Kampf um Bewegungsfreiheit versus Brutalisierte Migrationsabwehr

Auslagerung des europäischen Grenzregimes im Sahel-Sahara-Raum

von Moctar Dan Yayé
Schwerpunkt
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Die EU-Staaten investieren Milliarden von Euro in die Militarisierung und Sicherung ihrer Außengrenzen gegen Menschen auf den Flucht- und Migrationsrouten. Die Politik der Grenzzäune, Internierungslager, Massenabschiebungen, Pushbacks und Tausenden von Toten geht einher mit einer Auslagerung des europäischen Grenzregimes in Länder weit außerhalb Europas. Seit Jahrzehnten nutzen europäische Staaten ihre wirtschaftliche und politische Machtposition, um die Kooperation afrikanischer Staaten bei Grenzschutz und Migrationskontrolle zu forcieren. Einige Regierungen nutzen bereitwillig die Rolle als „Türsteher Europas“ für eigene Interessen.

Besonders im Fokus des europäischen Grenzregimes stehen die Staaten der Sahel- und Sahararegion. Während europäische Rechtsextremist*innen von Massendeportationen in nordafrikanische Länder schwadronieren, sind Deals mit den Regierungen von Tunesien, Marokko, Libyen, Ägypten und Niger längst Realität.

Andererseits wehren sich Zivilgesellschaften, aber mitunter auch staatliche Akteur*innen, in den Sahelstaaten gegen das Hineinregieren der ehemaligen Kolonialmächte in die eigenen Belange und damit auch gegen die migrationspolitischen Direktiven aus Europa.

Niger: Abkehr von externalisierter Migrationskontrolle und Kriminalisierung der Migration
Durch den Sahelstaat Niger verlaufen einige der wichtigsten Sahel-Sahararouten nach Libyen und Algerien und weiter nach Tunesien und Marokko.

Daher wurden besonders seit dem EU-Afrika-Migrationsgipfel von La Valetta erhebliche Geldsummen investiert, um diesen Staat, laut Human Development Index trotz großer Rohstoffvorkommen eines der ärmsten bzw. arm gemachtesten Länder der Welt, zu einem Türsteher Europas aufzurüsten.
Ein zentrales Instrument der Migrationskontrolle war das 2015 verabschiedete und von französischen Jurist*innen vorformulierte Schleppereibekämpfungsgesetz „loi 2015-036“. Durch dieses wurden von einem Tag auf den anderen transport- und sonstige migrationsbezogene Dienstleistungen kriminalisiert.

Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die sozioökonomische Situation besonders in der Region Agadez im Norden des Niger, in der die Migration ein bedeutender Wirtschaftsfaktor ist. Fahrer landeten im Gefängnis, Fahrzeuge wurden konfisziert und Menschen, die direkt oder indirekt von den durchreisenden Migrant*innen lebten, verloren ihre Existenzgrundlagen.  

Eine spektakuläre Wende brachte der von großen Teilen der Bevölkerung unterstützte Militärputsch gegen die formell demokratische, dennoch bei vielen unbeliebte, nigrische Regierung vom 26. Juli 2023. Der seitdem regierende „Conseil national pour la sauvegarde de la patrie (CNSP)“ erklärte das unpopuläre „Gesetz 2025-036“ mit sofortiger Wirkung für abgeschafft – eine Entscheidung, mit der die Übergangsregierung den Erwartungen der Bevölkerung nach einem Bruch mit neokolonialer Einflussnahme entgegenkam und möglicherweise auch ein politisches Druckmittel eines Staates, der sich mehr denn je inmitten volatiler geopolitischer Kräfteverhältnisse befindet.

Für die Menschen auf den Sahel-Sahara-Routen bedeutet die Abschaffung dieses Gesetzes einen beachtlichen Schritt zur Wiederherstellung von Bewegungsfreiheit, wie eindrücklich in Agadez zu sehen ist: Wie vor 2015 brechen am helllichten Tag, mit offiziell abgestempelten Tickets, die Fahrzeugkolonnen vom Busbahnhof Agadez Richtung Norden auf. Für die Reisenden zweifellos sicherer, als auf abgelegenen inoffiziellen Schleichwegen die Wüste zu durchqueren, wo es im Notfall wenig Chance auf Rettung gibt.

Die Probleme sind damit nicht aus der Welt: Manche Fahrer wählen weiterhin hoch riskante inoffizielle Wege, um den an den Kontrollposten eingehobenen Abgaben zu entgehen. Und Praktiken des kriminellen Menschenhandels, der Zwangsprostitution und der sexualisierten Ausbeutung, die durch die Kriminalisierung von Migration mehr begünstigt als unterbunden wurden, sind nach wie vor eine Bedrohung insbesondere für Frauen und Mädchen auf den Sahel-Sahara-Routen.

Somit bleibt es eine Herausforderung für solidarische Initiativen wie das Alarme Phone Sahara, weiter für Bewegungsfreiheit unter sicheren und menschenwürdigen Bedingungen einzutreten.

Maghrebstaaten: Massenabschiebungen, Pullbacks und schmutzige Deals zur Migrationsabwehr
Tunesien, Ende August 2024: 42 Menschen aus Sierra Leone und anderen subsaharischen afrikanischen Ländern, unter ihnen mehrere Kinder und drei schwangere Frauen, eine im 9. Monat, werden nach einer Welle von Verhaftungen an verschiedenen Orten Tunesiens in eine bergige Wüstenregion im Grenzgebiet zu Algerien abgeschoben. Tagelang harren die Menschen abseits bewohnter Ortschaften und ohne Zugang zu Nahrungs- und Wasserreserven aus. Die tunesische Polizei treibt sie durch Abfeuern von Schüssen auseinander, um sie vom tunesischen Territorium Richtung algerische Grenze zu treiben. Durch die Intervention solidarischer Aktivist*innen gelingt es schließlich, die Abgeschobenen mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen und eine Rettungsmission mit Unterstützung des Tunesischen Roten Halbmonds in Gang zu setzen. 28 der zum Teil schwer entkräfteten und dehydrierten Menschen können evakuiert werden. Zu mindestens 14 weiterhin in der Gegend verstreuten Personen findet das Rettungsteam keinen Zugang.

Algerisch-nigrische Grenzregion, 15km vom Dorf Assamaka entfernt, Ende August 2024: Menschen werden von einem Abschiebekonvoi, eskortiert von der algerischen Gendarmerie, am „Point Zéro“ in der Wüste im Grenzstreifen abgeladen. Mehrere haben gebrochene Gliedmaßen, einer durch einen Unfall während der Fahrt, die anderen durch Schläge der algerischen Polizisten. Ein anderer ist schwer krank und fast bewusstlos, einer ist schwer traumatisiert und spricht nicht mehr. Das Alarme Phone Sahara – Team aus Assamaka eilt mit einem kleinen Dreirad-Pickup zum Point Zéro, lädt die Verletzten und Kranken auf die Pritsche und bringt sie zur Krankenstation, andere schlagen sich zu Fuß bis zum Dorf durch.

Zwei fast zeitgleich stattfindende Szenen, zwei Momentaufnahmen von den regelmäßig stattfindenden Massenabschiebungen in die Grenzgebiete und dem unermüdlichen Kampf solidarischer Initiativen um die Rettung von Menschenleben. Der tunesische Staat hat mit den Abschiebeaktionen seit Mai 2023 im großen Stil begonnen und so die rassistischen Hetzreden des Präsidenten Kais Saied in die Praxis umgesetzt. Schon mehrmals sind Menschen dadurch zu Tode gebracht worden. Die EU-Staaten belohnen das brutale Vorgehen mit einem Abkommen zur Migrationskontrolle, das dem tunesischen Staat Kredite von mehr als einer Milliarde Euro verspricht. Das in Wien ansässige „International Centre for Migration Policy Development (ICMPD)“ ist bereits seit Jahren an Trainingsprogrammen für tunesische Grenzschützer*innen beteiligt.

Der algerische Staat hat zwar bislang kein offizielles Abkommen mit den EU-Staaten, betreibt aber auf eigene Initiative und mit steigender Tendenz Razzien und Massenabschiebungen und bringt sich so als einer der unerbittlichsten Akteure des Grenzregimes im Sahel-Sahara-Raum in Stellung. Seit Anfang 2024 bis Ende September wurden mehr als 20.000 Menschen, größtenteils Bürger*innen vieler verschiedener subsaharischer afrikanischer Staaten, an die algerisch-nigrische Grenze abgeschoben. Auch dabei kommen Menschen zu Tode, u.a. mindestens sieben im Mai 2024, neben weiteren, die entkräftet und krank auf der Krankenstation in Assamaka verstarben.

Besonders seit 2023 beobachtet das Alarme Phone Sahara die vermehrte Tendenz zu Kettenabschiebungen von Tunesien an die algerische Grenze und anschließend weiter an die nigrische Grenze. Parallel dazu haben im Süden Libyens Milizen des Generals und Warlords Khalifa Haftar seit Kurzem ebenfalls damit begonnen, im großen Stil Migrant*innen in den Niger abzuschieben.

Zu diesen Szenarien passt es, dass sich im April 2024 Vertreter*innen des algerischen, des tunesischen und des libyschen Staates offiziell zu einer sog. Maghreb-Allianz zusammengeschlossen haben. Ermutigt von den EU-Staaten, die dafür mit Geld winken, hat sich diese das Ziel gesetzt, verstärkt bei der Migrationsabwehr zu kooperieren und mit Repression und Härte gegen das Ankommen von Menschen über die nigrischen Reiserouten zu reagieren.

Festsitzen im Niger
Durch die Massenabschiebungen aus Tunesien, Algerien und Libyen sitzen tausende von Menschen in Assamaka, Agadez, Arlit, Dirkou und anderen Orten im Niger fest. Viele stehen völlig mittellos da, nachdem ihnen die Polizist*innen vor der Abschiebung Geld, Handys, Wertgegenstände und manchmal sogar die Schuhe abgenommen haben. Sie können weder ihre Reise fortsetzen noch zurück in die Herkunftsländer. Mangels sonstiger Perspektiven begeben sich viele in die sog. freiwilligen Rückkehrprogramme der International Organisation of Migration (IOM). Allerdings funktionieren diese oft nur mit großen Verzögerungen und viele finden, angeblich mangels Platzkapazitäten, gar keinen Zugang zu den IOM-Camps. So haben viele der im Niger festsitzenden Menschen keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, in den Migrant*innenghettos unterzukommen oder sich auf der Straße durchzuschlagen. Ihre Lebensbedingungen sind extrem prekär. Besonders Frauen und Mädchen sind bedroht von sexualisierter Ausbeutung und Gewalt. Fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung führt auch zu Todesfällen, besonders bei Kindern, durch Infektionskrankheiten wie Masern.

Immer wieder wenden sich migrantische Communities mit Protestaktionen und Videobotschaften an die IOM oder auch an verschiedene afrikanische Regierungen und fordern eine zügige Evakuierung und Rückkehr in ihre Herkunftsländer – nicht, weil das normalerweise ihr Wunsch wäre, sondern weil ihnen keine andere Perspektive mehr bleibt.

All das spielt sich vor einem Hintergrund ab, wo auch ein großer Teil der einheimischen nigrischen Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten, selbst am Existenzminimum lebt und von Ernährungskrisen betroffen ist. Nigrische Staatsbürger*innen, darunter auch oft Frauen mit Kindern, sind selbst eine der größten Gruppen derjenigen, die auf der Suche nach Einkommensmöglichkeiten in die Maghrebstaaten reisen und dort von den Razzien und Massenabschiebungen bedroht sind.

Die Situation im Niger zeigt eindringlich, wie die europäischen Staaten die Verantwortung für das Überleben der Menschen, die flüchten müssen oder nach besseren Lebensbedingungen suchen, auf eines der verarmtesten Länder der Welt abwälzen. Praktische Solidarität von Initiativen wie Alarme Phone Sahara, Alarmphone Watch the Med oder Refugees in Libya ist gefragt, um diese Zustände nicht tatenlos hinzunehmen.

Hintergrundinformationen: alarmephonesahara.info, alarmphone.org und refugeesinlibya.org

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Moctar Dan Yayé (Niamey/Nouakchott) arbeitet für das Alarme Phone Sahara.