Münchhausen

Australien: 100 Jahre ANZAC Mythos

von Volker Böge

25. April 2015 in Australien: Hunderttausende in den großen Städten und im entlegensten Kaff sind auf den Beinen bei Paraden und Gedenkfeiern, Politikerreden ohne Ende, Gottesdienste, Sondersendungen auf allen TV-Kanälen, Dokumentationen, Fernseh-Serien, Diskussionsrunden, Life-Schaltungen, alle Tageszeitungen mit dicken Beilagen oder Sonderausgaben. Es ist ANZAC Day. Das ist alljährlich ein arbeits- und schulfreier Feiertag. Spezielles Gebäck gibt es dazu auch: ANZAC Biskuits (staubige Kekse). Die Nation feiert sich selbst. Dieses Jahr besonders heftig. Denn es ist ein runder Feiertag: Der 100. Jahrestag. Von was? Einem absurden Gemetzel, bei dem Tausende junge Australier – und Zehntausende junge Männer anderer Nationen - zu Tode kamen.

Am 25. April 1915 landeten die ersten Verbände des Australia New Zealand Army Corps (ANZAC) in einer Bucht – die später den Namen ANZAC Cove erhalten sollte - auf der Halbinsel Gallipoli an den Dardanellen, um im Rahmen einer groß angelegten Offensive zusammen mit britischen, französischen u.a. Truppen die Halbinsel zu erobern, die Meerenge der Dardanellen für die alliierten Seestreitkräfte freizukämpfen und schließlich Konstantinopel, das heutige Istanbul und damals Hauptstadt des mit Deutschland im Ersten Weltkrieg verbündeten Osmanischen Reiches, einzunehmen. So der Plan. Der scheiterte allerdings grandios. Das Landungsunternehmen blieb im Abwehrfeuer der osmanischen Verteidiger stecken. Die alliierten Truppen konnten nur zwei Brückenköpfe bilden und mussten sich in einem schmalen Küstenstreifen eingraben. Es folgten – für den Ersten Weltkrieg charakteristische – Grabenkämpfe, in der keine Seite größere Geländegewinne machen konnte. Die australisch-neuseeländischen Truppen hatten mit ihrer Bucht einen besonders schwierigen Abschnitt erwischt, und die monatelangen Kämpfe kosteten 8.587 australischen Soldaten das Leben (es kamen zudem um: rund 32.000 Briten, 9.000 Franzosen, 2.700 Neuseeländer, 1.300 Inder sowie rund 57.000 Untertanen des Osmanischen Reichs). Ende Dezember 1915 wurde das Unternehmen abgebrochen, die alliierten Truppen bzw. das, was von ihnen noch übrig war, verzogen sich bei Nacht und Nebel: nach sieben Monaten unsinnigen Gemetzels eine eindeutige militärische Niederlage (und dann auch noch eine Niederlage gegen den ‘Kranken Mann am Bosporus’!).

Das Gallipoli-Unternehmen – ein im Gesamtzusammenhang des Ersten Weltkriegs recht unerhebliches Ereignis – ist in australischer Politik und Öffentlichkeit seit nun 100 Jahren Anlass für hemmungslose Heldenverehrung, wird als ‚Geburtsstunde der Nation’ abgefeiert und heutzutage zum Ausweis der Opferbereitschaft für ‘Freiheit und Demokratie’ verklärt.

Was geschehen war ...

Begeistert war Australien im August 1914 dem britischen Mutterland in den Krieg gefolgt. Auch die starke Labour-Party war – wie die sozialdemokratischen Parteien anderswo – für den Krieg. Tausende von jungen Männern meldeten sich – vornehmlich aus Reise- und Abenteuerlust, wie es heißt – freiwillig zu den Fahnen; eine Wehrpflicht gab es nicht. Sie wurden dann bei Gallipoli und an der europäischen Westfront verheizt. Australien hatte – gemessen an der Bevölkerungszahl – im Ersten Weltkrieg die höchsten Verluste, und es war für das Land der (bisher) verlustreichste Krieg. Bei einer Bevölkerung von damals knapp drei Millionen stellte Australien 300.000 Soldaten für den Krieg in Europa; davon wurden 60.000 getötet; 156.000 wurden verwundet oder gerieten in Gefangenschaft. Das war für die junge Nation ein unerhörter Schlag. Die anfängliche Begeisterung legte sich denn auch bald. Die Freiwilligen-Meldungen gingen mit zunehmender Kriegsdauer kontinuierlich zurück. Zwei Versuche der australischen Regierung im Oktober 1916 und im Dezember 1917, die Wehrpflicht per Volksabstimmung einzuführen, um den Anforderungen der britischen Führung nach mehr ‚Menschenmaterial’ nachkommen zu können, scheiterten knapp. Die Verklärung des Gemetzels an den Dardanellen und die Umdeutung der militärischen Niederlage in einen moralischen Sieg dienten denn auch zunächst dazu, den Kampfeswillen an der Heimatfront zu stärken und für intensivierte Kriegsanstrengungen zu werben. Und so wird seit 1916 am 25. April ANZAC Day gefeiert und der ‚Spirit of ANZAC’ beschworen.

In der nachträglichen Deutung wird dem Gemetzel auf Gallipoli der ‚Sinn’ unterschoben, dass dort in den Schützengräben die australische Nation geschmiedet worden sei. Tatsächlich hatten sich die britischen Kolonien auf dem australischen Kontinent erst 1901 zu einem Staat, dem ‚Commonwealth of Australia’, zusammengeschlossen. Den australischen Nationalstaat gab es zu Beginn des Ersten Weltkrieges also seit gerade 13 Jahren, und die Weltkriegsteilnahme wurde zum ersten Unternehmen mit nationaler Dimension. Während die Staatsgründung 1901 ein recht nüchterner administrativer Vorgang gewesen war, der wenig nationalistische Begeisterung hervorrief, konnte das Gallipoli-Unternehmen zur eigentlichen Geburtsstunde der Nation überhöht werden. Dort hatten sich Australiens Söhne in den Schützengräben bewährt, und sie hatten sich geopfert, damit die Nation geboren werden konnte. In dieser Lesart, die bis heute hegemonial ist, hat der Krieg Australien ‘gemacht’. Gallipoli war die (Feuer-)Taufe der Nation.

Zugleich sei durch den Einsatz in Gallipoli Australien auf der Bühne der Weltpolitik angekommen und habe sich in den Augen ‘der Welt’ bewährt. Diese ‘Welt’ war allerdings vor allem die herrschende Elite im britischen Mutterland, an deren Anerkennung und Lob der australischen Elite so gelegen war wie einem folgsamen Sohn an Anerkennung und Lob vom gestrengen Vater. Durch die Opfer bei Gallipoli habe man bewiesen, dass man in Treue fest zum britischen Mutterland und Empire stehe. Die Narrative von der Geburt der Nation und der Bindung an das britische Empire gingen bei den ersten ANZAC-Feiern Hand in Hand.  

Diese Feiern während des Krieges dienten auch dazu, den Patriotismus und die Kriegsbegeisterung aufrecht zu erhalten. Die Fronten brauchten dringend Nachschub an Menschenmaterial, und so wurde die Beschwörung des Opfermutes der Helden von Gallipoli als Rekrutierungsmittel eingesetzt und in Kampagnen für die Wehrpflicht instrumentalisiert. Die KriegsbefürworterInnen nutzten die ANZAC-Feiern zur Hebung der Moral an der Heimatfront, um die es angesichts hoher Verluste und der Rückkehr physisch sichtbar versehrter und psychisch gebrochener Kriegsveteranen nicht gut bestellt war. Persönliche Trauer um die verlorenen Söhne, Brüder, Enkel, Freunde hatte da keinen Platz.

Die ANZAC-Feiern stießen während des Krieges auf Ablehnung in großen Teilen der australischen Bevölkerung, etwa in der Arbeiterschaft und bei der großen irisch-stämmigen katholischen Bevölkerungsgruppe (mehr als 20% der damaligen Bevölkerung), die mit britischem Patriotismus wahrlich nicht zu begeistern war (der Osteraufstand gegen die Briten in Dublin fiel in die Zeit der ersten ANZAC-Feiern 1916). Der ANZAC-Mythos war anfangs eine Sache der königstreuen, protestantischen, konservativen Bevölkerungsteile und keineswegs der große die Nation vereinigende Faktor, als der er heute dargestellt wird.  

Heutzutage wird am ANZAC Day der Toten aller australischen Kriege gedacht. Und da kommt Einiges zusammen: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man an der Seite des neuen großen Bruders USA jede größere Operation mitgemacht: Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan und jetzt wieder Irak und Syrien.

Und heute ...
Der heute gebetsmühlenhaft wiederholte Topos, dass die jungen Australier in Gallipoli 2015 für ‘uns’, für ‘unsere Demokratie’, für ‘Freiheit’, für ‘unsere Werte’ (wie Menschenrechte und Multikulturalismus) gefallen seien, hat mit der Realität nichts zu tun: getötet haben sie und getötet wurden sie damals für ‘King and Empire’, für das britische Weltreich - und das fern der Heimat, beim Angriff auf ein fremdes Land und Volk. Und so kommen im öffentlichen Gedenken auch nur ‘Opfer’ und ‘Heldenmut’ vor, nicht aber die historischen Zusammenhänge und die Ursachen und Motive für das Gallipoli-Unternehmen.

Die türkische Seite pflegt übrigens ihren eigenen Gallipoli-Mythos: Befehlshaber der osmanischen Truppen dort war Kemal Atatürk, der ‘Vater’ der modernen Türkei. Gallipoli gilt als Meilenstein auf dem Weg zum türkischen Nationalstaat. Mit dem Abfeiern der ‘Heldentaten’ der Türken bei Gallipoli zur Verteidigung der Heimat lässt sich komfortabel ablenken von dem zur selben Zeit verübten Genozid an den Armeniern.

Das Ergebnis der Abstimmungen über die Wehrpflicht 1916 und 1917 ist heute weitgehend unbekannt und wird verschwiegen, um den Mythos von einer einig für den Krieg eintretenden Nation zu kolportieren. In Wirklichkeit war die australische Gesellschaft während des Krieges politisch und sozial tief gespalten; doch diese Wahrheit passt nicht in die heutige politische Landschaft. Es ist zu erwarten, dass die Jahrestage der Wehrpflicht-Abstimmungen von 1916 und 1917 von der australischen Mehrheitsgesellschaft und den Medien der veröffentlichten Meinung mit Schweigen übergangen werden. Dabei haben jene Menschen, die die Kampagnen gegen die Wehrpflicht geführt und damit Tausenden junger Männer, die sonst als Kanonenfutter für den Krieg in Europa verschifft worden wären, das Leben gerettet haben, ehrendes Gedenken wahrlich verdient.   

 

Der Autor dankt Mark Cryle, Brisbane, für Interpretationshilfen und die Einsicht in seine in Arbeit befindliche Dissertation über den ANZAC-Mythos.

Der Beitrag wurde von der Redaktion leicht gekürzt. In vollständiger Fassung kann er auf http://www.aixpaix.de/muenchhausen/muenchhausen.html nachgelesen werden.

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