Atomwaffen

Atomare Erstschlagsphantasien als Hindernis für Rüstungsbegrenzung und Abrüstung

von Otmar Steinbicker

Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt das Wechselspiel von Kriegsphantasien und realistischen Erkenntnissen. Bis zur Kubakrise im Oktober 1962 waren die politischen und militärischen Führungen der USA und der UdSSR davon überzeugt, gegebenenfalls einen Atomkrieg führen und gewinnen, auf jeden Fall aber überleben zu können. Aus dieser Zeit gibt es erschreckende Propagandafilme wie den britischen neunminütigen Zeichentrick-Kurzfilm „Duck and Cover“ aus dem Jahre 1952, der zeigen wollte, wie leicht man sich doch beim Abwurf einer Atombombe schützen könne. Auch in der UdSSR und in der DDR glaubte man damals, schon eine Aktentasche über den Kopf zu halten, könnte schützen.

Ernsthaftes Nachdenken über die Risiken atomarer Kriegführung setzte in Regierungs- und Militärkreisen erst mit und nach der Kubakrise ein. Die Erinnerungen des damaligen US-Verteidigungsministers Robert S. McNamara in dem autobiografischen Film „Fog of War“ (Nebel des Krieges) zeigen sehr eindrücklich, wie nah die Welt während der Kubakrise vor einem Atomkrieg stand, welche Debatten es im Nationalen Sicherheitsrat der USA gab und wie schließlich die gemeinsame Lösungssuche mit der UdSSR verlief.

Die Konsequenzen dieser Krise waren vielfältig. Als erstes wurde die Einrichtung „roter Telefone“ zwischen Washington und Moskau vereinbart, um sich in gefährlichen Situationen schneller verständigen zu können. Mit der Erkenntnis, dass ein Atomkrieg zwischen den beiden Supermächten für alle Seiten nicht zu akzeptierende Folgen haben würde, begann eine lange Phase von zunächst vorsichtigen, dann deutlicheren Entspannungsbemühungen. Die militärische Erkenntnis: „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“ wurde 1972 in dem Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM – Anti-Ballistic-Missiles – Vertrag) festgeschrieben, der bis zu seiner Kündigung durch US-Präsident George W. Bush im Jahre 2002 den Eckstein für alle atomaren Rüstungsbegrenzungs- und späteren Abrüstungsverträge bildete. Indem die Zahl der Raketenabwehrsysteme für zunächst jeweils 100 Abwehrraketen zum Schutz von Hauptstadt bzw. Hauptabschussort von Interkontinentalraketen (später reduziert auf 100 Raketen insgesamt) für die USA wie für Russland begrenzt wurde, war die gegenseitige Verwundbarkeit garantiert. Somit konnte keine Seite einen Atomkrieg gewinnen, sondern sah sich todbringender Vernichtung gegenüber. Auf dieser Basis des „Gleichgewichts des Schreckens“ konnten beide Seiten in den Folgeverträgen Höchstgrenzen für Interkontinentalraketen festlegen und diese später ebenfalls reduzieren.

Die Gegenposition zu dieser Politik der gegenseitigen Abschreckung formulierten in den USA Colin S. Gray und Keith Payne im Sommer 1980 in ihrem in der außenpolitischen Fachzeitschrift „Foreign Policy“ erschienenen Aufsatz „Victory is possible“. Darin sahen sie nur dann einen Sinn für ein Atomwaffenarsenal der USA, wenn es auch außenpolitisch wirksam einsetzbar war. Dazu bedurfte es aus ihrer Sicht der realistischen Möglichkeit, einen Atomkrieg führen und auch gewinnen zu können. Das wiederum war für sie nur denkbar in einer Kombination von zielgenauen Angriffswaffen, die in einem Erstschlag die politische und militärische Führung der UdSSR beseitigen sollten, und aus einem umfangreichen Raketenabwehrsystem, das möglichst viele sowjetische Interkontinentalraketen eines Gegenschlages abwehren sollte. Die Zahl von zehn Millionen Todesopfer allein in den USA hielten die Autoren als Preis für einen Sieg im Atomkrieg akzeptabel. Opfer in anderen Ländern einschließlich der UdSSR waren für sie keiner Betrachtung wert.

Als Colin S. Gray 1981 vom gerade frisch gewählten US-Präsidenten Ronald Reagan zum Berater ernannt wurde, war das ein Alarmzeichen. Dass die schon im Dezember 1979 zur Stationierung in der Bundesrepublik beschlossenen Pershing-II-Raketen mit einer sehr kurzen Vorwarnzeit von 4,5 Minuten und einer erheblich verbesserter Zielgenauigkeit Merkmale einer Erstschlagfähigkeit im Sinne des Aufsatzes „Victory is possible“ aufwiesen, wurde der Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre schnell bewusst.

Die Vorstellung eines Sieges im Atomkrieg beschleunigte in der Reagan-Administration auch die Phantasien für weitere Rüstungsoptionen bis hin zu einem gigantischen „Star Wars“-Projekt (SDI) zur Kriegführung aus dem Weltraum heraus. Erst die Erkenntnis nach einer Vielzahl von Tests, dass die damals entwickelten Abwehrwaffen letztlich den tödlichen Gegenschlag nicht verhindern konnten, ließ die Illusionen eines Sieges im Atomkrieg platzen, führte zur Einstellung des SDI-Projekts und 1987 im INF-Vertrag zum bisher weitgehendsten Abrüstungsabkommen zur Vernichtung der ganzen Waffenkategorie der landgestützten Atomraketen mittlerer Reichweite (500-5000 Kilometer).

Offenbar hielt auch diese Erkenntnis nur begrenzte Zeit. Mit der Aufkündigung des grundlegenden ABM-Vertrages zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme durch George W. Bush 2002 wurde Raum für neue Erstschlagsphantasien geschaffen. So geht es beim derzeitigen Modernisierungsprogramm für die US-Atomwaffen erneut um noch einmal beträchtlich zielgenauere Atomwaffen als in den 1980er Jahren und um den Aufbau eines möglichst lückenlosen Raketenabwehrschildes, um die USA vor einem atomaren Gegenschlag zu bewahren. Inzwischen wird in der sicherheitspolitischen Debatte in den USA sogar der INF-Vertrag von 1987 infrage gestellt. Eine denkbare Stationierung von zielgenauen US-Atomwaffen in Polen oder den baltischen Staaten würde die Vorwarnzeiten gegenüber der Pershing-II-Stationierung in der Bundesrepublik zwischen 1983 und 1987 noch einmal drastisch reduzieren und die Gefahr einer bewussten oder irrtümlichen Auslösung eines Atomkrieges erheblich verschärfen.

Solange bei einer Regierung Phantasien vorherrschen, ein Atomkrieg sei doch noch zu gewinnen, wird es schwierig sein, Bereitschaft zu Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zu wecken. Erst wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist, gibt es dafür eine realistische Chance.

Doch brauchen wir wirklich eine neue hochdramatische Situation wie in der Kubakrise 1962, damit Vernunft eine Basis bekommt?

Deutschland galt in den Zeiten des Kalten Krieges als ein mögliches Hauptschlachtfeld im Falle eines heißen Krieges und Deutschland hat am meisten von den Erfolgen der Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre profitiert. Jetzt ist die kommende Bundesregierung gefragt, deutliche Zeichen in Richtung Realismus zu senden und Phantasien eines Sieges im Krieg – ob atomar oder konventionell geführt – eine international sichtbare und unmissverständliche Absage zu erteilen. Dazu wird die  Bundesregierung  vor allem einige ihrer Partner in der NATO zur Vernunft bringen müssen.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de