Atomwaffen und internationales Recht

Atomwaffen auf dem Prüfstand des völkerrechtlich garantierten „Right to life“

von Dr. Volkert Ohm
Hintergrund
Hintergrund

Bei der völkerrechtlichen Beurteilung von Atomwaffen stehen zumeist die Grundsätze und Vorschriften des für bewaffnete Konflikte verbindlichen Rechts – allgemein als „Humanitäres Völkerrecht“ bezeichnet – im Vordergrund. Auch der Internationale Gerichthof (IGH) hat in seinem Rechtsgutachten von 1996 das Humanitäre Völkerrecht in das Zentrum seiner Erwägungen gestellt. Es gibt daneben aber eine weitere Quelle des Rechts, deren Bedeutung gleichfalls berücksichtigt und in internationalen Kampagnen auch benannt werden sollte: die Internationalen Menschenrechte.

Um die Bedeutung der Menschenrechte in völkerrechtlicher Hinsicht zu erfassen, werfen wir einen kurzen Blick auf deren Entwicklung: Die Menschenrechte sind keine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. In der Geschichte Europas reichen ihre Wurzeln zurück ins Mittelalter.

Die Menschenrechte haben sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt und ausgeprägt als Rechte der Untertanen gegenüber den sie jeweils beherrschenden Autoritäten. Historiker*innen nennen als erste bedeutsame Urkunde, in welcher Freiheitsrechte von Untertanen verbrieft wurden, die Magna Charta Libertatum, die vom englischen König Johann Ohneland 1215 unterzeichnet wurde. Ein weiteres Dokument für die neuzeitliche Entwicklung der Menschen- und Freiheitsrechte in Europa sind die Zwölf Artikel der Bauernschaft, in denen die Bauern während ihrer Aufstände Anfang des 16. Jahrhundert gegenüber dem Schwäbischen Bund ihre Forderungen formulierten. Nach weiteren Etappen wurden die Menschenrechte schließlich in der von der französischen Nationalversammlung 1789 beschlossenen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ausführlicher formuliert und fanden im Anschluss an die Französische Revolution schrittweise Eingang in die nationalen Verfassungen, z.B. in den Grundrechtskatalog der Frankfurter Reichsverfassung von 1848. Sie wurden damit Bestandteile des nationalen Verfassungsrechtes.

In der Entwicklung des internationalen Rechtes, also des modernen Völkerrechts, spielten die Menschenrechte zunächst nur eine eher untergeordnete Rolle. Erst durch die massenhafte Ermordung von Zivilpersonen („Nichtkombattanten“) während des 2. Weltkrieges und der folgenden Kriege traten die Menschenrechte als eigenständiger Bereich des Völkerrechts in Erscheinung. Dieser Schritt hat eine Bedeutung, die häufig unterschätzt wird:

Der Umgang der im Krieg befindlichen Streitkräfte mit der Zivilbevölkerung war bis dahin eine Angelegenheit, die im Völkerrecht ausschließlich zwischen Staaten als Rechtssubjekten (Trägern von Rechten und Pflichten) geregelt wurde. Einzelne Menschen und Gruppen von Menschen waren lediglich Objekte der im sogenannten „Humanitären Völkerrecht“ enthaltenen Regeln von Rücksichtnahme und Schonung, die mit der Entwicklung von Artillerie- und Massenvernichtungswaffen Ende des 19. Jahrhunderts verhandelt wurden.

Es handelte sich um die (bis heute geltende) Haager Konvention „betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“ in den Fassungen von 1899 und 1907, die eine Reihe von Mitteln zur Kriegführung verbietet. Zu diesen Festlegungen zählt u.a. auch das Verbot, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnungen oder Gebäude anzugreifen.

Hiroshima und Nagasaki
Eine Zivilkammer des Landgerichts Tokio stellte 1963 in einem Urteil mit einer sehr sorgfältigen und schlüssigen Begründung fest, dass die Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki schon nach dem damals (1945) geltenden internationalen Kriegsrecht (Regelungen der Haager Abkommen) rechtswidrig waren. Man darf dieses Urteil daher als einen bemerkenswerten Vorläufer des IGH-Gutachtens von 1996 bezeichnen.

Jenes Urteil trifft in den Urteilsgründen aber auch zwei weitere wichtige Feststellungen, nämlich dass die Kläger*innen des Prozesses (Einwohner*innen, die durch die Atombomben geschädigt wurden) nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen könnten und ferner, dass das Kriegsvölkerrecht „nicht allein auf Empfindungen der Menschlichkeit aufgebaut“ sei; denn „ihm liegen sowohl militärische Notwendigkeit und Effektivität als auch humanitäre Empfindungen zugrunde, es besteht aus einem Ausgleich dieser beiden Faktoren“. (1)

Diese beiden Feststellungen lassen erkennen, welch große völkerrechtliche Errungenschaft die beiden 1966 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Pakte - der Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) und der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) - darstellen: Sie sind die beiden zentralen Säulen der mit ihrem Inkrafttreten (1976) nun auch völkerrechtlich wirkenden Menschenrechte.

Das Individuum als völkerrechtliches Subjekt
Diese Säulen tragen elementare Rechte jedes einzelnen Menschen, der damit vom völkerrechtlichen Objekt zum Subjekt geworden ist. Jede*r Einzelne kann nun also eigene Ansprüche gegenüber einem Staat geltend machen, der seine oder ihre Rechte verletzt – und zwar nicht nur gegenüber dem „eigenen“ Staat, sondern auch gegenüber einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er oder sie nicht besitzt. Dies ist nicht nur eine rechtliche Errungenschaft, sondern auch eine ideelle Basis eines Zusammenschlusses von Menschen und Völkern gegen willkürliche Massenmorde durch kriegführende Staaten bzw. die Vorbereitung von solchen.

Die massenhafte Ermordung von Nichtkombattant*innen war und ist leider bis in die Gegenwart häufig nicht nur ein geduldeter Kollateralschaden eines Krieges, sondern (entgegen dem geltenden Völkerrecht) immer noch Mittel einer Kriegsstrategie, mit der ein gegnerischer Staat zur Kapitulation gezwungen werden soll.
Ich erinnere beispielhaft daran, dass nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki während des Koreakrieges ein erneuter Einsatz von Atombomben durch die USA unmittelbar bevorstand. Während der im Januar 1951 beginnenden nordkoreanischen Offensive verlangte der kommandierende US-General MacArthur den Abwurf von 34 Atombomben auf koreanische und chinesische Städte, um den Vormarsch zu stoppen. US-Präsident Truman war bereit, dessen Forderung nachzugeben und zog seine Zustimmung erst auf Drängen der britischen Regierung zurück.

Das Recht auf Leben
Bei der Prüfung, ob Atomwaffen Menschenrechte verletzen, steht das Recht auf Leben (Right to life) im Zentrum. Art. 6 des UN-Zivilpaktes lautet: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“

Der Schutzbereich dieses Artikels deckt sich mit dem Ziel des Humanitären Völkerrechts, das Leben der an der Kriegsführung nicht unmittelbar beteiligten Zivilbevölkerung zu schonen.
Der Schutz der Menschenrechte geht aber weit darüber hinaus, denn er gilt immer und überall, also auch – aber nicht nur! – in Fällen bewaffneter Konflikte. Er ist daher u.a. auch Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit der Entwicklung und des Testens von Atomwaffen.

Die Tragweite des Right to life-Schutzbereichs wird präzisiert und ausgelegt durch ein von den Vereinten Nationen eingesetztes Kontrollorgan, welches die Umsetzung und Einhaltung des UN-Zivilpaktes und seiner beiden Zusatzprotokolle durch die Vertragsstaaten überwacht: den UN-Menschenrechtsausschuss (engl. Committee on Civil and Political Rights, CCPR). Das CCPR setzt sich aus 18 Sachverständigen zusammen und tagt dreimal jährlich in Genf.

Das CCPR hatte schon vor der Erstellung des IGH-Gutachtens zwei so genannte Allgemeine Bemerkungen (General Comments) zum Recht auf Leben abgegeben. Diese Allgemeinen Bemerkungen gelten als authentische Auslegung der Bestimmungen des UN-Zivilpaktes. Schon 1984 erklärte das CCPR in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14:

„Es ist offensichtlich, dass das Entwerfen, das Testen, die Herstellung, der Besitz und der Einsatz von Atomwaffen zu den größten Bedrohungen für das Recht auf Leben gehören, vor denen die Menschheit heute steht. Diese Bedrohung wird durch die Gefahr verstärkt, dass der tatsächliche Einsatz solcher Waffen nicht nur im Kriegsfall, sondern auch durch menschliche oder mechanische Fehler oder Versagen verursacht werden könnte.“

Mit seiner am 30. Oktober 2018 verabschiedeten weiteren Allgemeinen Bemerkung Nr. 36 bekräftigte und ergänzte das CCPR seine früheren Feststellungen. (2)
In Übereinstimmung mit den vom IGH getroffenen Feststellungen erklärt das CCPR,

  • dass Artikel 6 des Zivilpaktes auch in Situationen bewaffneter Konflikte gilt,
  • dass beide Rechtsbereiche (Zivilpakt und Humanitäres Völkerrecht) sich überschneiden und im Falle eines Krieges komplementär anzuwenden sind,
  • dass der Einsatz von Atomwaffen oder die Drohung mit solchem Einsatz mit der Achtung des Rechts auf Leben unvereinbar sind, weil Atomwaffen wahllos wirken und darauf ausgelegt sind, menschliches Leben und zivile Objekte in katastrophalem Ausmaß zu vernichten.

Das CCPR erklärt darüber hinaus,

  • dass die Vertragsstaaten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um die Verbreitung von Atomwaffen – wie aller anderen Massenvernichtungswaffen - zu stoppen,
  • dass sie es unterlassen müssen, solche Waffen zu entwickeln, zu produzieren, zu testen, zu erwerben, zu lagern, zu verkaufen, zu übertragen und zu nutzen,
  • dass sie alle bestehenden Lagerbestände vernichten und angemessene Schutzmaßnahmen gegen unbeabsichtigte Verwendung treffen müssen,
  • sowie unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle ihren Abrüstungsverpflichtungen nachkommen müssen,
  • und Opfern, deren Recht auf Leben durch die Erprobung oder den Gebrauch von Atomwaffen beeinträchtigt wurde, angemessene Wiedergutmachung leisten müssen.

Diese Feststellungen des CCPR bekräftigen und erweitern die vom IGH getroffenen Feststellungen. Und sie sind verbindlich für alle Staaten, die dem UN-Zivilpakt beigetreten sind. Es gilt, ihnen mehr Gehör zu verschaffen.

Fußnoten
1 Urteil des LG Tokio vom 7.12.1963: https://www.zaoerv.de/24_1964/24_1964_4_b_711_733.pdf
2 Allgemeine Bemerkung Nr. 36 (englische Fassung): https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G19/261/15/PDF/G1926115.pdf

Der Beitrag ist eine erweiterte Fassung eines Beitrags für das IALANA-Webinar „Sind Atomwaffen illegal?“ vom 26.05.2021,  https://youtu.be/7Nec-Dez0Ys

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Dr. Volkert Ohm ist Mitglied im Vorstand von IALANA Deutschland und Mitglied im Bremer Friedensforum.