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Aufarbeitung unserer Geschichte als Voraussetzung für Aussöhnung
von"Am 1. September vor 50 Jahren begann der zweite Weltkrieg", so lesen wir jetzt öfter. Begann er einfach als ein Naturereignis - wie ein Tag oder ein neues Jahr? Warum lesen wir so selten: Am 1. September begannen wir Deutschen den zweiten Weltkrieg? Eine solche Aussage wäre nicht nur historisch korrekt. Mit ihr würden wir auch unsere Fähigkeit zum Ausdruck bringen, unsere eigene Geschichte anzunehmen. Das aber ist die Voraussetzung für ihre Verarbeitung als für unsere Zukunft bedeutungsvolle Erfahrung.
Ich arbeite im Fachbeirat einer politischen Stiftung. Mehrere Forschungsaufträge zur faschistischen Juden- und Kommunistenverfolgung liegen uns vor. Ich werfe die Frage auf: Heißt Aufarbeitung unserer Geschichte nicht vor allem auch, das Verhalten der Täter, also der faschistischen Gesellschaft zu erforschen? Das eine ist nicht gegen das andere auszuspielen oder gar gegenüber dem anderen zu vernachlässigen. Aber lassen wir uns aus, also die Tätergesellschaft und die Individuen, die sie bilden, wie sollen wir dann den Weg zum 'Wiedergutmachen', zum besser machen und zu einer Politik der Aussöhnung finden?
Die Aufarbeitung unserer Geschichte hat nur zum kleinen Teil eine wissenschaftliche Dimension. Sicher gibt es noch viele weiße Flecke, die historische Forschung ausfüllen sollte. Das eigentliche Problem liegt in der Aufarbeitung der Geschichte durch unsere Gesellschaft. Die Menschen müssen sie jeder für sich und jede Gruppe miteinander aufarbeiten. Das hat vor allem psychosoziale Dimensionen. Wie sehr wirken hier Berührungsängste, Wünsche zu verdrängen und Geschichte nicht hochkommen zu lassen! Könnte nicht der eigene Familienzusammenhang darüber zerreißen? Wäre nicht die schlichte Identität des guten, demokratischen, freiheitlich und ach so (selbst)gerechten Deutschen gefährdet?
Zu Recht ist unsere Geschichte angstbesetzt. Deshalb finden Neo-Nazis und alte Rechte immer noch so viel klammheimliche Zustimmung, wenn sie die Greueltaten gegenüber Juden, anderen Minderheiten, Kommunisten, Sozialisten, den osteuropäischen und den sowjetischen Völkern schlicht leugnen oder verharmlosen. Deshalb findet sich landauf, landab soviel Zustimmung, wenn Leute den nationalsozialistischen Terror gegen den Terror der Stalinisten, Kolonialisten oder revolutionärer Bewegungen aufrechnen, so als könne man jenen Terror von dem unserer Gesellschaft abziehen und uns dadurch entlasten. Natürlich müssen auch andere Völker ihre Geschichte aufarbeiten - in der Sowjetunion und in Osteuropa beginnen gerade jetzt solche höchst eindrucksvollen sozialen Lernprozesse - aber das kann doch uns nie und nimmer entheben, uns der eigenen Vergangenheit zuzuwenden. Da nützt auch nicht die Kohl'sche Formel von 'der Gnade der späten Geburt'. Auch die jungen Menschen können nicht aus der Gesellschaft aussteigen, die Vergangenheit per Sozialisation über Generationen weiterreicht.
Aufarbeitung von Geschichte im politisch-gesellschaftlichen Sinne besteht aus drei großen Schritten:
- Vergangenheit zur Kenntnis nehmen und sich erinnern, und zwar nicht nur bezogen auf den nationalen Rahmen, sondern auch auf den regionalen, lokalen (Spurensicherung) und familiären, damit wir selbst nicht draußen vor bleiben. Wenn wir dies tun, können wir den großen Lügen entgegentreten, durch die machtbesessene, autoritäre und menschenrechtsfeindliche Ideologien und Politiken gerechtfertigt werden sollen.
- Wir müssen materiell und psychisch wiedergutmachen, wie beschränkt auch immer dies nur möglich ist. Dabei müssen wir die Teilung der Opfer in gute und schlechte überwinden. Erst wenn wir z. B. auch Kommunisten, Roma und Sinti in unser Bemühen um Wiedergutmachung einbeziehen, akzeptieren wir unsere Vergangenheit. Sonst setzen wir nur das alte gespaltene Weltbild, die manichäische Aufteilung nach Gut und Böse fort, bei der wir selbstverständlich sowohl als Faschisten wie als Antikommunisten nach 1945 immer zu den Guten rechneten.
- Vergangenheit aufarbeiten heißt sich verändern. Was denn sonst? Es geht doch nicht um eine Bildungsveranstaltung! Das Ziel der Veränderung ist es, wieder 'gute Politik' zu machen, die sich nach menschenrechtlichen Kriterien richtet, der Demokratisierung als Ausdruck sozialen Lernens verpflichtet ist und nach Aussöhnung durch Kooperation zum allgemeinen Nutzen strebt. Davon sind wir Westdeutschen noch ziemlich weit entfernt, auch und gerade in einer Zeit, in der viele Gorbatschow zujubeln aber gleichzeitig 'Ausländer raus' fordern.
Wer den 1. September nur als Gedenktag begeht, hat nicht begriffen, daß die Aufarbeitung unserer Vergangenheit nur durch eine solche andere Politik hier und heute, nach innen und nach außen möglich ist.