Auftakt einer europäischen Bewegung?

von Bernd Schneider
Initiativen
Initiativen

Das jüngste Gipfeltreffen der Europäischen Union hat Hoffnungen geweckt. Allerdings nicht durch Erfolge auf Regierungsebene, sondern durch die beeindruckende Menschenmenge, die in Amsterdam gleichzeitig für einen Kurswechsel in der Europapolitik eintrat.

Der Sternmarsch gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und soziale Ausgrenzung konnte 50.000 Menschen mobilisieren. Am Alternativgipfel nahmen über die Veranstaltungstage verteilt über 1.000 Menschen teil. Ein halbes Dutzend weiterer Veranstaltungen - von der Helsinki Citizens Assembly bis zu den Schwulen- und Lesbenvereinigungen - konnten ebenfalls ein großes Fachpublikum anziehen.

Diese Zahlen allein haben noch keinen Neuigkeitswert. In den letzten Jahren ist es geradezu üblich geworden, daß im Schatten großer offizieller Konferenzen auch ein umfangreiches Alternativprogramm besteht. In Amsterdam - einer der NGO-Hauptstädte Europas - ist es jedoch ausgezeichnet gelungen, die Verbindungslinie zwischen den Alternativgipfeln der letzten Jahre zu betonen.

Mit Redebeiträgen aus den früheren Alternativgipfelstädten Kopenhagen, Madrid und Dublin wurde bereits auf der Eröffnungsveranstaltung ein Signal in dieser Richtung gesetzt. Die Klammer, mit der sich die Oppositionsbewegungen in den verschiedenen europäischen Ländern zusammenfassen lassen, lautet Ablehnung einer von oben diktierten europäischen Zwangsvereinigung.

Was hier abgelehnt wird, ist nicht die Idee einer friedlichen Kooperation der europäischen Bevölkerungen. Vielmehr artikuliert sich, wie die Dänin Drude Dahlerup es ausdrückte, die Furcht vor der "Schaffung eines zentral und undemokratisch per Dekret regierten europäischen Superstaates", der sich die Umsetzung neoliberalistischer Hardcore-Phantasien zum Ziel gesetzt hat.

Während sich die Großdemonstration naturgemäß auf die Betonung einiger Kernthesen im Sozial- und Beschäftigungsbereich beschränken mußte, leistete der Alternativgipfel eine intensivere Analyse der Europäischen Union und ihrer Ziele. Dem weiten Spektrum der teilnehmenden Organisationen entsprechend hatte die gastgebende Dutch Coalition for a Different Europe jeden Tag einem anderen inhaltlichen Schwerpunkt gewidmet. Mit Unterstützung von Fachvorträgen vieler renommierter Persönlichkeiten wie Vandana Shiva, Claudia Roth und James Eberle wurde die EU aus sozialer, ökologischer, feministischer, pazifistischer, internationalistischer und demokratischer Perspektive diskutiert. Leider war es nur einer geringeren Anzahl von Menschen möglich, lange genug in Amsterdam zu bleiben, um sich mit allen angebotenen Analysewinkeln auseinanderzusetzen. Derzeit liegt eine der Schwächen der beginnenden europäischen Bewegung darin, daß sich das Fachpublikum noch überwiegend im eigenen thematischen "Familienkreis" trifft, um sich dort gegenseitig selbst zu bestätigen. Der Blick über den Tellerrand auf die "Probleme der anderen" täte jedoch dringend Not, um ein breites Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen und die Diskussionen weiterzuentwickeln.

Die Summe der Diskussionen zeichnete das Bild einer Europäischen Union, die sich die Schaffung eines konzernfreundlichen Wirtschaftsklimas zum alles bestimmenden Leitmotiv erkoren hat. Der vielfach dokumentierte, unmittelbare Einfluß der Konzernlobby hat sich in der Ausrichtung der Gemeinschaftspolitik durchgesetzt. Die Interessen der Konzerne stehen jedoch zunehmend im Widerspruch zu den Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Während soziale Sorgen zunehmend individualisiert werden, streben die Erbauer des Europas von Maastricht und Amsterdam in ordnungspolitischer Hinsicht eine Bündelung der Umsetzungsmaßnahmen auf dem Brüsseler Drahtseil an, ohne zur Absicherung ein Netz demokratischer Kontrolle gespannt zu haben.

Der bestehende Interessenskonflikt ist in den verschiedenen Mitgliedsstaaten unterschiedlich stark in das Bewußtsein der Bevölkerungen gelangt. In Dänemark haben die Volksabstimmungen und die damit verbundenen Kampagnen zu einem sehr hohen Bildungsniveau der Bevölkerung zum Thema Europäische Union geführt. Oppositionelle Strukturen wie die dortige "Juni-Bewegung" repräsentieren ein historisch seltenes Bündnis von der antiautoritären Linken bis hin zu mittelständischen Unternehmen. Ihre detaillierte Kritik des gesamten EU-Projekts wurde wiederholt zum Angstfaktor für das politische Establishment.

In großen Ländern wie Deutschland hingegen, in denen Europadiskussion traditionell bestenfalls die unfundierte Übertragung nationaler Diskussionsprozesse auf die europäischen Nachbarländer bedeutet, öffnet das geringe Informationsniveau der Bevölkerung über den Sachstand der Europäischen Union eher die Tür für chauvinistischen Standortpopulismus.

Der einzige europäische Aspekt, der derzeit von einer Bevölkerungsmehrheit getragene Unionskritik mobilisieren kann, ist der bevorstehende Abschied von der D-Mark. Die öffentliche Diskussion über den Euro greift im Vorfeld des Superwahljahres 1998 vorhandene Verlustängste auf und schafft so ein Scheinbündnis der Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen. Das laute Getöse der Stoibers und Schröders übertönt fundierte und legitime Kritikansätze. Das ganze Thema Euro lenkt von anderen wichtigen europäischen Problemstellungen ab.

Öffentlichkeit und Medien haben kaum bemerkt, daß mit dem Amsterdamer Vertrag diverse Kompetenzen der nationalen Parlamente auf den Europäischen Rat und die Kommission übertragen werden, ohne dabei demokratische Kontrollinstanzen wie das Europäische Parlament adäquat zu stärken. Besonders gravierend ist dieser Entzug von Kontrollmöglichkeiten im Bereich der Inneren Sicherheit - Europolbeamte sollen gar Immunität genießen.

Die Ausstattung der Europäischen Union mit einem militärischen Arm konnte zwar noch nicht in Vertragstext gegossen werden, ein Zusatzprotokoll sieht jedoch die Ausarbeitung engerer Kooperationsmöglichkeiten zwischen EU und WEU binnen Jahresfrist vor. Sieht die Union ihre Interessen bedroht, kann sie bereits heute auf die WEU quasi als "schnellem Eingreifdienstleister" zurückgreifen. Kampfeinsätze gehören ausdrücklich dazu.

Flexibilisierungskapitel und teilweise Währungsunion läuten ein 2- Klassen-Europa ein. Zweitklassig müssen sich auch weiterhin die europäischen Frauen fühlen, deren Diskriminierung in wachsweichen Formulierungen von den Herren des Gipfels einmal mehr als Nebenkonflikt abgetan wurde, obwohl die Frauen am stärksten unter den Sparmaßnahmen im Sozialbereich zu leiden haben. Die Oberflächlichkeit der Kritik der deutschen Medien an Aspekten des Europas von Maastricht bildet hierzulande eine zu schwache Grundlage für ein mögliches breites Reformbündnis für ein anderes Europa. Der Amsterdamer Alternativgipfel hingegen lieferte in der Kombination von Analyse mit der Öffentlichkeitswirksamkeit der Europäischen Märsche ein Beispiel dafür, wie sich ein solches Bündnis nachhaltiger organisieren ließe. Zumindest die niederländische Öffentlichkeit ist heute definitiv besser über Europa informiert als vor dem Gipfel. Premier Kok muß sich nun mit einer kritikfähigeren Bevölkerung auseinandersetzen.

Das Positiverlebnis der Tage in Amsterdam lud zum Weitermachen ein. So wird es parallel zum von öffentlicher Meinung und französischen Wahlversprechen erzwungenen EU-Sondergipfel zu Beschäftigung in Luxemburg erneut einen Alternativgipfel geben. Um die Kontinuität der entstehenden Bewegung weiter zu stärken, haben zudem bereits erste Gespräche mit walisischen Organisationen stattgefunden, die während der britischen EU-Präsidentschaft im 1. Halbjahr 1998 den Alternativgipfel durchführen werden. Auch soll die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Initiativen wie dem Coates-Appeal für Vollbeschäftigung intensiviert werden.

Auf einem europaweiten und auf verschiedenen nationalen Treffen haben die Organisationsgruppen der Märsche Planungen begonnen, den aus Amsterdam mitgebrachten Motivationsschub zur Stärkung ihrer Oppositionsstrukturen zu nutzen. Dabei begleitet sie die Hoffnung, durch den ungeahnten Erfolg aus der Stigmatisierung entkommen zu können und endlich Gewerkschaften, Kirchen und andere soziale Gruppen zur Mitarbeit gewinnen zu können.

Am 30. September wird auf Einladung des BUND (Ansprechpartner: Philipp Schepelmann) ein Treffen der großen gesellschaftlichen Organisationen in Bonn stattfinden, um eine Abstimmung des Vorgehens bezüglich des Beschäftigungsgipfels zu diskutieren.

Vielleicht kann dieses Treffen sogar als Grundlage für den Aufbau einer kontinuierlichen außerparlamentarischen Struktur dienen, deren europapolitische Positionen von der Regierungsebene nicht mehr so leicht überhört werden könnten. Schließlich ist das nächste Jahr tatsächlich eines, in dem sich die politischen Entscheidungsträger dem Wahlentscheid stellen müssen.

Ausgabe

Rubrik

Initiativen
Bernd Schneider koordinierte die bundesdeutschen Aktivitäten für den Alternativgipfel und ist Herausgeber von NEWSLETTER - Zeitschrift für Internationale Kommunikation - in Hannover