Eine Erweiterung der NATO nach Osten ist kein Schritt zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung

Auflösen statt ausweiten

von Volker BögeAlbert Statz

Es gibt wieder Krieg in Europa, nachdem das Ende des Ost-West-Systemgegensatzes dauerhaften Frieden zu verheißen schien. Die Stabilität der eingefrorenen Konfrontation zwischen den Blöcken ist einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen. Nicht mehr allmählicher Wandel und Annäherung, sondern ein grundlegender Umbruch der Politik in Europa und wachsende Gegensätze bestimmen das Bild. Die Schwierigkeiten, sich dem zu stellen und neue Antworten auf neue Fragen zu finden, kennzeichnen auch die aktuelle friedenspolitische Diskussion. Es kann nicht darum gehen, die alten Strategien und Konzepte einfach fortzuschreiben; sollen sie weiterhin gelten, bedürfen sie einer neuen Begründung. Aber die politischen Umbrüche sollten auch nicht dazu verleiten, alte Maßstäbe einfach über Bord zu werfen. Wir haben auch ein Stück in vielen Kontroversen mühsam errungener friedenspolitischer Identität zu bewahren, indem wir sie weiterentwickeln. Das gilt auch und besonders für unsere Haltung zur NATO und zum Problem der Schaffung einer europäischen Friedensordnung.

Im etablierten sicherheitspolitischen Diskurs ist vor und auf dem letzten NATO-Gipfel vom Januar 1994 die Frage einer 'möglichen Osterweiterung  der NATO aufgeworfen und schließlich dilatorisch beantwortet  worden: Mit dem Angebot einer "Partnerschaft für den Frieden" für die Staaten östlich der heutigen NATO-Grenzen, verbunden mit der prinzipiellen Option auf künftige Vollmitgliedschaft. Auch in der  Friedensbewegung fragt man sich, ob eine Osterweiterung der NATO friedenspolitisch sinnvoll sein kann. Dies nicht zuletzt, weil gerade auch die neuen demokratisch gewählten Regierungen in Osteuropa und gewichtige demokratische Kräfte dort für einen NATO-Beitritt votieren. Diese Haltung ist verständlich: Was liegt angesichts der vielfältigen Gefahren und Konflikte und der Tatsache, daß das westliche Modell dominierend geworden ist, näher, als die Politikmuster des Westens auf den Osten zu übertragen? Gerade die demokratischen Kräfte im Osten wollen den engen Anschluß an Westeuropa, die Teilnahme an seinen Institutionen und die Teilhabe an seinem Wohlstand.

Demgegenüber hat es den Anschein, als ob die grundlegende Kritik am kapitalistischen System aus Teilen der Friedensbewegung im Westen den Reformkräften des Ostens diese  Perspektive rauben wolle. Was bleibt ihnen denn anderes übrig, als sich auf die Realitäten im Westen zu beziehen, die angesichts der Fülle östlicher Probleme allemal das kleinere Übel darstellen? Wir können uns den Osteuropäern in ihrem Streben nach Integration in den Westen nicht  verweigern. Doch die Frage muß erlaubt sein. Was sind sinnvolle Strukturen, die ihre Erwartungen auch befriedigen können? Bleibt wirklich nur die Anpassung an die bestehenden Institutionen mit den ihnen eigenen Zielen und Mechanismen oder gibt es Alternativen? Kann durch Beitritte der Charakter und die Politik dieser Institutionen geändert werden? Sind diesbezügliche Hoffnungen und Erwartungen realistisch? Was für die wirtschaftliche Integration in die Europäische Union vielleicht richtig ist, muß dabei nicht auch für die  Sicherheitspolitik gelten.

Die Vorbereitungen auf und die Ergebnisse des letzten NATO-Gipfels haben deutlich gemacht: Eine gleichberechtigte Aufnahme der osteuropäischen Staaten und ein damit einhergehender Wandel der NATO wird von etablierter Politik im Westen nicht gewollt. In die Konzipierung der "Partnerschaft für den Frieden" sind die osteuropäischen ''Partner" in keiner Weise einbezogen worden; vielmehr wurden sie nach dem Motto: „Vogel friß, oder stirb" vor vollendete Tatsachen gestellt. Die von ihnen vor allem gewünschten Sicherheitsgarantien wird die NATO jetzt und auf absehbare Zeit nicht geben, eine Vollmitgliedschaft ist auf unbestimmte Zeit vertagt. Nur einige Trostpflästerchen  - die Option auf gemeinsame Ausbildungsprogramme, gemeinsame militärische Übungen und ähnliches  - wurden offeriert, sowie das Angebot zur Beteiligung an künftigen "friedenschaffenden" Interventionen der NATO.

Hierbei und auf anderen Gebieten müssen sich die osteuropäischen "Partner" zunächst einmal bewähren, bevor man in der NATO bereit ist, über die Gewährung der Gunst engerer Anbindung oder gar voller Mitgliedschaft nachzudenken. Man sieht: Die Verhandlungsmacht der je einzelnen osteuropäischen Staaten gegenüber den als geschlossenem Block auftretenden NATO-Mitgliedern ist denkbar gering. Dadurch, daß jeder dieser Staaten sich überdies als im Vergleich zu seinen Mit-Konkurrenten um Mitgliedschaft als besonders brav, zivilisiert, "eigentlich westlich" und geostrategisch wichtig zu präsentieren bemüht ist, wird die ohnehin schon übermächtige Position der NATO noch komfortabler. Die osteuropäischen Regierungen, die viel mehr erwartet hatten als die Brosamen der "Friedenspartnerschaft" machen säuerlich gute Miene zum bösen Spiel und erklären ihre Bereitschaft zur Beteiligung an den "Partnerschafts" -Programmen, um nicht vollends ins Hintertreffen zu geraten.

Unter diesen Bedingungen ist realistischerweise nicht zu erwarten, daß eine Osterweiterung der NATO diese in ihrem Charakter verändern könnte, wie dies Teile der Friedensforscher und Stimmen aus SPD und Grünen als Strategie formulieren. Was in Bezug auf die EG für kleinere, schwächere Staaten noch attraktiv und wirkungsvoll erscheinen mag - nämlich über die Mitgliedschaft formale Gleichheit gegen reale Ungleichheit setzen zu können und damit die EG auch ein Stück weit mit prägen zu können  - das kann in Hinblick auf einen Militärpakt wie die NATO nicht funktionieren. An der Logik des Militärischen änderte sich durch Neuaufnahmen nichts. Die Integration liefe über interne Hierarchisierung über Einordnung in die Logik der militärischen Apparate. An den diversen bereits im Rahmen des Nordatlantischen Kooperationsrats laufenden und den jetzt in der Friedenspartnerschaft angeregten Kooperationsprojekten läßt sich ablesen, wie die osteuropäischen Militärs und Sicherheitspolitiker NATO-konform sozialisiert werden, wie die NATO über diverse Gesprächskreise, Seminare, Lehrgänge usw. ihre militärkulturelle Hegemonie entfaltet und alte Apparatschiks zu beinharten "Atlantikern" ummodelt. Nicht die NATO ändert sich, sondern die osteuropäischen Staaten werden in der Sicherheits- und Militärpolitik der NATO anverwandelt  - und im Zuge dessen kommt es auch in Osteuropa zu einer Neulegitimierung des Militärs. Die NATO bliebe auch bei der Aufnahme einzelner (selbst vieler einzelner) osteuropäischer Staaten ein gegen Außen gerichteter Militärpakt. Eine Transformation, ein grundlegender Wandel der NATO kann so nicht erreicht werden.

Etwas anderes wäre es eventuell, wenn man von vornherein die Aufnahme aller Staaten östlich der Blockgrenze  einschließlich der Großmacht Rußland  ins Auge fassen würde. Es sei daran erinnert, daß die damalige UdSSR im März 1954 ihre Aufnahme in die NATO beantragte, um eine derartige Transformation zu erreichen. Der Aufnahmeantrag  wurde seinerzeit von der NATO abgelehnt. Und auch heute machen die NATO-Politiker wieder klar, daß es eine Aufnahme Rußlands nicht geben wird.

Vielleicht hätte der Westen auch bei größter Kraftanstrengung nur wenig an dem wirtschaftlichen Niedergang Rußlands ändern können. Aber durch ehrliches Bemühen um Unterstützung hätten die chauvinistischen, großmächtigen und -mäuligen Tendenzen in der russischen Politik, deren Ausdruck Schirinowskis Wahlerfolg ist, zurückgedrängt werden können. Jetzt aber bestärken die eigenen Versäumnisse die alte Politik: Rußland wird wieder zur Bedrohung, vor der nur militärischer Schutz hilft und die der NATO wieder jene Legitimation verschafft, die ihr mit Ende der Blockkonfrontation abhanden zu kommen drohte. Eine Logik, die aus historisch verständlichen Gründen von den ostmitteleuropäischen Ländern geteilt wird, allerdings mit einer fatalen Konsequenz: "Sicherheit" wird in Europa wieder als teilbar begriffen, als gegen andere gerichtet, nicht als gemeinsame.

NATO-Militärköpfe wie M. Wörner sind für eine Ausweitung der NATO bis an die Grenze der ehemaligen UdSSR, weil sie sich davon eine verstärkte Integration durch den neuen Gegensatz zu Rußland versprechen und auf die integrierende Kraft der militärischen Apparate und die Dominanz ihrer militärischen Logik vertrauen. Wie auch schon zu Zeiten der Blockkonfrontation ginge es also auch heute bei der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO um eine ausgrenzende Integration mit der Funktion der Bündelung und Steigerung des eigenen Machtpotentials gegen außen. Daher muß eine Ostausweitung der NATO russische Bedrohungsgefühle verstärken, zumal die osteuropäischen Staaten sich in den letzten Jahren ostentativ von Rußland ab- und dem Westen zugewandt haben, ohne sich um russische Bedrohungsgefühle zu scheren.

Die militärische Logik der Ausgrenzung und des "worst case“- Denkens, der immer noch das Konzept der Abschreckung und damit die immanente Aufrüstungsdynamik zugrunde liegt, feiert fröhliche Urstände. Niemand kann die Augen davor verschließen, daß die NATO-Politik gegenwärtig zusehends auf die Fähigkeit und Bereitschaft zu militärischen Interventionen "out of area" ausgerichtet wird und daß in diesem Zusammenhang auch und gerade eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik erfolgt. Sicherheit wird weiterhin militärisch definiert.

Die Hoffnungen, die man sich etwa in SPD-Kreisen in den Jahren des Umbruchs auf eine Umwandlung der NATO in eine "politische" Organisation gemacht hat, sind zerstoben ... Die friedenspolitische Lehre aus dieser Erfahrung: Die NATO in die KSZE auflösen zu wollen  - so das Credo vieler sozialdemokratischer und einiger grüner PolitikerInnen - erfordert den erklärten Willen, eine neue Struktur an ihrer Stelle zu schaffen, nicht sie bloß zu erweitern und sich davon einen inneren Wandel zu versprechen.

Eine gesamteuropäische Friedensordnung müßte Mechanismen für eine wirksame Bearbeitung von Konfliktursachen, für friedliche Streitbeilegung und vorbeugendes Konfliktmanagement beinhalten. Sie müßte darauf beruhen, daß alle Beteiligten für alle anderen verantwortlich sind und daß die Selbsteinbindung in eine internationale Integration dazu führt, daß alle alle kontrollieren und die Interessen so miteinander verwoben sind, daß eine Aufkündigung der Zusammenarbeit den Interessen aller zuwiderlaufen würde.

Dies war auch der friedenspolitische Kern der Integration in Westeuropa, bei aller Militarisierung nach außen. Und dies war das Konzept der KSZE, mit dem die Konfrontation zwischen den Blöcken überwunden wurde und das für ein Europa ohne diese bipolare Struktur fortentwickelt werden muß, um frei flottierender nationaler· Machtpolitik und einer Renationalisierung von Außen- und Sicherheitspolitik eine integrierende Struktur entgegenzusetzen. So halbherzig die Weiterentwicklung der KSZE nach 1990 auch betrieben wurde, so sehr sie zum Stiefkind der Außenpolitik verkam: sie bietet eine ganze Reihe von Ansatzpunkten, die bislang nicht genutzt wurden und die zu stärken und weiterzuentwickeln das wichtigste Feld für außenpolitische Initiativen Deutschlands sein müßte.

Die Aufrechterhaltung eines (womöglich gar nach Osten erweiterten) Westblocks innerhalb der KSZE dagegen ist für ihre Fortentwicklung zu einer Europäischen Friedensordnung  - die in der sicherheitspolitischen Dimension als modifiziertes und modernisiertes regionales System Kollektiver Sicherheit gestaltet werden könnte - überflüssig und kontraproduktiv:

  • Als "Schicksalsgemeinschaft des freien Westens" gegen den "totalitären. Kommunismus" hat sich die NATO überlebt: es gibt den Gegenpart nicht mehr, und ausgerechnet militärische Apparate ohne Not als Hort von Demokratie und Freiheit aufrechterhalten zu wollen scheint dann doch eher abstrus;
  • als Sicherheitssystem mit nach innen gerichteten Funktionen vor allem der wechselseitigen Kontrolle und Einbindung der Machtpotentiale der beteiligten Staaten, und hier insbesondere Deutschlands - kann die NATO durch eine fortentwickelte KSZE ersetzt werden;
  • als Militärorganisation schließlich ist sie ohnehin friedenspolitisch ohne Daseinsberechtigung. Denn Friedensordnung und Kollektive Sicherheit einerseits und Militärblöcke andererseits sind miteinander unvereinbar.

Der Weg zu einer europäischen Friedensordnung führt nicht über die Osterweiterung der NATO, sondern über deren Auflösung und den parallel dazu verlaufenden Auf- und Ausbau gesamteuropäischer friedensfähiger Strukturen ("von Vancouver bis Wladiwostok"), ausgehend von der KSZE und eingebettet in das globale Friedenssystem der Vereinten Nationen.

Volker Böge/ Albert Statz sind Friedensforscher und lange Jahre in der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationale Politik der Grünen aktiv.

Ausgabe

Rubrik

Im Blickpunkt

Themen