UnterzeichnerInnen des Soldatenauf¬rufes zur Verweigerung werden weiter¬hin strafrechtlich verfolgt

Aufruf zur Desertion

von Martin Singe
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Die Staatsanwaltschaft Berlin zeigt sich unerbittlich: Seit Juli 1999 verfolgt sie rund 60 Personen, die zu Beginn des Krieges der NATO gegen Jugoslawien die beteiligten Soldaten in einem Flug­blatt zur Verweigerung aufgerufen hat­ten (vgl. Friedensforum 6/99). Die Erst­unterzeichnerInnen - die meisten von ihnen stammen aus dem Umfeld des Komitees für Grundrechte und Demo­kratie und anderen Gruppen der Frie­densbewegung - hatten in dem Solda­tenaufruf ausführlich dargelegt, inwie­fern es sich um einen völkerrechts- und verfassungswidrigen Angriffskrieg han­dele, der zudem ein ungeeignetes und unverhältnismäßiges Mittel sei, um die angeblich humantiären Ziele erreichen zu können. Die Soldaten sollten deshalb ihr Gewissen überprüfen und die Kon­sequenzen ziehen: Diese lauten für die UnterzeichnerInnen: "Eine Beteiligung an diesem Krieg ist nicht zu rechtferti­gen. Verweigern Sie deshalb Ihre Ein­satzbefehle! Entfernen Sie sich von der Truppe! Lehnen Sie sich auf gegen die­sen Krieg!"

Die Staatsanwaltschaft sieht in dem Aufruf eine strafrechtlich zu verfol­gende Aufforderung zu Straftaten (§ 111 Strafgesetzbuch - StGB) in Verbindung mit § 16 (Fahnenflucht) und § 20 (Gehorsamsverweigerung) Wehrstrafge­setz. Die Betroffenen werden zum Teil dreifach von der Staatsanwaltschaft an­geklagt, da diese von dem Aufruf in drei Varianten Kenntnis erhalten hatte: Ver­teilen des Aufrufs am Verteidigungsmi­nisterium am 1.4.99; Aufrufveröffentli­chung in der "tageszeitung" vom 21.4.99; Post-Versand des Aufrufs an Regierungsstellen und Bundeswehrein­richtungen im Mai 1999.

Zwischen November 1999 und März 2000 hatten sich nun die ersten 26 Per­sonen vor dem Amtsgericht Tiergarten zu verantworten. Im Ergebnis gab es bislang (Stand Mitte März 2000) 22 Freisprüche und 4 Verurteilungen zu Geldstrafen (bis zu 4.000 DM). Gegen alle Verurteilungen haben die Betroffe­nen Berufung eingelegt. Allerdings geht auch die Staatsanwaltschaft bei allen Freisprüchen in Berufung, so dass alle Prozesse demnächst in der 2. Instanz verhandelt werden.

Obwohl die Staatsanwaltschaft und die Richterinnen und Richter in allen Pro­zessen tunlichst versuchen, sich vom Terrain des Völker- und Verfassungs­rechtes fernzuhalten, geht es im Kern natürlich um genau diese Fragen. Die herrschende Meinung im Rechtsstreit steht dabei eindeutig auf Seiten der Pa­zifistInnen. Die NATO - und damit auch die Bundesrepublik Deutschland - haben mit dem Krieg gegen die Bundesrepu­blik Jugoslawien gegen das Gewaltver­bot der UN-Charta verstoßen und den NATO-Vertrag gebrochen. Die Bundes­regierung hat obendrein die Verfassung gebrochen, der gemäß Völkerrecht Be­standteil des Bundesrechtes ist (Art 25 GG) und die bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe stellt (Art. 26 GG). Sie hat den 2+4-Eini­gungsvertrag gebrochen, in dem es in Art. 2 heißt, "dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Überein­stimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen".

Aber nicht nur das ius ad bellum (das Recht zum Krieg) ist - wie eben kurz zusammenfassend dargestellt wurde - nicht eingehalten worden, sondern auch das ius in bello - das Recht im Krieg, also die Regeln des Kriegsvölkerrechtes, insbesondere die Genfer Konvention und ihre Zusatzprotokolle - ist massiv verletzt worden. Wer einen Luftkrieg aus sicherer Distanz führt, kann selbst­verständlich oft genug nicht mehr zwi­schen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden. Und so wurden dann Flüchtlingstrecks, Wohngebiete, Kran­kenhäuser und andere zivile Einrichtun­gen getroffen. Obendrein hat die NATO in der zweiten Kriegsphase bewusst auch zivile Ziele und Ziele der wirt­schaftlichen Infrastruktur angegriffen: Fabriken, Produktionsanlagen, Donau-Brücken; Eisenbahnbrücken (samt Per­sonenverkehrszug) usw. Des weiteren hat die NATO verbotene Waffen einge­setzt, u.a. die Cluster-/Splitterbomben und Bomben mit abgereichertem Uran.

Bei einer so eindeutigen Völkerrechts- und Verfassungslage fragt man sich, warum nicht Scharping, Fischer und Schröder vor dem Berliner Amtsgericht stehen, sondern die PazifistInnen, die auf das Verbrechen dieses Krieges hin­weisen und dem sinnlosen Morden Ein­halt gebieten wollten. Aber auf Anzei­gen hatte der Generalbundesanwalt ab­weisend reagiert. Das Originellste dabei war die Begründung für die Nichter­mittlung: Statt rechtlich zu argumentie­ren, zitierte der Generalbundesanwalt aus der Kriegserklärung von Gerhard Schröder vom 24. März 1999, in der dieser erklärt hatte, dass die NATO gar keinen Krieg führe und nur das Gute wolle.

Das Recht wird so abgelöst von der (vorgeblichen) Motivationslage der Re­gierenden.

Nun haben es die KriegsgegnerInnen mit ihrem Soldaten-Aufruf geschafft, dass die Rechtsfragen um diesen Krieg und die politische Auseinandersetzung um die wirklichen Ziele und Hinter­gründe dieses Krieges wieder auf dem Tisch liegen. In ihren eindrücklichen Verteidigungs-Plädoyers machen sie immer wieder deutlich, dass in Berlin die Falschen auf der Anklagebank sit­zen. Der jetzige Trend zu freisprechen­den Urteilen gibt ihnen dabei Recht. Allerdings sind die meisten Freisprüche nur damit begründet, dass das Flugblatt vom Grundrecht auf freie Meinungsäu­ßerung (Art. 5 GG) gedeckt sei. Zu einer eindeutigen Aussage, dass dieser Krieg der NATO gegen Jugoslawien verfas­sungs- und völkerrechtswidrig war, konnte sich bislang erst ein einziger mutiger Richter durchringen. Immerhin sagten einige weitere RichterInnen, dass sehr vieles dafür spreche bzw. dass man nicht ausschließen könne, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig war.

Die Staatsanwaltschaft weigert sich permanent, auf das Völkerrecht ein­zugehen. Sie weigert sich auch darzule­gen, inwiefern sie diesen Krieg für völ­kerrechtskonform halte. Gebetsmühlen­artig wiederholt sie ihren Refrain: "Hierauf kommt es nicht an." Die Staatsanwaltschaft fordert preußischen Kadavergehorsam ein. Es habe sich auch in diesem Krieg um verbindliche Befehle gehandelt, die die Soldaten zu befolgen hatten. Eine Desertion sei für Soldaten in jedem Fall und ausnahmslos verboten. Die Staatsanwaltschaft - und mit ihr die verurteilenden RichterInnen - bewegen sich im verengten Gedanken­gehäuse zwischen Strafgesetzbuch und Wehrstrafgesetz. Dabei geraten das über- und vor-geordnete Verfassungs- und Völkerrecht völlig aus dem Blick. Wer so denkt, hat aus der Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt. Wenn die Regierung sich über Verfas­sungs- und Völkerrecht hinwegsetzt und Soldaten auffordert, in fremden Ländern Mord und Totschlag zu begehen, dann ist es Sache der Soldaten, sich zu wei­gern, zu widerstehen und u.U. auch zu desertieren. Immerhin haben mindestens drei Tornadopiloten den Kriegsdienst in diesem Zusammenhang nach Art. 4 Abs. 3 GG - auf den das Soldatenflugblatt als nächstliegendste Möglichkeit der Ver­weigerung hinwies - verweigert.

Welchen Sinn macht es, dass die Regie­renden der eigenen Geschichte so weit hinterherhinken? Da werden Soldaten feierlich auf den 20. Juli vereidigt und nahezu gleichzeitig in einen völker­rechtswidrigen mörderischen Luftkrieg geschickt. Da werden die Deserteure des 2. Weltkrieges mit über 50 Jahren Ver­spätung feierlich rehabilitiert, und hin­terher wird behauptet, ein Soldat dürfe nie und nimmer desertieren. Oder, wie es ein verurteilender Richter in seiner Urteilsbegründung ausdrückte: "Wenn der Soldat einmal dabei ist und sich für die Bundeswehr entschieden hat, dann braucht er sich im Nachhinein nicht noch einmal Gedanken über das Große und Ganze zu machen." Staatsbürger in Uniform - das scheint doch ein Wider­spruch in sich zu sein, wie der Begriff Uniform ja bereits deutlich macht: alles Differenzieren hat ein Ende, man (und Dank EU demnächst auch frau) ist eben uni-form.

Angesichts der neuen NATO-Strategie (Selbstmandatierung auch gegen die UN-Charta; Interessenverteidigung weltweit ...) werden Überlegungen zum Widerstand gegen künftige Kriege im­mer wichtiger. Die Friedensbewegung ist herausgefordert, wieder aktiver zu werden und über politische und prakti­sche Strategien des Widerstandes nach­zudenken. Aber auch die Soldaten müs­sen sich neu fragen, ob sie diesem Sy­stem weiterhin zur Verfügung stehen wollen. Sie tragen um so mehr Verant­wortung, je gesetzloser PolitikerInnen handeln. Immerhin machte auch ein Ju­stizsenator - Ehrhart Körting aus Berlin - während des Krieges auf diese Ver­antwortlichkeit aufmerksam: "Völkerrechtswidriges Handeln ist auch innerstaatlich als nicht gerechtfertigt an­zusehen. Was mutet die Nato, was mutet insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ihren eingesetzten Soldaten zu? Die Weiterführung der Luftangriffe auf Eisenbahnen, Kraftwerke, Brücken in Novi Sad, der tägliche Bombentod, könnte in nicht allzu ferner Zukunft auch die Frage der individuellen Ver­antwortlichkeit jedes einzelnen Soldaten über seine Beteiligung am Tod unschul­diger Menschen aufwerfen. Die Luftan­griffe gefährden nicht nur unschuldige Menschen in Serbien, sie gefährden auch die Handelnden."

Nächste Prozesstermine: AG Tiergarten, 12.4.00, 10.30 Uhr, Raum 456 - gegen Hanne und Klaus Vack und Dirk Vo­gelskamp; 12.4.00, 11.15 Uhr, Raum 371 - gegen Renate Hürtgen.

Aktuelle Prozesstermine können erfragt werden bei Elke Steven, Tel.: 0221-4062210 oder d. 0221-9726930

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".