Buchbesprechung

Autoritäre Versuchungen – Signaturen der Bedrohung

von Renate Wanie
Hintergrund
Hintergrund

Wie entsteht die Empfänglichkeit so vieler Menschen für autoritäre und rechtspopulistische Angebote? Dieser Frage geht der Soziologe Wilhelm Heitmeyer in seinem Buch „Autoritäre Versuchungen – Signaturen der Bedrohung“ (1) nach. Mit „Signaturen der Bedrohung“ sind Spuren gemeint, die Bedrohungen in Gesellschaften und bei Individuen als dauerhaftes Erkennungszeichen hinterlassen. Angesichts vieler gefühlter Bedrohungen wie beispielsweise Erwerbslosigkeit, Desintegration, Globalisierungsprozesse oder Flüchtlingsbewegungen entstehe nicht nur ein Kontrollverlust, sondern auch entsprechende Sicherheitsbedürfnisse, die in der Folge viele Menschen für „autoritäre Versuchungen“, d.h. für autoritäre politische Angebote aus dem rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Spektrum empfänglich werden lassen. So eine der Thesen des Soziologen, gewonnen aus seinen Befragungen in den Jahren 2002-2011. Die aktuelle Entwicklung der AfD analysiert er in einem besonderen Kapitel.

Für diejenigen, die den Aufwind der rechtsextremen Bewegungen verstehen wollen, sind Heitmeyers Analysen eine absolute Pflichtlektüre!

Zentrale Begriffe in Heitmeyers soziologischen Analysen sind Verunsicherungen und Entsicherungen, Kontrollverluste, autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung, Desintegrationsdynamik in „entsicherten Zeiten“, Ökonomisierung des Politischen und  autoritärer Nationalradikalismus. Grafische Übersichten und Zahlentabellen aus repräsentativen Befragungen über zehn Jahre belegen die Ergebnisse und tragen zum besseren Verständnis bei.

Dieses Buch ist ein Ergebnis der jahrzehntelangen soziologischen Untersuchungen von Heitmeyer, die er gemeinsam mit Kolleg*innen am Bielefelder Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung durchführte. Es sind Ergebnisse seines Langzeitprojektes „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF), die in die zehnbändige Reihe „Deutsche Zustände“ (2002-2011) eingeflossen sind. (2)

Neue deutsche Brüche
Heitmeyer beginnt mit einem Rückblick auf die Nachkriegszeit, in der kleinere Rechtsaußen-Parteien, wie z.B. die Deutsche Partei (DP) ins Parlament einzogen, die rechtsextreme NPD 1969 jedoch knapp am Einzug in den Bundestag scheiterte. Als „neue deutscher Brüche“ deutet er den Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag 2017, eine erstmals weit rechts platzierte Partei im Bundesparlament mit 92 Abgeordneten in Gestalt eines „Autoritären  Nationalradikalismus“. Heitmeyer sieht die AfD als Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie. Bereits seit einigen Jahren habe sich die „politische Unkultur“ durch höchst aggressive Konfliktaustragungen in Demonstrationen, insbesondere in Ostdeutschland, gezeigt. In der Hassbeschallung der Rechtsextremen bekomme das „Deutsch-Sein“ wieder einen bedrohlichen Klang. Wechselseitige Vorwürfe bezüglich einer angeblichen „Deutschversessenheit“ im Osten und einer „Deutschvergessenheit“ im Westen spiegeln diese deutschen Brüche, die allerdings nicht aus dem Nichts kommen. Denn auseinanderdriftende Einstellungen und Mentalitäten seien bei den jeweiligen Teilen der Bevölkerung über Jahre, ja sogar Jahrzehnte herangereift.

,Im Kapitel 4 „Entsicherte Jahrzehnte“, analysiert Heitmeyer das Ergebnis dieser strukturellen Krisen und bezieht sich dabei auch auf den Soziologen Ulrich Oevermann und seine Konzeption, derzufolge Krisen entstehen, „wenn bisherige individuelle, soziale, ökonomische und politische Routineabläufe nicht länger den praktischen Zwecksetzungen und Nutzungserwartungen entsprechen. Althergebrachte Erfahrungsbestände erweisen sich nicht mehr als tragfähig.“ Sie werden im Verlauf der Krise in Frage gestellt. Das betreffe auch die Zukunftsaussichten. Zwei Varianten lassen sich unterscheiden: Entsicherungen auf der strukturellen Ebene der Gesellschaft und Verunsicherungen, die auf der individuellen Ebene wirken. Letztere beziehen sich auf Fragen wie die folgenden: Was stimmt eigentlich noch? Wie muss ich das bewerten? Wie muss ich mich zukünftig verhalten? Ein Gefühl von Bedrohung entsteht sowie die Sehnsucht und das Bedürfnis nach Sicherheit. Ängste von Kontrollverlusten, die in Teilen der Bevölkerung „ihre unheilvolle Wucht entfalten und zu unterschiedlichen autoritären Reaktionen führen können.“

Verunsicherungen und Entsicherungen
Ein Potenzial von Verwerfungen, Verunsicherungen und Entsicherungen werden nach Heitmeyer von drei „Einflusstypen“ gespeist. Erstens von sogenannten „Signalereignisse(n), die sich ins kollektive Gedächtnis der betroffenen Menschen, Gruppen oder gar Gesellschaften“ einkerben. (S. 90 ff) Das waren z.B. 2001 der Terroranschlag auf das World Trade Center (Sicherheitskrise), 2003-2006 im ökonomischen Bereich die Umsetzung der Hartz-Reformen, maßgeblich von Sozialdemokrat*innen implementiert, 2008 die Insolvenz der Investmentbank der Lehman Brothers (Finanzkrise), 2004-2017 die meist von Islamist*innen organisierten Terroranschläge in europäischen Städten (Sicherheitskrisen, einhergehend mit Integrationskrisen) und 2014 beispielsweise die Flüchtlingsbewegungen sowie 2015/16 die Silvesternacht in Köln (nach Heitmeyer ein emotional ausbeutbares Signalereignis) – ein „Signal der Bedrohung“ für große Teile der Bevölkerung und, nach Heitmeyer – nicht Ursache, sondern Beschleunigungsfaktor für die Ausbreitung für autoritäre Versuchungen des „autoritären Nationalradikalismus“.

Zweitens führt Heitmeyer Prozesse an, die nicht öffentlich thematisiert werden, aber mit „vergiftender“ Wirkung in das gesellschaftliche Leben eindringen und z.B. zur Orientierungslosigkeit führen. In den Befragungen wurde deutlich, dass sich in Teilen der Bevölkerung ein Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit verbreitet, das eine weitergehende Demokratieentleerung zur Folge hat. Eine Rolle spielt dabei auch, dass in Medien in herablassendem Ton über solche Wahrnehmungen und Gefühle berichtet werde. Diese Entwicklung berge ein enormes Mobilisierungspotenzial für autoritäre politische Bewegungen und Parteien, so Heitmeyer. (S. 91)

In Veröffentlichungen über Ausgrenzung und Diskriminierung weniger beachtet wird häufig die Ökonomie, die in marktfernen Bereichen, wie im Politischen, Sozialen und der Bildung längst den Ton angebe. So nennt der Soziologe drittens „das Eindringen kapitalistischer Imperative wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz in sozialen Beziehungen – mit dem Ergebnis, dass ökonomische Kriterien zur Beurteilung von Menschen um sich greifen.“ (S. 90)

Hier spricht Heitmeyer vom „autoritären Kapitalismus“ und seinen Mechanismen (S. 90) „Eine Voraussetzung für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und autoritäre Folgebereitschaft in der Bevölkerung“ (S. 129). Mit den Auswirkungen ökonomischer wie auch kultureller Globalisierungsprozesse auf die innergesellschaftlichen sozialen und politischen Prozesse gehe auch eine Rückentwicklung liberaler demokratischer Prozesse einher, „so dass neue autoritäre Versuchungen an Gewicht gewinnen können.“ (S. 30)

Die AfD
Dem „autoritären Nationalradikalismus“ und seinen Mechanismen hat Heitmeyer ein Extra-Kapitel gewidmet, insbesondere der AfD. Mit seinem Begriff des autoritären Nationalradikalismus grenzt er sich von dem „geradezu inflationär verwendeten“ Begriff des Rechtspopulismus und seiner definitorischen Unbestimmtheit ab. Heitmeyer verweist auf die weit verbreitete Verwendung in anderen europäischen Ländern wie z.B. Frankreich und Dänemark; in Deutschland habe es bis zur Spaltung der AfD im Jahr 2015 keine rechtspopulistische Partei gegeben. Doch es habe sich „so etwas wie eine allgemein akzeptierte Definition von Populismus etabliert“. Danach sei eine Bewegung dann populistisch, wenn „ihr die Unterscheidung zwischen dem wahren Volk einerseits und den ausbeuterischen, dekadenten, volksverräterischen Eliten andererseits“ zugrunde liege. Damit haben Populist*innen erstaunlichen Erfolg. Der Rechtspopulismus im Speziellen zeichne sich dadurch aus, dass er das populistische Grundprinzip um eine nationalistische Rhetorik ergänze. (S. 231) In einer Grafik stellt Heitmeyer dem Rechtspopulismus und Rechtsextremismus / Neonazismus den autoritären Nationalradikalismus gegenüber. (S. 236)

Zudem habe die Ausrichtung der Partei AfD spätestens seit der Flüchtlingsbewegung 2015 zu starken Veränderungen geführt, eine neue Klassifikation sei erforderlich. Dafür fasst Heitmeyer unterschiedliche Ebenen zusammen: prägende Einstellungsmuster, zentrale programmatische Aussagen zu „bewegenden Themen“ und den Mobilisierungsstil. Daraus ergeben sich drei markante Charakteristika: Erstens: Die AfD ist als eine autoritäre Partei zu bezeichnen, dazu gehören z.B. „Forderungen nach rigider Führung in politischen Institutionen nach einer streng hierarchisch organisierten sozialen Ordnung“ sowie das Verständnis von Politik und Gesellschaft, das wesentlich auf Kampf und Konflikt beruhe. Zweitens: Das „nationale Moment“ liege in der Betonung der außerordentlichen Stellung des deutschen Volkes, sie reiche von „Deutschland zuerst“ bis „Deutschland den Deutschen“. Das sei ein deutlicher Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Völkern und beispielsweise ethnischen wie religiösen Gruppen. Drittens: das Radikale: Die AfD wolle mit ihren Repräsentant*innen öffentlichkeitswirksam „die offene Gesellschaft bekämpfen und die liberale Demokratie grundlegend umbauen“. Dazu bediene sie sich eines „rabiaten und emotionalisierten Mobilisierungsstils“, in Verbindung mit „menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen“. (S. 234 ff) Nicht unwichtig ist in diesem Kapitel auch der Hinweis auf personelle Kontakte, die beispielsweise zwischen AfD-Mitgliedern und der „Identitären“ Bewegung bestehen, die dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen ist. Heitmeyers Schlussfolgerung: Das alles mache die AfD jedoch nicht zu einer faschistischen Partei: Ihr fehlen (hier zitiert er Volker Weiß) „wesentliche faschistische Elemente wie die Ausrichtung auf einen Führer, die paramilitärischen Elemente und eine offene Kultur der Gewalt.“ (3)

Diese Veröffentlichung von Heitmeyer ist nicht denkbar ohne die Forschungsarbeiten über Jahrzehnte am Bielefelder Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, das Heitmeyer bis 2013 als Direktor geleitet hat. Auf den 394 Seiten ist jedes der 16 Kapitel aufschlussreich und spannend zu lesen. In seinem Vorwort weist Heitmeyer darauf hin, dass sich seit dem Erscheinen dieses Buches im Jahr 2018 weitere radikalisierende Entwicklungen vollzogen haben. Im Forschungszeitraum seien sie bereits prognostiziert worden, konnten jedoch nicht mehr im Detail dargestellt werden. Diese Prognose kann aktuell nur bestätigt werden.

Denn in Anbetracht der „dargestellten langfristigen Erfolgsgeschichte autoritärer Parteien (vgl. Kapitel 15) und der nicht auf gesellschaftliche Integration ausgerichteten Entwicklungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems wird viel von der Kraft“ (S. 372) in der Gesellschaft abhängen, den autoritären Versuchungen in Teilen der Bevölkerung etwas entgegen zu setzen: mit der Organisierung von öffentlichem Widerstand gegen rechtsradikale Bewegungen und politisch radikalen Entgegnungen gegenüber einer autoritären nationalradikalen Partei wie der AfD - für eine offene Gesellschaft und eine liberale Demokratie.

Anmerkungen
1 Heitmeyer Wilhelm: Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung. Edition Suhrkamp, 2018

2 Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Folgen 1-10, Edition Suhrkamp 2002-2012

3 Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 8

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