Auf der Suche nach einer Gesellschaft, in der alle Platz haben

von Franz J. Hinkelammert
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In den 50er und 60er Jahren war man davon überzeugt, daß unsere Erste Welt der Dritten Welt die Zukunft zeigt, auf die sie sich zubewegt. Heute allerdings können wir das Gegenteil aufzeigen: Die Dritte Welt zeigt der Ersten Welt, was deren Zukunft ist. Das, was die westliche Welt in den 70er und 80er Jahren durch Unterstützung der Diktaturen der Nationalen Sicherheit und durch strukturelle Anpassung mittels des Weltwährungsfonds in der Dritten Welt durchgesetzt haben, entpuppt sich heute als unsere eigene Zukunft: Zerstörung des Sozialstaats und zunehmende Verarmung der Bevölkerung; Unterbeschäftigung und Flexibilisierung der Arbeitsverträge.

1. These: Ein Befreiungsprojekt heute muß das Projekt einer Gesellschaft sein, in der alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird.
Als Journalisten die aufständigen Zapatistas in der mexikanischen Provinz Chiapas danach fragten, welches Projekt einer neuen Gesellschaft sie sich für Mexiko vorstellten, antworteten sie: "Una sociedad en la cual caben todos." - "Eine Gesellschaft, in der alle Platz haben."

Ein solches Projekt impliziert durchaus eine universale Ethik. Es schreibt aber keine universalistischen Prinzipien vor. Weder universalistische allgemeine Normen noch universalistisch geltende determinierte Produktionsverhältnisse werden vorgeschrieben.

Daß sich eine politische Befreiungsbewegung in dieser Weise definiert, ist durchaus neu. Vorherige Bewegungen erklärten sich durch universalistische Prinzipien oder Produktionsverhältnisse. Insbesondere sozialistische Bewegungen bezeichneten ihr Projekt durch sogenannte "sozialistische Produktionsverhältnisse", unter denen eine bestimmte, vor allem auf öffentlichem Eigentum begründete, fest definierte Gesellschaftsform verstanden wurde. Hierin gerade waren sie bürgerlichen Bewegungen ähnlich, die ihr Projekt einer bürgerlichen Gesellschaft durch das universalistische Prinzip des Privateigentums und des Marktes bestimmen. Das gesellschaftliche Projekt ist jeweils gekennzeichnet durch als universalistisch gültig behauptete Ordnungsprinzipien. Diese werden in den entsprechenden Gesellschaftstheorien dann auch prinzipiell abgeleitet oder deduziert, etwa aus der Autonomie des Individuums oder aus seiner a priori gegebenen Sozialität. Solche universalistischen Prinzipien gebärden sich daher als "ewige" Prinzipien. In ihrem Namen erklärt man das "Ende der Geschichte" und schreibt historische Gesetze vor, die dieses Ende der Geschichte notwendig determinieren. Den letzten Fall dieser Art historischer Gesetze, die das Ende der Geschichte anvisieren, erleben wir heute in dem Fest, mit dem die Globalisierung der Welt durch den Markt und seine ewigen Prinzipien gefeiert wird.

Wenn heute in Lateinamerika ein Gesellschaftsprojekt entsteht, das - wie die Zapatisten formulieren - keine universalistischen und ewigen Gesellschaftsprinzipien begründen will, so handelt es sich im Kontext der dortigen politischen Bewegungen tatsächlich um etwas Neues. Eine Gesellschaft, in der alle Platz haben, stellt eine Forderung dar, die in ihrer Orientierung eher negativ ist. Sie behauptet nicht, zu wissen, welche Gesellschaftsform die richtige ist. Sie behauptet auch nicht, zu wissen, wie Menschen glücklich werden. Wenn Markt oder Plan Paradiese versprechen, verspricht sie kein Paradies. Den universalistischen Gesellschaftsprinzipien gegenüber stellt die Forderung nach einer Gesellschaft, in der alle Platz haben, eher ein universal gültiges Kriterium über die Gültigkeit solcher universalistischen Gesellschaftsprinzipien dar. Diese Forderung beruht vor allem darauf, die Utopisierung des totalen Marktes zu kritisieren; sie enthält jedoch gleichzeitig eine Kritik an vergleichbaren Utopisierungen, die der historische Sozialismus durchführte.

Die universalistischen Gesellschaftsprinzipien - Markt und Privateigentum oder auch Plan und gesellschaftliches Eigentum - werden durch die Forderung nach einer Gesellschaft, in der alle Platz haben, auf ihre Gültigkeit überprüft. Das aber impliziert die Bestreitung ihrer universalistischen, aprioristischen Gültigkeit. Das Kriterium ihrer Gültigkeit kann daher nicht ein prinzipielles sein. Aber ihre Gültigkeit wird keineswegs prinzipiell bestritten. Es wird vielmehr ein Gültigkeitsrahmen umschrieben. Die universalistischen Gesellschaftsprinzipien sind gültig oder können Gültigkeit beanspruchen, soweit sie mit einer Gesellschaft vereinbar sind, in der alle Platz haben. Sie verlieren ihre Gültigkeit, wenn ihre Durchsetzung dazu führt, daß Teile der Mitgliedschaft der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Der Ausschluß von Teilen der Gesellschaft aber liegt im Wesen von universalistischen Gesellschaftsprinzipien, sofern sie totalisiert werden. Folglich können sie immer nur eine relative Geltung haben.

Dies impliziert ebenfalls ein neues Verhältnis zur politischen Praxis. Da die Zapatisten kein positives Projekt haben, das neue Gesellschaftsprinzipien vertritt, in deren Namen man die Regierungsmacht zu ihrer Durchsetzung verlangen könnte, verstehen sie sich als Widerstand. Der Subcomandante Marcos hat - bisher jedenfalls auch glaubwürdig - erklärt, daß die Zapatisten nicht die Regierungsmacht wollen. Was sie beanspruchen ist, eine Macht des Widerstands zu sein, die die Regierung zwingt, die Produktionsverhältnisse jeweils so zu gestalten, daß eine Gesellschaft entsteht, in der jede und jeder Platz hat. Dies impliziert, die Gesellschaftsprinzipien stets soweit zu relativieren, daß eine solche Flexibilisierung der Produktionsverhältnisse möglich ist. Es wird nicht mehr das Ende des Marktes oder des Staates etc. versprochen, sondern deren Umgestaltung, um sie mit einer Gesellschaft verträglich zu machen, in der alle Platz haben.

Damit tritt an die Stelle von universalistischen Gesellschaftsprinzipien ein universales Kriterium über die Relativierung von Gesellschaftsprinzipien, die im Namen von Prinzipien allgemeine Gültigkeit verlangen. Dieses universale Kriterium ist durchaus das Kriterium eines universalen Humanismus. Aber es impliziert nicht die Behauptung, zu wissen, was die beste Form ist, in der die Menschen zu leben haben. Ganz gleich, welche materialen Vorstellungen sie über ein gutes Leben haben, so unterliegen sie doch dem Kriterium, daß das gute Leben des einen für den anderen nicht die Unmöglichkeit zu leben bedeuten darf. Es handelt sich also nicht nur um ein universales Kriterium für Gesellschaftsprinzipien, sondern gleichzeitig um ein universales Kriterium für die Vorstellungen dessen, was ein gutes Leben ist. Nicht die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen ist das Ziel, sondern die Flexibilisierung der Produktionsverhältnisse, damit die Arbeitsbedingungen vermenschlicht werden können.

Es handelt sich daher um einen kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft, nämlich einen kategorischen Imperativ des konkreten Handelns. Aber er ist ganz anders als der kantsche, der ja gerade universalistische Normen und ein universalistisches Gesellschaftsprinzip - nämlich das bürgerliche - rein prinzipiell zu begründen unternimmt und daher eher ein kategorischer Imperativ des abstrakten Handelns ist.

2. These: Die Ausschlußlogik, der die moderne Gesellschaft unterliegt, kann als Ergebnis der Totalisierung universalistischer Gesellschaftsprinzipien, im Kapitalismus gerade der Marktgesetze, betrachtet werden.
Wenn ich hier von Totalisierung spreche, so ist das nicht das Ergebnis meiner persönlichen Willkür. Tatsächlich präsentiert sich das kapitalistische Weltsystem heute als total. Henri Lepage, ein französischer Journalist, der lange Zeit der Hauptpropagandist des Neoliberalismus in Frankreich war, sprach vom "totalen Markt". Heute spricht Milton Friedman vom "totalen Kapitalismus".

Der "totale Kapitalismus" stellt sich als Globalisierung und Homogenisierung der Welt dar, folglich als weltweite Totalisierung des Marktes und der Privatisierung aller Staatsfunktionen im Namen des Mythos vom Privateigentum.

Als ich vor einigen Jahren in einem Flugzeug von Santiago de Chile nach Pánama flog, saß ich neben einem chilenischen Unternehmer. Wir kamen ins Gespräch, und wir sprachen über die Folgen der strukturellen Anpassungen des Weltwährungsfonds, über die zunehmende Naturzerstörung und die Probleme des Bevölkerungsausschlusses und der Verarmung eines größer werdenden Teils der Bevölkerung. Er antwortete mir: "Das ist alles wohl richtig. Aber Sie können doch nicht bezweifeln, daß die wirtschaftliche Effizienz und Rationalität zugenommen haben."

Diese Worte enthüllen das Problem gegenwärtiger wirtschaftlicher Rationalität, und zwar nicht nur, was die Situation in Lateinamerika betrifft. Wir setzen einen Zerstörungsprozeß in Gang, der die Grundlagen unseres Lebens untergräbt, feiern jedoch die Effizienz und Rationalität, mit der er abläuft. Konsequenterweise führen wir nicht einmal eine ernsthafte Diskussion über die Grundlagen dieser Effizienz. Wir sind in einem Wettbewerb, indem jeder den Ast absägt, auf dem der jeweils andere sitzt.

Der Effizienteste ist derjenige, der allein übrigbleibt und daher als letzter in den Abgrund fällt.

Obwohl er vom Gegenteil überzeugt ist, sägt er den Ast ab, auf dem er selbst sitzt.

Ist eine solche Effizienz effizient? Ist eine solche Rationalität rational?

Das Innere unserer Häuser wird immer sauberer, aber die Umgebung wird immer schmutziger. Die Unternehmen erreichen eine immer größere Produktivität, wenn wir diese in Proportion zur Zahl der tatsächlich beschäftigten Arbeiter messen. Messen wir aber das Produkt in Proportion zur Zahl der verfügbaren Arbeiter und schließen darin die ausgeschlossene Bevölkerung ein, und bewerten wir außerdem die externen Kosten der Unternehmenstätigkeiten, so sinkt möglicherweise heute die Arbeitsproduktivität, obwohl wir positive Wachstumsraten messen. Das ist so, wie der Planet immer schmutziger, das Innere unserer Häuser aber immer sauberer wird: der Gesamtschmutz nimmt zu. Was lange Zeit Fortschritt war und heute noch zu sein scheint, ist dabei, sich in eine reine Bewegung ins Leere zu verwandeln. Im Namen der Effizienz und des Wettbewerbs kaufen wir immer billiger ein, merken aber langsam, daß billig einkaufen die teuerste Art des Einkaufens sein kann. Um billig einzukaufen, veranstalten wir den Ausverkauf von Mensch und Natur. Dadurch aber verursachen wir Kosten, die alle Ersparnisse übertreffen, die wir dadurch machen, daß wir billiger einkaufen.

Es ist dies das Problem des Zweck-Mittel-Kalküls. Effizienz wird damit ausschließlich als eine Beziehung von partikulären Mitteln zu partikulären Zwecken gesehen. Ob es rational ist, einen Ast abzusägen, hängt dann ausschließlich von den Antworten ab auf die Fragen nach der Schärfe des Sägemessers, der korrekten Bedienung und dem besten Sägewinkel etc. Ob man auf dem Ast sitzt, den man absägt, hat folglich mit Rationalität nichts zu tun. Das gilt als eine Wertfrage, zu der die Wissenschaft nicht Stellung nehmen kann. Daraus folgt die Entstehung einer Marktethik, die auf rein prozedurale Forderungen reduziert ist, wie etwa die Eigentumsgarantie und die Forderung nach Erfüllung von Verträgen. Rationalität als Zweck-Mittel-Rationalität wird dann zum ethischen Rigorismus in bezug auf diese Marktethik. Rationalität hat dann mit den Folgen einer Handlung nichts mehr zu tun. Hayek, einer der wichtigsten Ideologen des Neoliberalismus, kann daher Gerechtigkeit wie folgt definieren:

Damit wird das Problem der Irrationalität des Rationalisierten sichtbar. Die Rationalisierung selbst wird zur Quelle der Irrationalität. Das am Geld- und Gewinnkalkül orientierte Unternehmen rationalisiert, aber diese Rationalisierung selbst ist der Ursprung eines irrationalen Zerstörungsprozesses von Mensch und Natur.

Eine alte Anekdote mag diesen Wahnsinn erläutern. Die Bevölkerung einer Oase trank vom Wasser, das von einem Zauberer vergiftet worden war. Alle wurden verrückt. Der König allerdings war gerade auf Reisen. Als er zurückkam, wollte man ihn absetzen, weil er angeblich verrückt geworden war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auch vom vergifteten Wasser zu trinken und selbst verrückt zu werden. Die Bevölkerung feierte ihn daraufhin, weil er zur Vernunft gekommen sei.

Kindelberger, ein Wirtschaftswissenschaftler aus den USA, faßt das Ergebnis seiner Analyse von Börsenpaniken zusammen und kommt zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: "Wenn alle verrückt werden, ist es das Vernünftige, auch verrückt zu werden."(1)

Die Herrschaft des Zweck-Mittel-Kalküls in der Form der Totalisierung der entsprechenden Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit führt zur Globalisierung der Welt als formalisiertem Zweck-Mittel-Kreislauf. Was unter einem Gesichtspunkt Zweck ist, ist unter einem anderen Mittel. Die Mittelrationalisierung führt zur formal-rationalen Bestimmung der Zwecke. Wird dieser Kreislauf totalisiert und globalisiert, verwandeln sich Mensch und Natur in reine Anhängsel einer Bewegung ohne jedes Ziel. Die Irrationalität des Rationalisierten verwandelt sie in Objekte der Zerstörung. Der Zerstörungsprozeß verwandelt sich in etwas, wofür anscheinend nur die deutsche Sprache einen treffenden Ausdruck hat: den Sachzwang.

3. These: Die Effizienz, die dem Konkurrenzmechanismus unterliegt, schafft Sachzwänge, die den Zerstörungsmechanismus absolut machen.
Der Konkurrenzmechanismus ist zerstörerisch, weil er die Lebensgrundlagen zerstört. Zur Allmacht geworden, zwingt er sich auf, denn keiner kann mehr leben, ohne sich in ihn einzugliedern und daher an der Zerstörung der Lebensgrundlagen teilzunehmen. In Lateinamerika gibt es dazu ein kennzeichnendes, aber auch böses Wort: "Schlimm ist es, von Multis ausgebeutet zu werden. Schlimmer ist es, nicht von ihnen ausgebeutet zu werden." Die Arbeitskraft, die zur Ware wurde, wurde zu einer Ware, die immer schlechter zu verkaufen ist und die daher keine Verkaufsbedingungen mehr stellen kann.

Heute ist dieser Konkurrenzmechanismus im Namen der Effizienz allmächtig geworden. Der Klassenkampf ist nicht verschwunden, sondern gewonnen worden; aber er wurde von oben gewonnen, so wie dies schon im historischen Sozialismus geschehen war. Es ist eine Macht entstanden, die auf keinen mehr irgendwie relevanten Widerstand zu stoßen scheint.

Denn eine Macht, die allen Widerstand zerschlägt, fällt in die Ohnmacht der Allmacht. Sie sägt den Ast ab, auf dem alle sitzen, und hat keine Macht, es nicht zu tun. Diese Allmacht ist die Fähigkeit, den Zweckmittel-Kalkül über jede Rationalität der Reproduktion des Lebens zu stellen. Es ist ein System entstanden, das hilflos seiner eigenen Allmacht ausgeliefert ist. Es vermag seine eigene Richtung nicht mehr zu bestimmen. Die herrschende Klasse herrscht nicht, sondern leitet ihre Macht aus ihrer Unterwerfung unter die Sachzwänge ab. Sie glaubt sogar, demütig zu sein.

Eine deutsche Zeitschrift schildert sehr plastisch diese Ohnmacht der Allmacht. Unter dem Titel "Der Globus muß warten" schreibt sie:

"Als Klaus Töpfer, der damalige Umweltminister, im Jahre 1990 eine Energiesteuer in Form einer nationalen Kohlendioxid-Abgabe vorschlug, wurde ihm entgegengehalten, ein deutscher Alleingang würde der nationalen Ökonomie schaden, weil das den Konkurrenten Wettbewerbsvorteile verschaffen könnte. Darum versuchte Töpfer, in der Europäischen Union eine einheitliche CO2-Energiesteuer durchzusetzen. Dort schlug ihm 1992 wiederum das gleiche Argument entgegen: Wenn die EU sich energiebesteuert, dann hätten die USA und Japan einen Wettbewerbsvorteil. Die wiederum wollten nur mitmachen, wenn auch die asiatischen Schwellenländer sich der Maßnahme anschlössen. Herauskam, was immer herauskommt, wenn alle mitmachen müssen: Nichts." (2) So entsteht der Jurassic Park, dessen Dinosaurier Mercedes, Shell, IBM und Toyota heißen. Sie sind nicht in ihrem Park geblieben, sondern sind dabei, die ganze Welt zu zerstampfen. Diese Dinosaurier können sich nicht begrenzen, gerade weil sie die absolute Macht über die Erde haben. Sie sind gefangen in den von ihnen selbst geschaffenen Sachzwängen.

Die absolute Macht wird zu einem Leerlauf der Macht, der alles zerstört. Sie ist eine Maschine, die im Leerlauf rast und nichts bewegt außer sich selbst. Dies ist der heute sich aufzwingende Toyotismus. Es ist wie beim Gymnastikfahrrad, das hohe Geschwindigkeiten fährt, aber sich gar nicht bewegt. Es handelt sich um eine perfekte Einschulung in den Wahnsinn der leerlaufenden, rasenden Bewegung.

Kindleberger, den wir bereits vorher zitiert hatten, faßt treffend die Logik des Selbstmords zusammen, eine Logik, die aus den Sachzwängen des leerlaufenden, totalisierten Wettbewerbs erwächst:

"Indem jeder Marktteilnehmer sich selbst zu retten versucht, trägt er zum Ruin aller bei."(3)

Trägt er aber zum Ruin aller bei, verursacht er zu seinen eigenen Ruin. Richtet er alle zugrunde, richtet er sich selbst zugrunde. Mord wird so zum Selbstmord. Das ist die Logik des kollektiven Selbstmords, die im totalisierten Wettbewerb impliziert ist.

Wollen wir diese Todesfahrt stoppen, müssen wir über die Sachzwänge sprechen. Es geht dann um die Frage, wie wir uns von den Sachzwängen befreien können und in welchem Grad dies möglich ist. Denn die Irrationalität des Rationalisierten ergibt sich aus diesen Sachzwängen. Die Frage aber läßt sich nicht auf "Theologie", "Philosophie" oder "Moral" reduzieren. Sie ist ebenso eine Frage für die Erfahrungswissenschaften, die sich heute fast vollständig diesem durchaus erfahrungswissenschaftlichen Problem entziehen.

Gerade diese Verweigerung aber führt zur Utopisierung der Erfahrungswissenschaften im Namen des totalen Marktes. Im Namen der Rationalisierung wird die Verwirklichung aller utopischen Inhalte versprochen, so daß der Verzicht auf die Kritik an der Irrationalität des Rationalisierten als die Garantie für die Verwirklichung dieser utopischen Inhalte gefordert wird. Die Rationalisierung verspricht Himmel, die die Höllen verdecken, welche die Irrationalität eben dieser Rationalisierung hervorbringt. Heute gilt vielmehr: Aller Westen ist wilder Westen.

4. These: Die Irrationalität des Rationalisierten kann nur überwunden werden, wenn es gelingt, die unsere Wirtschaft beherrschenden Sachzwänge durch solidarisches Handeln aufzulösen.
Wir brauchen also eine rationale Antwort auf die Irrationalität des Rationalisierten. Die Vernunft dieser Antwort kann aber nicht ein Argument der Zweck-Mittel-Rationalität sein. Es geht ja darum, in den daraus entstandenen Jurassic Park einzugreifen, damit nicht der Ast abgesägt wird, auf dem wir alle sitzen.

In einer solchen rationalen Argumentation kann daher der Gegner nicht der Skeptiker sein, sondern nur der Selbstmörder. Mit dem erfolgreichen Selbstmörder aber kann man nicht mehr argumentieren. Er ist tot. Der Selbstmörder hingegen, der noch nicht den Selbstmord durchgeführt hat, kann als Zyniker des Zweck-Mittel-Kreislaufs und seiner Sachzwänge argumentieren. Als Zyniker leugnet er die Irrationalität des Rationalisierten, denn diese Leugnung ist die Bedingung dafür, den Prozeß als leerlaufende, aber alles zerstörende Bewegung weiterführen zu können.

Er nimmt den kollektiven Selbstmord der Menschheit in Kauf, glaubt aber, ihm als Individuum in seiner Lebenszeit entkommen zu können.

Möglicherweise ist dieses Kalkül sogar richtig, soweit sich der Zyniker als isoliertes Individuum auffaßt. Mit ihm zu argumentieren, ist die Schwierigkeit.

Das Argument könnte sein, daß Mord Selbstmord ist. Das aber ist gerade kein Argument dem gegenüber, der den Selbstmord hinzunehmen entschlossen ist. Letztlich also geht es um die Option, keinen Selbstmord zu begehen. Diese Option aber ist keine ethische Option. Es ist vielmehr die Option, die alle Ethik erst begründet. Sie ist auch kein Werturteil, sondern die Bedingung der Möglichkeit, Werturteile zu haben. Diese Option umschreibt den Rahmen aller Variationsmöglichkeiten der Ethik und der Werturteile, und ist gerade deshalb keine ethische Option und kein Werturteil.

Daher gilt, daß für den, der den Selbstmord als Möglichkeit vertritt, alles erlaubt ist. Wenn Dostojewsky sagt, daß für den, der nicht an Gott glaubt, alles erlaubt ist, so ist dies offensichtlich in dieser Form nicht richtig. So enthält der christliche Fundamentalismus, wie er in den USA entstand und heute in aller Welt verkündet wird, ein Gottesbild, das unsere heutige Todesfahrt der Nibelungen vorwärtstreibt und als Apokalypse vorstellt. Es handelt sich um Gott als Götzen, in dessen Namen gerade alles erlaubt ist, einschließlich des kollektiven Selbstmords der Menschheit.

Man glaubt an Gott, und im Namen dieses Glaubens gilt alles als erlaubt. Ein Gott des Lebens aber, der nicht Götze ist, kann nur als Überwindung dieser Mystik des kollektiven Selbstmords, die im Namen Gottes vorgeht, gedacht und geglaubt werden.

Damit aber kommen wir auf das zurück, was wir am Anfang gesagt hatten. Das Problem ist nur lösbar in einer Gesellschaft, in der alle Platz haben. Dies schließt die Natur ein, denn für die Gesellschaft selbst gibt es nur Platz, wenn es eine Natur gibt, in der sie Platz hat. Aber es ist nicht die Rationalität des Zweck-Mittel-Kalküls, die sie schaffen kann. Sie kann nur als Antwort auf die Irrationalität entstehen, die vom Zweck-Mittel-Kalkül ausgeht. Eine Rationalität, die der Irrationalität des Rationalisierten widerspricht, kann daher nur eine Rationalität des Lebens aller sein, die auf der Solidarität aller Menschen gründet.

In diesem Sinne ist die Solidarität das Medium, um Sachzwänge aufzulösen. Die Sachzwänge, die uns heute einen Zerstörungsprozeß von Mensch und Natur aufzwingen, sind keine unabänderlichen Naturgesetze. Sie entstehen aus dem intentionalen Handeln als seine nicht-intentionalen Effekte und folglich hinter dem Rücken der Handelnden, die ihr Handeln ausschließlich einem Zweck-Mittel-Kalkül unterstellen. Je mehr das Handeln sich einem totalisierten Zweck-Mittel-Kalkül unterstellt, indem es immer ausschließlicher auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet wird, um so mehr beherrschen uns die Sachzwänge, die unweigerlich einen Zerstörungsprozeß von Mensch und Natur zur Folge haben.

Diese Sachzwänge zeigen die Abwesenheit von Solidarität an. Je unmöglicher solidarisches Handeln gemacht wird, desto mehr drängen sich die Sachzwänge auf. Damit verwandelt sich die Allmacht derer, die die Macht haben, alles solidarische Handeln zu unterbinden, in die Ohnmacht der Allmacht. Sie müssen sich jetzt bedingungslos den Sachzwängen unterwerfen.

Die bedingungslose Unterwerfung unter die Sachzwänge hingegen ist nicht etwa Realismus, sondern der Verzicht auf Realismus; darin zeigt sich seine enge Verknüpfung mit der Hinnahme des kollektiven Selbstmords der Menschheit.

Eine Gesellschaft schaffen, in der alle Platz haben, heißt daher, die Sachzwänge aufzulösen, die eine Gesellschaft erzwingen, in der schließlich niemand mehr Platz hat. So wie die Gesellschaft der totalisierten Sachzwänge auf der Marktethik - Eigentumsgarantie und Erfüllung von Verträgen -, so beruht die Auflösung der Sachzwänge auf einer Ethik der Solidarität. Eine Gesellschaft, in der alle Platz haben, kann nur entstehen, wenn uns zwischen diesen beiden Polen eine solche Vermittlung gelingt, als deren Ergebnis die Marktethik der Ethik der Solidarität untergeordnet wird. Solidarität wird zu einer Bedingung für das Überleben, damit aber ebenfalls zu einer Bedingung rationalen Handelns.

Selbst für den extremen Fall, daß keine Alternative erscheint, ist dies kein Grund, in den mystischen Hymnus vom kollektiven Selbstmord einzustimmen. Wir müssen uns ihm auch dann widersetzen, wenn am Horizont keine Lösung sichtbar wird. Nie ist es unmöglich, etwas zu tun. Und es ist besser, etwas zu tun als gar nichts zu tun.

Anmerkungen:

1 Kindleberger zitiert einen Börsenspekulanten, der
  sagt: "When the rest of the world are mad, we must
  imitate them in some measure." Kindleberger,
  Charles P.: Manias, Panics and Crashes: A History
  of Financial Crises. Basic Books, New York, 1989.
  S. 134, S. 33, 38, 45.

2 Wochenpost vom 5.1.1995.

3 A.a.O. S.178/179.

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Franz J. Hinkelammert, geboren 1931 in Emsdetten/Westfalen, Studium der Wirtschaftswissenschaften, 1960 Promotion zum Dr.rer.pol. an der FU Berlin, bis 1963 Forschungsassistent am Osteuropainstitut der FU Berlin, 1963-1973 Professor an der Universidad Catolica de Chile, nach dem Militärputsch drei Jahre als Gastprofessor am Lateinamerikainstitut der FU Berlin, seit 1976 Professor für Ökonomie an den Universitäten von Tegucigalpa/Honduras und Herida/Costa Rica, seit 1976 Leiter des Ökumenischen Forschungsinstituts DEI in San José/Costa Rica. Bisher in deutscher Sprache erschienene Bücher: "Die ideologischen Waffen des Todes" (1985), "Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens" (1989), "Die Kritik der utopischen Vernunft" (1994).