Gewaltfreie Aktion

Aufrufe zum Whistleblowing als Gewaltfreie Aktion

von Hermann Theisen

Als Gewaltfreie Aktion (GA) werden alle politischen und sozialen Widerstands- und Auseinandersetzungsformen bezeichnet, die bewusst auf Gewalt gegen andere Menschen verzichten.

Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Gene Sharp unterscheidet folgende Methoden der GA: Gewaltfreier Protest und Überzeugung, soziale Nichtzusammenarbeit, Boykottaktionen, Streikaktionen, politische Nichtzusammenarbeit und gewaltfreie Intervention. Das Spektrum der von ihm zusammengestellten Aktionsformen reicht von Protestschreiben und Flugblättern über Demonstrationen, Kundgebungen, Sit-ins, Straßentheater, Aufrufen zum Konsumboykott, Streiks, „Dienst nach Vorschrift“ bis hin zu kalkulierten Regelverletzungen und bestimmten Formen der Sachbeschädigung. Und natürlich sind der Phantasie einer gewaltfreien AktivistIn keine Grenzen gesetzt, wenn er oder sie sich bedient aus dem großen Spektrum bereits etablierter Aktionsformen und diese miteinander verbindet. So wird seit geraumer Zeit vor bundesdeutschen Gerichten um die Frage gestritten, ob SoldatInnen und MitarbeiterInnen einer Rüstungsfirma dazu aufgefordert werden dürfen, die Öffentlichkeit über brisante Details ihres beruflichen Handelns zu informieren. Diese gewaltfreie Aktionsform bedient sich der klassischen Flugblattaktion und verbindet diese mit einem Aufruf zu einer kalkulierten Regelverletzung, also dem Aufruf zum „Whistleblowing“.

Als „Whistleblower“ oder HinweisgeberInnen werden Personen bezeichnet, die auf Missstände in ihrem Betrieb, ihrer Behörde oder einer anderen Organisation aufmerksam machen. Prominente Beispiele für Whistleblower, die mit ihrem Handeln eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Anliegen erreicht haben, sind Bradley Manning und Edward Snowden, die skandalträchtige militärische bzw. geheimdienstliche Informationen an die Öffentlichkeit gebracht haben und dadurch ins Visier der US-amerikanischen Justiz geraten sind. Aber auch in Deutschland hat es in den letzten Jahren immer wieder Whistleblowing-Fälle gegeben, die eine außerordentlich wichtige öffentliche Debatte über die Chancen und Grenzen des Whistleblowings und den Umgang mit HinweisgeberInnen angestoßen haben. Beispielhaft sei hier die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch genannt, die ihren Arbeitgeber wiederholt auf gravierende Mängel in der Pflege hingewiesen und am Ende eine Strafanzeige gegen ihn erstattet hat. Die Folge davon war eine fristlose Kündigung, die vom Landesarbeitsgericht Berlin als rechtmäßig erklärt worden ist. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied dann nach einem jahrelangen Rechtsstreit, dass das gegen Heinisch ergangene Urteil gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen hat. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung bewegen sich Whistleblower häufig auf einem äußerst schmalen Grat zwischen begrüßenswerter Zivilcourage und verwerflichem Denunziantentum. Was die bisher in Deutschland bekannt gewordenen Fälle des Whistleblowing aber zweifellos erreicht haben, ist eine öffentliche Wahrnehmung des Themas.

Vor bundesdeutschen Gerichten wird derzeit heftig über zwei Aufrufe zum Whistleblowing gestritten. Mit dem einen Aufruf wurden die BundeswehrsoldatInnen des Fliegerhorsts im rheinland-pfälzischen Büchel dazu aufgefordert, die Öffentlichkeit über die Hintergründe der geplanten Atomwaffenmodernisierung zu informieren. Mit dem anderen Aufruf wurden die MitarbeiterInnen der Waffenschmiede Heckler & Koch im baden-württembergischen Oberndorf aufgefordert, die Öffentlichkeit über illegale Waffendeals ihres Arbeitgebers zu informieren. Beide Aufrufe zogen strafrechtliche Konsequenzen der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften nach sich. Die Staatsanwaltschaft Koblenz klagte an, weil mit den Flugblättern zum Verrat von Dienstgeheimnissen (§§ 111, 353b StGB), und die Staatsanwaltschaft Rottweil, weil zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen aufgefordert worden sei (§§ 111, StGB, 17 UWG).

In der Folge hat das Amtsgericht Cochem (in zwei Verfahren) zu einer Geldstrafe von 3.600 Euro (120 Tagessätze) verurteilt, wogegen die Staatsanwaltschaft Koblenz Berufung eingelegt hat und damit die Verhängung einer Freiheitsstrafe erwirken will. Und das Amtsgericht Oberndorf hat einen Strafbefehl über 3.600 Euro (90 Tagessätze) erlassen, womit es im kommenden Herbst zu einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht Oberndorf kommen wird, wo Heckler & Koch seinen Stammsitz hat. Ausgelöst wurde das Strafverfahren von Andreas Heeschen (Hauptanteilseigner der Waffenschmiede Heckler & Koch), der den Flublattverteiler noch am Tag der Flugblattverteilung persönlich anzeigte und so das Strafverfahren ins Rollen brachte. Der juristische Instanzenweg beider Strafverfahren wird zeigen, ob „Aufrufen zum Whistleblowing“ ein Grundrechtsschutz zugesprochen wird.

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