Die Impunität der Angriffskrieger

Artikel 26 Grundgesetz und seine mangelhafte Umsetzung im Strafrecht

von Jürgen Rose

„Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden.“ (Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen. 1797)(1)

Dreimal hat die Bundesrepublik Deutschland sich im vergangenen Jahrzehnt mit ihren militärischen Streitkräften an Angriffskriegen beteiligt oder solche unterstützt, obwohl sie sich im ‚Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland‘, dem sogenannten ‚2+4-Vertrag‘ vom 12. September 1990 feierlich verpflichtet hatte, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen“ und „Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“ (2), nämlich 1999 beim Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, nachdem der deutschen Öffentlichkeit die Propagandalügen von der sogenannten 'humanitären Katastrophe‘ im Kosovo und dem berühmt-berüchtigten ‚Hufeisenplan‘ aufgetischt worden waren, dann erneut 2001 im Zuge der Invasion Afghanistans, die ohne die mandatorische Autorisierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erfolgte, sowie 2003, als die Bundeswehr auf Weisung des damals amtierenden Verteidigungsministers Dr. Peter Struck das „völkerrechtliche Verbrechen“(3) der USA und ihrer Alliierten gegen den Irak und seine Menschen „mit allen Anstrengungen“(4) unterstützte.

Ernstfall Angriffskrieg
Dieser Sachverhalt muss freilich nicht nur unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten Irritationen auslösen, sondern insbesondere auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht. Denn im deutschen Grundgesetz normiert der einschlägige Artikel 25 zunächst: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“, um unmittelbar anschließend in Artikel 26 zu bekräftigen: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“

Da der Angriffskrieg der Bundeswehr demnach qua Verfassung kategorisch untersagt ist, stellt sich die Frage, weshalb jene in oben aufgeführte Gewaltkonflikte involvierten Entscheidungsträger aus Politik und Militär, die quasi in Serie das ultimative aller Verbrechen, nämlich das des Angriffskrieges – weil es alle anderen Verbrechen in sich birgt und entfesselt –, verübt haben, bis dato nicht mit den Mitteln des Strafrechtes für ihr (regierungs-) kriminelles Tun zur Rechenschaft gezogen wurden.

Friedensverrat und Strafgesetzbuch
Indes: So erhaben jegliche Verfassungsnorm auch ins Grundgesetz gemeißelt sein mag – ihre praktische Wirksamkeit entfaltet sie stets erst nach Umsetzung in ein korrespondierendes Ausführungsgesetz. Erstmals befasste sich mit dieser Aufgabe in den Jahren 1967 und 1968 ein vom Bundestag eingesetzter ‚Sonderausschuss für die Strafrechtsreform‘. Letzterem ist es zu verdanken, dass unter dem Rubrum „Friedensverrat“ das Verbot des Angriffskrieges Eingang ins deutsche Strafgesetzbuch (StGB) gefunden hat. Dort lautet der einschlägige § 80 (Vorbereitung eines Angriffskrieges): „Wer einen Angriffskrieg (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.“ Um allfälligen Missverständnissen und Fehlinterpretationen vorzubeugen, stellte der Sonderausschuss bei Vorlage seines Strafrechtsänderungsentwurfes im Bundestag klar, dass „§ 80 ... nicht nur, wie der Wortlaut etwa annehmen lassen könnte, den Fall der Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern erst recht den der Auslösung eines solchen Krieges [umfasst]. Gerade mit Rücksicht auf diesen Fall enthält die Strafandrohung auch lebenslanges Zuchthaus.“ (5)

Angesichts dessen muss es jeden logisch Denkenden verblüffen, wie der beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe ansässige Generalbundesanwalt, nachdem aufrechte und gesetzestreue BürgerInnen erfreulicherweise zuhauf Strafanzeigen gegen die dreisten Friedensverräter an den Schalthebeln der Berliner Republik gestellt hatten, es in stupider Regelmäßigkeit ablehnte, gegen Mitglieder der Bundesregierung wegen des Verdachts auf Vorbereitung eines Angriffskrieges Ermittlungsverfahren einzuleiten. So teilte die für die Generalbundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof tätige Oberstaatsanwältin Schübel mit Schreiben vom 3. August 2006 dem Arbeitskreis ‚Darmstädter Signal‘, einem Zusammenschluss friedenspolitisch aktiver Soldatinnen und Soldaten, wörtlich mit: „Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 80 Abs. 1 StGB ist nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar, so dass auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht darunter fällt. Ein Analogieschluss dahingehend, dass dann, wenn schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges strafbar ist, dies erst recht für dessen Durchführung gelten müsse, ist im Strafrecht unzulässig. Art. 103 Abs. 2 GG verbietet die Anwendung einer Strafvorschrift über ihren eindeutigen Wortlaut hinaus.”

Wie diese Juristin zu ihrer – der unzweideutigen Rechtsauffassung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform diametral entgegengesetzten – Interpretation gelangte, bleibt ihr Geheimnis. Berücksichtigt man zudem noch die in den Protokollen des Sonderausschusses verzeichnete Aussage, dass der Tatbestand des Angriffskriegs auch dann vorliege, wenn jemand die Bundesrepublik in einen bereits ausgelösten Angriffskrieg hineinziehe, dann ergibt sich gegen die Generalbundesanwaltschaft der dringende Verdacht der Rechtsbeugung.

Noch ein weiteres Argumentationsmuster, mit dem der Generalbundesanwalt regelmäßig seine Untätigkeit gegenüber den regierungsamtlichen Angriffskriegern begründet, spricht für diesen Verdacht, nämlich dass sich die Auslegung des § 80 StGB „nicht allein am militärisch verstandenen Begriff des Angriffskrieges ausrichten“ (6) dürfe. Vielmehr stelle diese Rechtsnorm eine solche Handlung nur dann unter Strafe, wenn sie als eine absichtsvolle Störung des Friedens zu bewerten sei. Was der Generalbundesanwalt dem konsternierten Publikum damit zu verstehen gibt, ist nichts anderes, als dass es seiner Auffassung nach auch Angriffskriege geben kann, die dem Frieden dienen – und maßgeblich hierfür sei allein die Intention derjenigen, die diese Kriege entfesselt hätten.

Derartige Spitzenleistungen juristischer Rabulistik aus dem Hause der Generalbundesanwaltschaft provozierten am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht den galligen Kommentar: „§ 80 StGB ist eine Vorschrift der Straflosigkeit der Führung eines Angriffskrieges und der Beihilfe zum Angriffskrieg.“(7) Im Kreise der Wehrjuristen formuliert man den Sachverhalt weitaus distinguierter: Den „vermeintlich eindeutigen Rechtsnormen des Art. 26 GG und des § 80 StGB fehlt es aufgrund ihrer Struktur im Hinblick auf das Angriffskriegsverbot an hinreichender Steuerungsfähigkeit“. (8)

Strafrecht gegen Angriffskrieg
Die Analyse der momentanen Rechtslage liefert ergo das ernüchternde Ergebnis, dass der Paragraph 80 StGB in seiner jetzigen Fassung das Verbrechen des Angriffskriegs und die Beihilfe dazu von Strafe freistellt. Sowohl dem Wortlaut nach als auch nach der Auslegung des Generalbundesanwaltes macht sich zwar strafbar, wer einen Angriffskrieg vorbereitet, nicht aber, wer ihn auslöst und führt – auch wenn es noch so absurd und unverständlich erscheint, dass ein Verbrechen, dessen Vorbereitung schon strafbar ist, selbst nicht unter Strafe stehen soll.

Angesichts dieses Tatbestandes erscheint es dringend erforderlich, mittels einer Novellierung des Paragraphen 80 StGB sicherzustellen, dass künftig nicht nur die Planung und Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern auch dessen Auslösung, Durchführung, Unterstützung oder Förderung sowie die Beteiligung daran einen Straftatbestand darstellen. Entsprechende Formulierungsvorschläge, die an dieser Stelle aus Platzgründen nicht detaillierter dargelegt werden können, liegen bereits seit längerem vor (9), bedürften indes nach dem Muster der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“ einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne seitens der Friedensbewegung, um politisch wirkungsmächtig werden zu können.

Anmerkungen
1 Kant, Immanuel: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kant’s gesammelte Schriften, Band VIII, Berlin und Leipzig 1923, S. 429; im Internet unter http://www.archive.org/details/kantsgesammeltes08imma.

2 Auswärtiges Amt, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland: Dokumente von 1949 bis 1994, Köln 1995, S. 700f.

3 Merkel, Reinhard: Krieg. Was Amerika aufs Spiel setzt. Ein Präventivkrieg mag der Logik imperialer Macht entsprechen. Aber er untergräbt das Rechtsbewusstsein der Menschheit, in: Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Berlin 2004, S. 28.

4 Vgl. hierzu Streitkräfteunterstützungskommando (Hrsg.): Vorbefehl für die „Force Protection für die US-Streitkräfte“ vom 20. Dezember 2002, zit. in Rose, Jürgen: Ernstfall Angriffskrieg. Frieden schaffen mit aller Gewalt?, Hannover 2009, S. 118.

5 Deutscher Bundestag (Hrsg.): Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Drucksache V/102 – über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Achten Strafrechtsänderungsgesetzes – Drucksache V/898 –, Drucksache V/2860, Bonn, 9. Mai 1968, S. 2.

6 Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof – OStA b. BGH Dietrich: Betrifft: Ihre Strafanzeige gegen Mitglie­der der Bundesregierung wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges, Az.: 3 ARP 412/99-3 vom 24.08.1999, S. 1.

7 Arnold, Jörg: Wie die Politik das Recht opfert. Deutschland hilft beim verbotenen Angriffskrieg gegen Irak, in: Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.): a. a. O., S. 184.

8 Vgl. Krieger, Heike: Die gerichtliche Kontrolle von militärischen Operationen, in: Fleck, Dieter (Hrsg.): Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte, Baden-Baden 2004, S. 240.

9 Siehe hierzu Jürgen Rose: Friedensverrat und Strafgesetzbuch, in: Becker, Peter/Braun, Reiner/Deiseroth, Dieter (Hrsg.): Frieden durch Recht?  Berlin 2010, S. 293 – 301.

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Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung ,Darmstädter Signal'.