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Druckkampagnen
Auf dem Weg zur Hegemonie
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Jede soziale Bewegung strebt nach Veränderung. Jede soziale Bewegung steht vor der Frage, wie sie strategisch die von ihr angestrebten sozialen Veränderungen erreichen kann. Das gilt für die Klimabewegung, die Frauenbewegung, die LGBTQ-Bewegung, die Anti-Atombewegung u.v.a.m. und natürlich auch für die Friedensbewegung. Wobei bei Letzterer die Frage ist, ob hier die Kategorie „Bewegung“ richtig gewählt ist, oder nicht eher die Bezeichnung „Netzwerk“ für einen mehr oder minder dichten Zusammenhang verschiedener Friedensorganisationen angemessen wäre.
Aber unabhängig von dieser Frage ist zu klären, wie die Friedensaktivist*innen mit ihren Ideen eine gesellschaftliche Relevanz erreichen können. Im Idealfall haben sie nicht nur Einfluss auf Diskussionen und einzelne Entscheidungen, sondern sie gewinnen sogar die Hegemonie in einer Gesellschaft und können mit ihren Ideen, Vorstellungen und Konzepten ein ganzes Politikfeld, zum Beispiel die Außen- und Sicherheitspolitik, dominieren. Denn genau darum geht es bei Hegemonie - etwa die Außenpolitik umfassend an Menschenrechten auszurichten und die Sicherheitspolitik am friedenslogischen Paradigma.
Anders als vielleicht die aktuelle Klimabewegung in Fragen des Klimas, ist die Friedensbewegung weit davon entfernt, ein realer Faktor bei sicherheitspolitischen Entscheidungen darzustellen (Waffen an die Ukraine, Nato-Osterweiterung, FCAS ja oder nein, Atomwaffen abschaffen, Waffenexporte ja oder nein usw.). Gerade beim letzten Beispiel, den Waffenexporten, wird aktuell deutlich, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen der öffentlichen Meinung (inklusive Meinungsumfragen) und einer öffentlichen Hegemonie in dieser Frage. Während die öffentliche Meinung seit Jahrzehnten mit großer Mehrheit gegen Waffenexporte eingestellt ist, hat das nicht verhindert, dass Deutschland immer einen oberen Platz der größten Exportnationen belegte. Und aktuell wurde das Gesetz, keine Waffen in Kriegsregionen zu liefern, kurzerhand über Bord geworfen, und selbst viele Pazifist*innen vollzogen über Nacht eine 180-Grad-Wendung. „Meinungen“ sind trügerisch und weit davon entfernt, Politik real zu bestimmen. Sie sind bestenfalls ein randständiges Element von Hegemonie.
Auch wenn morgen alle friedenspolitisch Engagierten sich zustimmend hinter einem gedachten Zehnpunkteplan versammeln würden, zum Beispiel für die Herstellung einer friedenslogisch ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik, dürfte dies so gut wie keinen Einfluss auf Entscheidungen der aktuellen Regierung haben. Dazu sind wir einfach zu irrelevant. Dies war zu früheren Zeiten, genauer gesagt in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, tatsächlich etwas anders. Forderungen der Friedensbewegung nach Abzug bestimmter Raketen in Ost und West hatten einen Einfluss auf Entscheidungen der damaligen Regierungen in Washington und Moskau. Die Raketen wurden 1987 abgerüstet und die begründete Vermutung besteht, dass die damalige weltweite Friedensbewegung durchaus ein Faktor war, der diese Entscheidung begünstigt hat. Auch die Antikriegsbewegung in den USA, der späten 1960er und der frühen 1970er Jahren hatte Einfluss auf die Beendigung des Vietnamkrieges. Vermutlich wurde er verkürzt oder konnte zumindest nicht in der Brutalität geführt werden, wie ihn die damaligen Falken im Weißen Haus und im Pentagon anstrebten. Von einer Hegemonie waren die jeweiligen Bewegungen in beiden Fällen dennoch weit entfernt. Nachdem die Raketen abgebaut worden waren, wurde die militärgestützte Außenpolitik weitergeführt. Immerhin sah sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl genötigt, Mitte der 1980er Jahre die Bundeswehr zur „eigentlichen Friedensbewegung“ zu stilisieren, und umgekehrt wurde die echte Friedensbewegung damals von dem CDU-Generalsekretär Heiner Geißler „für Auschwitz verantwortlich“ gemacht. Beide Formulierungen deuteten darauf hin, dass die genannten Politiker bemüht waren, zumindest im Feld der Semantik die Oberhoheit, also eine begrenzte Form von Hegemonie, wiederherzustellen.
Die Frage, was alles notwendig ist, um Hegemonie herzustellen, ist eine Frage nach einer höchst praxisrelevanten Theorie. Wer eine Welt ohne (Atom-) Waffen anstrebt, vergleichbar einer postfossilen, kohlenstofffreien Wirtschaft, verbunden mit dem 1,5 Grad Ziel, braucht genauso eine praxisrelevante Theorie. Ohne an dieser Stelle in die komplexen Konzepte von Antonio Gramsci einzusteigen, der - soweit ersichtlich - die differenzierteste Konzeption von Hegemonie entwickelt hat, (damals übrigens für die kommunistische Arbeiter*innenbewegung), kann hier in Kürze Folgendes postuliert werden:
- Es braucht organisatorische Strukturen und diskursive Plattformen, die eine zielorientierte Ausrichtung und Fokussierung der Forderungen einer Bewegung unterstützen, beziehungsweise vorantreiben. Diskussionen, die nur nebeneinander hertreiben (wie oft unter den Friedensbewegten), ohne zu gemeinsamen Bündnis- und verbindlichen Papieren verdichtet zu werden, mögen spannend sein, sind aber für eine hegemoniale Aufbruch nicht hilfreich.
- Was es braucht, ist zum einen ein Narrativ, eine Erzählung, die konträr steht zur aktuellen sicherheitspolitischen, auf dem „Mythos der Gewalt“ basierenden Erzählung. Die friedenslogische Erzählung, wie sie in den letzten Jahren entwickelt wurde, ist hier hilfreich. Und die Kampagne „Sicherheit neu denken“ knüpft genau an dieser Stelle an, indem der Sicherheitsbegriff neu, das heißt friedenslogisch definiert wird. Leider wird dieser Ansatz in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht, aber selbst innerhalb der Friedensorganisationen, nur begrenzt wahrgenommen.
- Auch braucht es den Aufbau einer sozialen Bewegung in der analogen und in der digitalen Welt. Werkzeuge für den Aufbau sozialer Bewegungen gibt es mittlerweile vielfältig und es gibt konkrete Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit. (1) Für die Friedensorganisation in Deutschland wäre es zunächst wichtig, diese Erfahrungen zu sichten und dann gemeinsam ein „Handlungsprogramm Friedensbewegung 2.0“ anzugehen.
- Ein Werkzeug für den Aufbau sozialer Bewegungen, beziehungsweise für ihre nachhaltige Wirkung, sind mit Sicherheit Kampagnen. Um Einfluss nehmen zu können auf Diskurse und direkt auf Entscheidungen ist es wichtig, nicht nur Informations- und Aufklärungskampagnen durchzuführen, sondern auch Druckkampagnen. Ohne Druckkampagnen, die im Alltag verankert sind, gibt es keine stabilen sozialen Bewegungen, ohne soziale Bewegungen keine Veränderung im öffentlichen Narrativ und ohne Veränderung in Richtung auf eine friedenslogisches Narrativ keine Veränderung der realen Politik. Das Ganze muss zusammengehalten werden, durch gemeinsame diskursive Verständigungen, wie sie in der Vergangenheit z.B. die „friedenspolitischen Richtlinien“ dargestellt haben oder auch das Konzept von „Sicherheit neu denken“ vorgestellt hat.
- Dort, wo soziale Bewegungen eine gewisse Beständigkeit erhalten und nicht über Nacht zusammenfallen, wie etwa die Occupy-Bewegung, die einen medialen Hype erlebte, aber ohne Konzepte für nachhaltige, sprich im Alltag verankerte Aktivitäten besaß, besteht die Chance für Veränderung. Für Nachhaltigkeit und Beständigkeit braucht es Kampagnen mit möglichst vielfältigen Alltagsbezügen und Alltagsaktivitäten. Wir brauchen die Lufthoheit nicht nur über den Stammtischen, die diskursive Präsens bei Sitzungen der Verwaltungsräte großer Firmen, die Präsenz unserer Forderungen in den Partei- und Gewerkschaftsprogrammen und ganz besonders das alltägliche Gespräch am Mittagstisch vieler Familien. Sobald es uns gelungen ist, über die Frage diskutieren zu lassen, ob eine gewaltorientierte oder friedenslogische orientierte Außenpolitik zukünftig hilfreich ist, sind wir in der Nähe von Hegemonie. Dass solche Fragen am Mittagstisch diskutiert werden, kann aber nur gelingen, wenn es um die Frage des praktischen Handelns geht, zum Beispiel Aktionen gegen Bundeswehrwerbung oder wenn der Bruder, die Schwester zur Bundeswehr gehen wollen, wenn eine Demo zum Thema vor Ort stattfindet oder wenn die Frage gestellt wird: Blockieren wir die nächste Rüstungsshow gemeinsam oder wer von der Familie unterschreibt die Petition usw. Es geht also darum, konkrete gewaltfreie Aktionen vorzuschlagen und so polarisierend in die Öffentlichkeit zu tragen, dass viele Menschen darüber diskutieren, ob eine Beteiligung oder Nicht-Beteiligung an diesen Aktionen sinnvoll oder nicht sinnvoll ist. Gewaltfreie Aktionen beständig in die Öffentlichkeit zu tragen, können aber nur Kampagnen leisten und zwar Druckkampagnen.
Zusammengefasst: ohne Druckkampagnen keine beständige soziale Bewegung, ohne beständige nachhaltige soziale Bewegung keine Chance auf irgendeine, irgendwie geartete Hegemonie, ohne hegemonialen Anspruch keine Chance auf Veränderung. Lasst uns für die friedenslogische Hegemonie kämpfen
Anmerkung
1 Zu denken ist an die theoretischen Beiträge von Bill Moyer, Gene Sharp, Jochen Stay und Erica Chenoweth und im praktischen Bereich die Bürgerrechtsbewegung der USA, die Castor-Blockaden, Otpor und Extinction Rebellion, um nur einige zu nennen.
Ulrich Wohland, freier Mitarbeiter der „Werkstatt für Gewaltfreie Aktion“, Organizer und Campaigner. Gemeinsam mit der Kurve Wustrow bietet er die Kampagnenqualifikation CampaPeace an. Die 6. Staffel beginnt im März 2023. Vgl. www.wfga.de