Linke Wahlsiege bedeuten nicht unbedingt einen Politikwechsel

Aufbruch in Lateinamerika?

von Gert Eisenbürger

Seit 1998 gewannen in fünf lateinamerikanischen Ländern (Venezuela, Brasilien, Argentinien, Uruguay und Bolivien) linke Parteien bzw. Bündnisse die Wahlen und übernahmen die Regierungen. Dazu kamen in Panama und Chile noch die Wahlsiege von PolitikerInnen, die nach europäischen Kriterien als „moderne SozialdemokratInnen" (sprich Neoliberale, die die Folgen ihrer Politik durch einzelne Sozialprogramme abfedern) gelten können. Gibt es also einen „Linksruck" in Lateinamerika, wie hiesige Medien teilweise behaupten?

In den achtziger und neunziger Jahren verfolgten die Regierungen Lateinamerikas fast durchgängig eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die die Forderungen der internationalen Finanzinstitutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Interamerikanische Entwicklungsbank u. a.). umsetzte. Das bedeutete: Sparhaushalte, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die weitgehende Zerstörung sozialer Sicherungssysteme, sofern sie denn existierten. Diese Politik führte zwar in manchen Ländern vorübergehend zu positiven Wachstumsraten, wenn auch oft nur dadurch, dass öffentliche Unternehmen wie Elektrizitätswerke, Wasserversorger und Telekommunikation verkauft wurden und die Privatisierungserlöse kurzzeitig die Lage der öffentlichen Haushalte entspannten. Sie konnte aber keines der drängenden Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Perspektivlosigkeit für die junge Generation, Altersarmut, Niedergang des Bildungs- und Gesundheitswesens, De-Industrialisierung, Verarmung der Mittelschichten lösen, im Gegenteil, sie verschärfte diese Phänomene noch.

Die neoliberale Politik veränderte auch die sozialen Beziehungen nachhaltig. Feste Lohnarbeitsverträge - die ohnehin im weitaus geringeren Umfang existiert hatten als bei uns - wurden seltener, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Scheinselbständigkeit, Saisonarbeit (vor allem im Agrarbereich) zur Regel. Dies schwächte besonders die Gewerkschaften. Deren wichtigste Kampfmittel, nämlich Streiks, wurden immer schwerer einzusetzen. Das bedeutete allerdings nicht, dass es keinen Widerstand gegen die neoliberale Verarmungspolitik gegeben hätte. Zu den traditionellen Akteuren sozialer Kämpfe wie Gewerkschaften und Bauernorganisationen kamen Landlosenorganisationen, indigene Bewegungen, Stadtteilkomitees, Arbeitslosengruppen, Nachbarschaftsräte. Diese entwickelten neue Aktionsformen wie Besetzungen, Straßenblockaden, Belagerungen öffentlicher Gebäude. Ab Ende der neunziger Jahre fand die Unzufriedenheit der Bevölkerung ihren Ausdruck auch in einem veränderten Wahlverhalten: Linke Parteien und Bündnisse legten zu und konnten in mehreren Ländern Wahlen gewinnen.

In Venezuela wurde Ende 1998 Hugo Chavez zum Präsidenten gewählt. Das Land ist ein wichtiger Ölproduzent, der staatliche Erdölkonzern PDVSA erwirtschaftet den größten Teil der Staatseinnahmen. Chavez lenkte diese Gelder, von denen bis dahin vor allem die Ober-und Mittelschichten profitiert hatten, teilweise in Sozial-, Gesundheits- und Bildungsprojekte für die arme Bevölkerung um. Seine Regierung verabschiedete ein Agrarreformgesetz, dass es Landlosen ermöglicht, brachliegendes Land zu beanspruchen und dafür Eigentumstitel zu erhalten. Die Antwort der GroßgrundbesitzerInnen ist zunehmende Gewalt gegen bäuerliche AktivistInnen. Abgesehen von der Landreform hat die Regierung Chavez, entgegen der weitverbreiteten rechten Propaganda, nicht in die Eigentumsverhältnisse eingegriffen und auch keine demokratischen Rechte eingeschränkt. Außenpolitisch fördert Chavez die lateinamerikanische Integration und greift die US-Politik an, gleichzeitig bleibt Venezuela neben Mexiko wichtigster Öllieferant der USA und erfüllt alle diesbezüglichen Verträge gewissenhaft. Der Widerstand der traditionellen Machteliten gegen Chavez mündete im April 2002 in einen gescheiterten Putsch von Teilen des Militärs und dem Unternehmerverband. Neben der US-Regierung unterstützte vor allem die damalige spanische EU-Präsidentschaft diesen antidemokratischen Akt.

Im November 2002 wurde in Brasilien der ehemalige Metallgewerkschafter Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT zum Präsidenten gewählt. Im Parlament stellt die PT zwar die stärkste Fraktion, aber nur etwa 20 Prozent der Abgeordneten. Die Regierung Lula ist daher auf die Unterstützung rechter Parteien angewiesen. Nach drei Wahlniederlagen seit 1990 trat Lula 2002 mit einem sehr gemäßigten und wirtschaftsfreundlichen Programm an. Diese Wirtschaftsnähe prägt auch seine bisherige Regierungspolitik: Seine Regierung setzt auf einen Konsens mit dem Finanzkapital und den traditionellen Eliten. Soziale Akzente wurden bisher wenige gesetzt, insbesondere gab es kein Geld für die in Brasilien drängende Agrarreform. Positiv gesehen wird das „Null Hunger Programm" für die ärmsten Bevölkerungsschichten und ein Rückgang der Repression gegen die Landlosenbewegung MST und die von ihr initiierten Landbesetzungen. Insgesamt sind die sozialen Bewegungen aber zunehmend enttäuscht. Einige linke Abgeordnete der PT haben die Partei inzwischen verlassen und die Linkspartei P-Sol gegründet, die allerdings noch über keinen nennenswerten Einfluss verfügt.

In Uruguay wurde im Oktober 2004 Tabare Vazquez vom aus über 30 Parteien bestehenden Linksbündnis „Breite Front" zum Präsidenten gewählt, die „Frente Amplio" gewann zudem die absolute Mehrheit im Parlament. Die FA-Regierung betreibt ebenfalls eine Politik, die vor allem die internationalen Investoren nicht verschrecken will. Dazu gehört auch die Ankündigung von Tabare Vazquez, alle von der konservativen Vorgängerregierung ausgehandelten Verträge einzuhalten. Besonders umstritten sind dabei zwei Verträge mit finnischen und spanischen Unternehmen zum Bau von Zellulose-Fabriken, die eine erhebliche Verschmutzung des Rio Uruguay bedeuten würde. Da der Fluss teilweise die Grenze zwischen Argentinien und Uruguay bildet, hat dies zu einem massiven diplomatischen Konflikt zwischen beiden Ländern geführt, in dem bereits mit militärischen Aktionen gedroht wurde.

Am 19./20. Dezember 2001 kam es in Argentinien zu einem Aufstand, der zum Sturz der Regierung de la Rua führte. Bei den Neuwahlen im April 2003 lag der ehemalige Präsident Carlos Menem mit 24 Prozent der Stimmen knapp vorne, der Linksperonist Nestor Kirchner kam mit 22 Prozent auf Platz zwei. Kurz vor dem zweiten Wahlgang zog Menem seine Kandidatur zurück, so dass Kirchner mit nur einem Fünftel der Stimmen Präsident wurde. Um seine Basis zu verbreitern, hat Kirchner verschiedene fortschrittliche Maßnahmen eingeleitet. Dazu gehörten die Annullierung der Amnestiegesetze, die den Verantwortlichen der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 Straffreiheit garantiert hatten, eine härtere Verhandlungsposition gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (wenngleich dessen Forderungen voll bedient wurden), die Nichtgenehmigung der von den privaten Energie- und Wasserversorgern geplanten massiven Preiserhöhungen oder das kürzlich ausgesprochene zeitlich begrenzte Verbot von Rindfleischexporten, um die Preise auf dem lokalen Markt zu senken.

Auf der anderen Seite hat die Regierung Kirchner die sozialen Bewegungen, die den Aufstand vom Dezember 2001 getragen und danach für ein bis zwei Jahre eine gesellschaftliche Gegenmacht dargestellt hatten, nachhaltig geschwächt. Den starken Arbeitslosenbewegungen der „Piqueteros" wurde die Verteilung einer bescheidenen staatlichen Sozialhilfe übertragen. Durch die Höhe der Zuwendungen an die jeweiligen Gruppen kann die Regierung nun deren Einfluss in den Stadtvierteln regeln. Den zahlreichen besetzten Betrieben wurden ultimative Angebote zur „Legalisierung" gemacht. Die BesetzerInnen ließen sich überwiegend darauf ein, die Betriebe zu kaufen und verschuldeten sich dadurch hoch.

In den meisten Ländern mit linken Regierungen - Evo Morales in Bolivien hat sein Amt erst im Januar 2006 angetreten, so dass dazu noch keine Aussagen gemacht werden können - ist es nicht zu einem wirklichen Politikwechsel gekommen, eine Ausnahme stellt teilweise Venezuela dar. Bieten Regierungsübernahmen unter den gegebenen Bedingungen überhaupt die Möglichkeit, eine alternative Politik durchzusetzen? Der Sturz der Regierung Allende 1973 in Chile, der Putschversuch gegen Chavez 2002 in Venezuela oder der Sturz des haitianischen Präsidenten Aristide 2004 haben gezeigt, dass Lateinamerikas Eliten nicht bereit sind, politische Veränderungen hinzunehmen, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Sie scheren sich nicht um demokratische Wahlen, sondern versuchen, solche Regierungen mit Gewalt zu stürzen - oft mit Unterstützung der jeweiligen US-Administrationen. In Chile und Haiti hatten sie damit Erfolg, in Venezuela sind sie – zunächst- gescheitert. Um solche Polarisierungen zu verhindern, versuchen Regierungen, wie die in Brasilien und Uruguay, alles zu vermeiden, was die Rechten verärgern könnte. Außerdem sind die wirtschaftspolitischen Spielräume sehr eng. Sich dem Schuldendruck und den Auflagen der internationalen Finanzorganisationen, die vor allem im Interesse der Banken und Unternehmen aus dem Norden agieren, sowie den einheimischen Eliten zu beugen, bedeutet aber, dass sie nur wenig tun können, was die Lage der sozial Benachteiligten verbessert.

Vor diesem Hintergrund kann man sich natürlich fragen, ob linke Parteien überhaupt anstreben sollten, an die Regierung zu kommen. Eine wichtige politische Bewegung in Lateinamerika, die ZapatistInnen in Mexiko, verneint das. Sie wollen Autonomie für die indigenen Gemeinden und darüber hinaus gesellschaftliche Gegenmacht sein. Vor einigen Monaten hat der Subcomandante Marcos viele Leute in Mexiko überrascht, als er erklärte, es sei gleichgültig, ob die konservativen Parteien PRI und PAN oder die gemäßigt linke PRO die Wahlen im Juli 2006 gewinnen würden, am System würde dies ohnehin nichts ändern. Für Marcos' Position spricht, dass breite, gut organisierte Oppositionsbewegungen in Lateinamerika in den vergangenen Jahren teilweise mehr erreicht haben als linke Regierungen, etwa die Rücknahme von Privatisierungen der Wasserversorgung in Bolivien, die langfristige Garantie des öffentlichen Sektors in der Wirtschaft Uruguays, die Verteidigung der öffentlichen Gesundheitsversorgung in El Salvador, Nicaragua und Panama oder die Durchsetzung einer Verfassunggebenden Versammlung in Bolivien, durch die das Ende der Jahrhunderte währenden Diskriminierung der indigenen Bevölkerungsmehrheit eingeleitet werden soll.

 

 

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Gert Eisenbürger ist Redakteur der ila, einer in Bonn erscheinenden Monatszeitschrift zur Politik, Wirtschaft und Kultur Lateinamerikas (www.ila-web.de).