Aufarbeitung unserer Geschichte als Voraussetzung für Aussöhnung

von Andreas Buro

"Am 1. September vor 50 Jahren begann der zweite Weltkrieg", so lesen wir jetzt öfter. Begann er einfach als ein Naturereignis - wie ein Tag oder ein neues Jahr? Warum lesen wir so selten: Am 1. September begannen wir Deutschen den zwei­ten Weltkrieg? Eine solche Aussage wäre nicht nur historisch korrekt. Mit ihr würden wir auch unsere Fähigkeit zum Ausdruck bringen, unsere eigene Ge­schichte anzunehmen. Das aber ist die Voraussetzung für ihre Verarbeitung als für unsere Zukunft bedeutungsvolle Erfahrung.

Ich arbeite im Fachbeirat einer politi­schen Stiftung. Mehrere Forschungsaufträge zur faschistischen Juden- und Kommunistenverfolgung liegen uns vor. Ich werfe die Frage auf: Heißt Aufarbeitung unserer Geschichte nicht vor allem auch, das Verhalten der Tä­ter, also der faschistischen Gesellschaft zu erforschen? Das eine ist nicht gegen das andere auszuspielen oder gar ge­genüber dem anderen zu vernachlässi­gen. Aber lassen wir uns aus, also die Tätergesellschaft und die Individuen, die sie bilden, wie sollen wir dann den Weg zum 'Wiedergutmachen', zum besser machen und zu einer Politik der Aussöhnung finden?

Die Aufarbeitung unserer Geschichte hat nur zum kleinen Teil eine wissenschaftliche Dimension. Sicher gibt es noch viele weiße Flecke, die histori­sche Forschung ausfüllen sollte. Das eigentliche Problem liegt in der Auf­arbeitung der Geschichte durch unsere Gesellschaft. Die Menschen müssen sie jeder für sich und jede Gruppe mit­einander aufarbeiten. Das hat vor al­lem psychosoziale Dimensionen. Wie sehr wirken hier Berührungsängste, Wünsche zu verdrängen und Ge­schichte nicht hochkommen zu lassen! Könnte nicht der eigene Familienzu­sammenhang darüber zerreißen? Wäre nicht die schlichte Identität des guten, demokratischen, freiheitlich und ach so (selbst)gerechten Deut­schen gefährdet?

Zu Recht ist unsere Geschichte angstbe­setzt. Deshalb finden Neo-Na­zis und alte Rechte immer noch so viel klammheimliche Zustimmung, wenn sie die Greueltaten gegenüber Juden, anderen Minderheiten, Kommunisten, Sozialisten, den osteuropäischen und den sowjetischen Völkern schlicht leugnen oder verharmlosen. Deshalb findet sich landauf, landab soviel Zu­stimmung, wenn Leute den nationalso­zialistischen Terror gegen den Terror der Stalinisten, Kolonialisten oder re­volutionärer Bewegungen aufrechnen, so als könne man jenen Terror von dem unserer Gesellschaft abziehen und uns dadurch entlasten. Natürlich müssen auch andere Völker ihre Geschichte aufarbeiten - in der So­wjetunion und in Osteuropa beginnen gerade jetzt solche höchst eindrucks­vollen sozialen Lernprozesse - aber das kann doch uns nie und nimmer entheben, uns der eigenen Vergan­genheit zuzuwenden. Da nützt auch nicht die Kohl'sche Formel von 'der Gnade der späten Geburt'. Auch die jungen Menschen können nicht aus der Gesellschaft aussteigen, die Vergan­genheit per Sozialisation über Generationen weiterreicht.

Aufarbeitung von Geschichte im poli­tisch-gesellschaftlichen Sinne besteht aus drei großen Schritten:

  • Vergangenheit zur Kenntnis neh­men und sich erinnern, und zwar nicht nur bezogen auf den nationa­len Rahmen, sondern auch auf den re­gionalen, lokalen (Spurensiche­rung) und familiären, damit wir selbst nicht draußen vor bleiben. Wenn wir dies tun, können wir den großen Lügen entgegentreten, durch die machtbesessene, autori­täre und menschenrechtsfeindliche Ideolo­gien und Politiken gerecht­fertigt werden sollen.
  • Wir müssen materiell und psychisch wiedergutmachen, wie beschränkt auch immer dies nur möglich ist. Dabei müssen wir die Teilung der Opfer in gute und schlechte über­winden. Erst wenn wir z. B. auch Kommunisten, Roma und Sinti in unser Bemühen um Wiedergutma­chung einbeziehen, akzeptieren wir unsere Vergangenheit. Sonst setzen wir nur das alte gespaltene Weltbild, die manichäische Aufteilung nach Gut und Böse fort, bei der wir selbstverständlich sowohl als Fa­schisten wie als Antikommunisten nach 1945 immer zu den Guten rechneten.
  • Vergangenheit aufarbeiten heißt sich verändern. Was denn sonst? Es geht doch nicht um eine Bildungsveran­staltung! Das Ziel der Veränderung ist es, wieder 'gute Politik' zu ma­chen, die sich nach menschenrecht­lichen Kriterien richtet, der Demo­kratisierung als Ausdruck sozialen Lernens verpflichtet ist und nach Aussöhnung durch Kooperation zum allgemeinen Nutzen strebt. Davon sind wir Westdeutschen noch ziemlich weit entfernt, auch und ge­rade in einer Zeit, in der viele Gor­batschow zujubeln aber gleichzeitig 'Ausländer raus' fordern.

Wer den 1. September nur als Ge­denktag begeht, hat nicht begriffen, daß die Aufarbeitung unserer Vergan­genheit nur durch eine solche andere Politik hier und heute, nach innen und nach außen möglich ist.

 

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