe auch:
https://www.osce.org/mg/51152

 

Siehe auch Text von Bernhard Clasen aus 1995: "Es ist Krieg in Aserbaidschan"

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Krisen und Kriege