Asyl ist Menschenrecht - ein uneingelöstes Versprechen

von Dirk Vogelskamp
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Die Deklaration des Menschenrechts auf Asyl ist bislang bloße Proklamation geblieben. Sie hat nationalstaatlich nie rechtsverbindlichen Charakter erhalten. Hierzulande wurde der kümmerliche Rest eines individuellen Asylrechts 1993 abgeschafft. Zur Erinnerung: Die sogenannte Asylrechtsnovellierung stand in unauflösbarem Zusammenhang mit einer demagogisch geführten Flüchtlingsdebatte (Staatsnotstand) und rassistischen Ausschreitungen und Pogromen (Rostock-Lichtenhagen). Die sozialdemokratisch herbeigestimmte parlamentarische Zweidrittelmehrheit folgte dem selbsterzeugten Druck der Straße (Asylkompromiß) und schnitt wurzeltief ins Asylgrundrecht.

Europäische Asylpolitik dagegen, die sich mit dem harmlosen Ortsnamen Schengen verbindet, ist inzwischen zu einem Instrument der Abwehr menschlichen Strand- und Frachtguts pervertiert, das den politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Verwüstungen eines global operierenden Kapitalismus unter Einsatz des eigenen zerbrechlichen Lebens zu entrinnen versucht. Flüchtlinge bleiben ein völkerrechtliches Nichts.

Am 19. und 20. November 1998 tagte die Innenministerkonferenz der Länder in Bonn - erstmals unter der "neuen" Regierung. In den Innenministerkonferenzen wurden in den letzten Jahren die politischen und verwaltungstechnischen Entscheidungen über die unerbittliche und rücksichtslose Abschiebepraxis, auch in Kriegs- und Krisengebiete, die Ausgrenzung und zum Teil gänzliche Ausschließung aus dem Sozialhilfesystem und die Verwandlung der europäischen Außengrenzen in militarisierte, todbringende Grenzräume vorbereitet und gefällt. Die Innenministerkonferenzen sind unter Beteiligung sozialdemokratischer Innenminister zu einem entscheidenden Koordinationsgremium der Flüchtlingsabwehr geworden, das den Maximen Abschottung, Abschiebung, Abschreckung und Vertreibung folgt. Das postnazistische, demokratische Lagersystem, den euphemistischen Wortschöpfungen ist nicht zu folgen, ist eine christ- und sozialdemokratische Erfindung. Die Ideologie der Standortsicherung und der damit einhergehenden nationalen Standortgemeinschaft, nach innen mit dem Asylkompromiß keinesfalls befriedet, rechtfertigt inzwischen jedes rechtsstaatliche und polizeiliche Mittel, man bedenke die verdachtsunabhängigen Kontrollen des BGS, was verspricht, bedrohte, in Not geratene und schutzbedürftige Menschen vor die Tore EU-Europas zu verbannen, wo sie fern medialer Öffentlichkeit dem Elend preisgegeben werden.

Eine die Flüchtlingsverwaltung entlastende "Altfallregelung" - die verobjektivierende Verwaltungssprache hat sich immer schon allen Spuren menschlichen Elends entledigt - löst das utopische Versprechen des Menschrechts auf Asyl gewiß nicht ein, auch wenn es einigen wenigen zugute kommen mag. BMI Otto Schily ist kein Klon seines Vorgängers Manfred Kanthers, dieses gilt es festzuhalten, aber ein geistesverwandter sicherheitspolitisch geläuterter Sozialdemokrat, der, laut Frankfurter Rundschau vom 30. Oktober diesen Jahres, in der Flüchtlings- und Migrationspolitik ein hohes Maß an Kontinuität mit dem alten Kabinett verfolgen, an der politischen Grundorientierung nichts ändern, aber flexibler werden wolle. Die erstmalig bundesweiten BGS-Sonderkontrollen und -fahndungen nach kosovoalbanischen Kriegsflüchtlingen an den Knotenpunkten der Migrationsrouten der Balkanflüchtlinge (Banhöfe, Grenzräume) lassen erahnen, was BMI Otto Schily unter mehr Flexibilität versteht. Die gleichzeitige bündnisgrüne Zustimmung zur selbstermächtigten NATO-Aggression gegen das jugoslawische Regime zum vorgeblichen Schutze kosovoalbanischer Flüchtlinge ergänzen die neue flüchtlingspolitische Flexibilität aufs Trefflichste. Regierungsamtlich wird nach den bisherigen Koalitionsaussagen nichts zu erwarten sein, was eine menschrechtsorientierte Flüchtlingspolitik begründen könnte, wenn nicht eine außerparlamentarische radikale Flüchtlingsbewegung wieder politische Wirkung und praktische Solidarität zu entfalten versteht.

Die weltweiten Oasen eines prekär gewordenen, doch immer noch privilegierten Wohlstands können nur unter permanentem Menschenrechtsbruch, unter Inkaufnahme immensen menschlichen Elends verteidigt werden. Doch die Rechtlosigkeit der flüchtigen Habenichtse in der Festung Europas wird langfristig zur Erosion des Rechts aller führen. Das Versprechen des Menschenrechts auf Asyl, welches die Teilhabe aller an den Bürger- und sozialen Menschenrechten garantiert (das Recht, Rechte zu besitzen), gleich in welchem Staate diese gerade Zuflucht gefunden haben, ist unteilbar und zu grundlegend, als daß wir uns an seiner politischen Verabschiedung beteiligen oder auch nur gewöhnen könnten. Insofern geht es um uns Bürgerinnen und Bürger. Die kompromißlose Verteidigung des Flüchtlingsrechts liegt in unserem ureigensten menschenrechtlich-demokratischen Interesse. Allein schon um der vielen Opfer und menschlichen Tragödien willen, die die europäische Flüchtlingspolitik fordert, ist dieselbe aus grundsätzlich humaner Perspektive nicht hinnehmbar. Von der moralischen Zersetzung ganz zu schweigen, die diese gleichgültige Haltung gegenüber den Opfern der Festungspolitik nachsichzieht.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie erinnerte mit einer Protestkundgebung und Mahnwache am 19. November in Bonn der Opfer der europäischen Flüchtlingspolitik. Es mahnte das uneingelöste Versprechen des Menschenrechts auf Asyl um unser aller willen an und rief die verbliebenen radikaldemokratischen Kräfte in unserem Lande auf, den Protest gegen das bestehende Asylunrecht verstärkt fortzusetzen und den außerparlamentarischen Druck auf die lediglich ausgetauschte politisch herrschende Klasse zu erhöhen.

"Die 68er-Generation endlich an der Macht", frohlockt es seit Wochen in der Berliner "tageszeitung". Sich "nicht mehr genieren, staatstragend zu sein", empfiehlt Sibylle Tönnies in der Wochenendausgabe derselben vom 31. Oktober / 1. November, sondern "staatliche Tätigkeit als Möglichkeit erkennen, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden". Was sie damit unter anderem praktisch meint, hat sie an anderer Stelle, in der "Zeit", jüngst konkretisiert und Arbeitsdienste für die herumschweifenden, arbeitslosen Jungendlichen gefordert. An einigen flüchtlingspolitischen Mindeststandards wird sich die "neue staatstragende Generation" aber schon messen lassen müssen: Abschaffung der Abschiebeknäste, Abschaffung sozialpolitischer Sonderbehandlung für Flüchtlinge, Abschaffung der Schnellverfahren an Flughäfen, Aufenthaltsberechtigungen für illegalisierte Flüchtlinge, einen angemessenen rechtlichen Schutz vor Abschiebung in Krisen und Kriegsgebiete, um nur einige zu nennen. Asyl ist Menschenrecht, dieses bleibt wohl ein uneingelöstes Versprechen. Erich Fried dichtete, meiner Erinnerung nach, auf gebrochene Versprechen Verbrechen.

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Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.