Aufgaben der Menschenrechtsbewegung nach dem 11.9.2001

von Volkmar Delle

(red) Nachstehend dokumentieren wir den Schlussteil des Aufsatzes von Volkmar Deile „Kein Antiterrorrabatt bei Menschenrechtsverletzungen?" aus dem „Jahrbuch Menschenrechte 2005". Deile knüpft an die Worte des Außenministers vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen von 2002 an, denen gemäß es unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung keine Aushebelung menschenrechtlicher Grundnormen geben dürfe. In einer ausführlichen Analyse der Entwicklungen nach 9/11 in 51 Staaten kommt Deile zu dem Ergebnis, dass die Staaten-Praxis von gravierenden Einschränkungen gekennzeichnet ist, auch in demokratischen Rechtsstaaten. Im Schlusskapitel formuliert Deile die aktuellen Aufgaben der Menschenrechtsbewegungen, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Wir dokumentieren das Schlusskapitel in redaktionell leicht gekürzter Form.

Was ist zu tun?

  1. Die Menschenrechtsbewegung muss forciert darauf dringen, dass die Beratungen in den UN über eine präzise Definition des Terrorismus im Rahmen einer Konvention gegen den Terrorismus so schnell wie möglich abgeschlossen werden und zur Unterzeichnung bzw. Ratifikation aufgelegt werden. Zwar sind Teilbereiche der Anstrengungen, dem Terrorismus entgegenzutreten, in zwölf verschiedenen Konventionen bereits definiert, die Autorität einer umfassenden von der sogenannten Völkergemeinschaft getragenen präzisen Fassung fehlt aber. Diese Antiterrorismuskonvention bietet die Möglichkeit, den vielen oft sehr vage definierten Terrorismusverständnissen und ihrem Missbrauch zur Unterdrückung der Opposition und zur Niederhaltung religiöser und ethnischer Gruppen offensiver entgegentreten zu können. Sie muss der Selbstermächtigung vieler Staaten für rechtswidrige Praktiken im ,,Kampf gegen den Terrorismus" (Inhaftierung ohne Anklage und Verfahren, incommunicado-Haft, unfaire Gerichtsverfahren für des Terrorismus verdächtigte Personen u.a.) einen Riegel vorschieben und die Unantastbarkeit der notstandssicheren Menschenrechte betonen. Sie muss verhindern, dass eine weitere Aufweichung von Menschenrechtsstandards Platz greift, rechtliche Grauzonen entstehen und unklar definierte Straftatbestände Willkür erlauben. Grundlage für alle Anstrengungen, dem Terrorismus entgegenzutreten und ihn zu überwinden, sind die Einhaltung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes, des humanitären Völkerrechts und des internationalen Flüchtlingsschutzes.
  2. Der UN-Sicherheitsrat hat in Resolution 1373 die Aufgaben beschrieben, die die Staaten bei der Überwindung des Terrorismus haben, und zur Überwachung der einzelstaatlichen Umsetzungsbemühungen das CTC eingesetzt. Die Menschenrechtsbewegung darf in ihren Bemühungen nicht nachlassen, dass in diesem CTC ein Mechanismus für die Überprüfung der Antiterrormaßnahmen auf ihre Menschenrechtsverträglichkeit hin geschaffen wird und Vollzeit-Menschenrechtsexperten eine wichtige Stimme darin haben. Diese müssen die Konformität aller staatlichen Anstrengungen gegen den Terrorismus mit dem internationalen Recht sicherstellen.

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Besonders bedauerlich ist in diesem Zusammenhang die seit Jahren anhaltende Schwäche der MRK, die gerade jetzt eine wichtige Rolle zu spielen hätte. Immerhin ist Mexiko in der 60. MRK-Sitzung 2004 mit der nach langem Gezerre schließlich konsensual verabschiedeten Initiative erfolgreich gewesen, einen Experten der Kommission mit der Aufgabe zu betrauen, die Kompatibilität nationaler Antiterrormaßnahmen mit internationalen Menschenrechtsverpflichtungen zu überprüfen. Auch der leider erfolgreiche Versuch der spanischen Regierung, die UN nach den Anschlägen von Madrid so zu manipulieren, dass der Sicherheitsrat in einer Resolution fälschlicherweise die ETA als Verursacher der Bombenattentate bezeichnete, wirft ein sehr schlechtes Licht auf die Vereinten Nationen.

  1. Die Menschenrechtsbewegungen müssen in allen Staaten nicht nur darauf drängen, dass Menschenrechtsverletzungen niemals ein legitimes Mittel der Terrorismusbekämpfung sein können, sondern auch der(in Grenzen möglichen)Aufkündigung menschenrechtlicher Verpflichtungen widerstehen. Geschieht dies dennoch, so sind die in Artikel 4 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte definierten Grenzen unbedingt zu beachten. Niemals verändert oder ausgesetzt werden dürfen demnach das Recht auf Leben (Artikel 6), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 18), das Verbot von Folter und Misshandlungen (Artikel 7), das Rückwirkungsverbot „nulla poena sine lege" (Artikel 15) sowie die Sklaverei (Artikel 8, Absätze 1 und 2). Besonders hilfreich als Messlatte aller staatlichen Maßnahmen gegen den Terrorismus ist der Digest of Jurisprudence of the UN and Regional Organisations on the Protection of Human Rights while Countering Terrorism, den die UN vorgelegt haben.

Kommt es dennoch zur ausnahmsweise erlaubten Aussetzung bestimmter menschenrechtlicher Verpflichtungen, so sind diese als besondere Ausnahme zu fassen und präzise zu formulieren, zeitlich zu begrenzen und regelmäßig zu überprüfen. Parlamentarische Kontrolle muss sicherstellen, dass die Maßnahmen keine Form der Diskriminierung erlauben. Da viele Staaten die Terrorismusbekämpfung zu Ermächtigungen der Exekutive nutzen, ist verstärkte kritische parlamentarische und zivilgesellschaftliche Kontrolle unverzichtbar. Dieser müssen auch die Geheim- und Sicherheitsdienste unterworfen werden. Sicherlich ist nichts gegen vermehrte Bemühungen der Informationsbeschaffung zu sagen, wenn diese die Bürger- und Menschenrechte nicht missachten. Das Vertrauen gerade in die „Dienste" ist nach deren verheerender Rolle bei der Legitimierung des Irakkrieges (US-Außenminister Colin Powell betonte vor dem UN-Sicherheitsrat, es handele sich bei den Begründungen für den Krieg im Irak um „Tatsachen und Schlussfolgerungen, die auf stichhaltigen Geheimdiensterkenntnissen beruhen") mehr als kritisch zu sehen.

  1. Terroristische Anschläge richten sich nicht nur zumeist gegen Zivilisten, sie sind auch auf öffentliche Wirkung aus und wollen Angst verbreiten. Sie sind Verbrechen gegen die Menschheit, die ganz gezielt Bedrohungsängste in der Bevölkerung schüren wollen. Diese Sicherheitsängste haben dazu beigetragen, dass Diskussionen über die Lockerung des Verbots von Folter und Misshandlungen einen Resonanzboden in einigen Gesellschaften bekommen haben. Die Stichworte sind „legitime Situations-" oder „Rettungsfolter". Parallel zur Begründung „präventiver Kriegführung" wird die Argumentationsfigur „präventiver Folter" vertreten. Das ist strikt abzulehnen. Die Menschenrechtsbewegung wird dem offensiv entgegentreten und die historische Errungenschaft des absoluten Folterverbots in der heutigen Diskussion neu beweisen lernen müssen. Ein stillhaltendes Verlassen auf das völkerrechtliche und innerstaatliche absolute Folterverbot ist nicht hinreichend. Jeder konstruierte Fall angeblich „legitimer Folterung" zur vermeintlichen Erlangung von Informationen über bevorstehende Anschläge ist im Detail offensiv zu widerlegen.
  2. Die Bemühungen um die analytische Erfassung der Ziele und Organisationsformen terroristischer Organisationen müssen forciert werden. Zwar ist das Argument verständlich, dass die Brutalität der Aktionen jedes Ziel der Terroristen von vorneherein desavouiert und sie schon deshalb keine Partner im Dialog sein können, weil sie vor Gericht gehören, dennoch wird keine Strategie zur Überwindung des Terrorismus erfolgreich sein, wenn sie nicht erklären kann, warum die Aktionen Unterstützung und Sympathie auch bei Menschen finden, die nicht zur Anwendung terroristischer Mittel bereit sind. (... ) Zu der analytischen Erfassung des Terrorismus gehört auch der Versuch, die Frage zu beantworten, woher die Terroristen kommen. Dabei führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß bestimmte Staaten wie z.B. Saudi Arabien mit ihrer Mischung aus islamisch-islamistischer Rhetorik, autoritärer Herrschaft und Unterdrückung der demokratischen Opposition eine Rolle bei der Entstehung des Terrorismus gespielt haben und dass die andauernden Regionalkonflikte im Nahen Osten, in Kaschmir, in Tschetschenien nicht nur Aktionsfelder terroristischer Gruppen sind, sondern wegen der dort praktizierten Formen der Unterdrückung auch Rekrutierungsfelder für die terroristischen Organisationen darstellen. Der Irakkrieg ist nur das jüngste Beispiel einer solchen falschen Entscheidung. Jedenfalls ist eines richtig: Jede Bemühung um die Lösung der Regionalkonflikte ist ein wichtiger Beitrag zur Überwindung des Terrorismus. (... )

Zur klaren analytischen Fassung gehört auch die Korrektur der Begrifflichkeiten zur Beschreibung des Terrorismus und der Terroristen. Die meisten Politologen sind sich darin einig, dass die Terroristen primär politische Forderungen im Kontext sekundärer religiöser Formulierungen und Begründungen erheben und mit terroristischen Mitteln durchzusetzen versuchen. Deshalb ist die gängige Beschreibung der Terroristen als „islamistische Fundamentalisten" völlig ungenügend, wenn nicht sogar falsch. Eine noch so problematische oder gar falsche Glaubenshaltung kann keine adäquate analytische Kategorie für die Erfassung der politischen Ziele, Methoden und Aktionen von Terroristen und ihren Organisationen sein. Angesichts der „globalen Gefährdung" durch den „internationalen Terrorismus", die erneut zeigt, dass Innen- und Außenpolitik kaum noch voneinander zu trennen sind, ist das populistischen Versuchungen folgende vor allem innenpolitisch motivierte Spiel einiger Politiker mit den Bedrohungsängsten in der Bevölkerung vehement zurückzuweisen. Die ganze - besonders im Zusammenhang der Diskussion um das deutsche Zuwanderungsgesetz - geführte Debatte um Ausweisung, ,,Sicherheitsverwahrung", ,,Hassprediger“ u.ä. sind Phantomdiskussionen, die weit von einer rationalen Betrachtung der wirklichen Bedeutung der Herausforderungen entfernt sind und vorrangig Feindbilder, Pauschalurteile, Verdächtigungen und Stigmatisierungen gegen ganze Bevölkerungsgruppen fördern.(... )

  1. Die Menschenrechtsbewegungen werden schonungslos offenlegen müssen, dass einige der Verbündeten im „Kampf gegen den Terrorismus" üble Menschenrechtsverletzer sind. Sie nutzen die Notwendigkeit, dem Terrorismus entgegenzutreten, zu „Windschattenmaßnahmen", zu einem verschärften Vorgehen gegen ihre eigene Opposition. Dabei machen sie meistens keinen Unterschied zwischen friedlichem Protest und der Befürwortung von Gewalt. Vielmehr versuchen sie, das Vorgehen gegen legitime Opposition auch als „Teil des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus" darzustellen und zu legitimieren. Die Sonderberichterstatter der MRK haben schon im Dezember 2001 als Opfer staatlicher Antiterrormaßnahmen besonders „Journalisten, Migrantinnen und Migranten, Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger, Asylbewerber; Flüchtlinge, religiöse und ethnische Minderheiten sowie politische Aktivisten" genannt. Diesen Gruppen muss die besondere Solidarität der internationalen Menschenrechtsbewegung gelten. (... )
  2. Viele Staaten nutzen den Antiterrorkampf, um die Exekutive zu stärken und die Demokratie zu schwächen. Eine eindeutige Dominanz militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Maßnahmen gegenüber allen anderen Anstrengungen ist feststellbar. Freiheit und Sicherheit werden als vermeintliche Gegensätze gegeneinander ausgespielt. Menschenrechtsverletzungen werden als „Antiterrormaßnahmen" gerechtfertigt. Dabei werden auch Grundrechte und Grundfreiheiten nachhaltig beschädigt, In dieser Situation werden die Menschenrechtsbewegungen nicht nur darauf dringen müssen, alle Maßnahmen gegen den Terrorismus durch die Beachtung des internationalen Rechts zu begrenzen. Sie haben eine weit darüber hinausgehende Vision, die der UN-Generalsekretär, Kofi Annan, in die Worte fasste, ,,die beste Prophylaxe gegen den Terrorismus ist der Schutz der Menschenrechte". Danach sind Menschenrechte und ihr Schutz keine Hindernisseim Antiterrorkampf, sondern ein Beitrag zur Lösung der Probleme. Sie müssen deshalb nicht nur ein integraler Bestandteil aller Bemühungen zur Überwindung des Terrorismus sein, sondern auch deren eigentliches. Dies ernst zu nehmen erfordert freilich ein radikales Umdenken. Dessen Fürsprecher zu werden, ist die wichtigste Aufgabe der Menschenrechtsbewegungen in der heutigen Zeit.

 

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