Im Käfig aus Angst

Baltische Staaten

von Hanne-Margret Birckenbach
Schwerpunkt
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Im Juni 2016 hatte der dänische NATO-Kommandeur in Litauen, Jakob Larsen, formuliert: „We need to learn to fight total war again.“ Im April 2024 entsandte nun der deutsche Verteidigungsminister Soldat*innen nach Litauen mit den Worten: „Mit dieser kriegstüchtigen Brigade übernehmen wir eine Führungsverantwortung im Bündnis hier an der NATO-Ostflanke.”

2027 soll die Brigade 5000 Soldat*innen umfassen, die mit ihren Familien dauerhaft in der Nähe von Kaunas und/ oder Vilnius leben. Auch wenn die Finanzierung noch ungeklärt ist, spricht die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, von einem „Leuchtturmprojekt der Zeitenwende“. Sein Zweck ist, Russland zu signalisieren, dass ein Angriff auf Litauen als Angriff auf Deutschland interpretiert werden würde und Deutschland bereit sei, den Suwałki-Korridor zu verteidigen. Es handelt sich um einen rund 65 km breiten und 100 km langen Landstrich zwischen Litauen, Polen, Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad.

Die Konfliktkonstellation im nordöstlichen Europa ist lange bekannt.
Im Juni 2001 hatte der damalige EU-Kommissar Patten in präventiver Absicht vor einem Bogen der Gefahr und Instabilität von Kaliningrad im Norden bis nach Zentralasien und vor einer Balkanisierung der Ostseezusammenarbeit gewarnt. Außenminister Fischer schlug die Warnungen in den Wind. Er sprach von einer Baltisierung im Sinne der positiven Gestaltung der Beziehungen zwischen Ost und West. Viele glaubten ihm. Sie hatten die Singende Revolution vor Augen. Die baltischen Staaten hatten Ideen der Sozialen Verteidigung aufgenommen, internationale Organisationen halfen, die Staatsbürgerschafts- und Sprachenkonflikte in Estland und Lettland im Rahmen von präventiver Diplomatie zu bearbeiten. Die KSZE/OSZE entsandte von 1993 bis 2001 zu diesem Zweck eine Langzeitmission nach Tallin und Riga. Dann verweigerten Estland und Lettland eine Verlängerung der Missionen als diskriminierend. Russland hatte noch 1999 vorgeschlagen, die Exklave Kaliningrad zu einer Pilotregion der EU-Russland-europäischen Zusammenarbeit zu machen. Aber in der EU war man nicht in der Lage und nicht willens, diesen Gedanken aufzugreifen. Nach einem massiven Rückzug russischer Truppen Ende der 1990er Jahre wurde die Oblast Kaliningrad um 2008 nach dem von den USA angekündigten Bau des Raketenschutzschildes in Polen und Tschechien wieder aufgerüstet, und es wurden Raketen stationiert, die atomar bestückt werden können. Seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit regiert in den baltischen Staaten die Angst vor Russland. Für sie gibt es Gründe: Historiker*innen verweisen auf die Erfahrung sowjetischer Besatzung, Deportation und Unterdrückung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Militärstrateg*innen verweisen angesichts einer 1300 km langen Grenze zum hochgerüsteten Russland in der nordeuropäischen Tiefebene auf die Verwundbarkeit der Baltischen Staaten. Russlandkenner*innen verweisen auf die Verrohung russischer Innen- und Außenpolitik, auf respektlose und provokative Äußerungen, Drohungen und verdeckte Aktionen Russlands gegen die Baltischen Staaten sowie auf seine brutale Kriegsführung in Tschetschenien, Georgien und gegen die Ukraine.

Aus Sicht der baltischen Staaten ist und bleibt Russland von seinem Wesen her eine immerwährende Gefahr, die es abzuwehren gilt.

  • Mit der Sorge, Russland werde die russischsprechende Bevölkerung als Einfallstor benutzen, begründen Estland und Lettland eine politisch und sozial ausgrenzende Sprachen-, Kultur- und Erinnerungspolitik.
  • Die Mitgliedschaft in der NATO ist die wichtigste Rückversicherung. Mehr noch als auf die NATO setzen die baltischen Staaten auf die USA. Daher haben sie sich 2003 der „Koalition der Willigen“ gegen die von US-Präsident George W. Busch ausgerufenen „Achse des Bösen“ angeschlossen und den Angriff der USA auf den Irak unterstützt. Auch haben sie ihre Militär- und Rüstungsausgaben laufend erhöht und drängen nun zögernde NATO-Staaten, nach baltischem Vorbild das 3%-Ziel zu erreichen.
  • Aus ihrer Abneigung gegen die OSZE, in der Russland Mitglied ist, haben die baltischen Staaten nie einen Hehl gemacht. Alle Bemühungen um Rüstungskontrolle innerhalb der OSZE haben sie abgelehnt. Das gilt für den 1992 in Kraft getretenen Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), für das von den NATO-Staaten nicht ratifizierte Anpassungsabkommen von 1999 sowie für den auf Initiative des damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 begonnenen „Strukturierten Dialog“ zur Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle. Auch heute setzen die baltischen Staaten auf militärische Konfrontation und stellen Bedingungen. Eine Sicherheitskooperation mit Russland im Bereich der Rüstungskontrolle könne erst dann wieder aufgenommen werden, wenn Russland alle Truppen aus umstrittenen Gebieten im postsowjetischen Raum zurückgezogen hat. (1)
  • Alle baltischen Staaten investieren in den Ausbau ihrer Territorialverteidigung mit Schutzräumen in U-Bahnen und Schulen, Bunkern an den Grenzen zu Russland und Belarus sowie mit freiwilligen Bürgerwehren.
  • Erfolgreich haben die baltischen Staaten innerhalb der NATO darauf gedrängt, die Einsatzfähigkeit der Reaktionskräfte zu erhöhen, die Präsenz multinationaler Kampfverbände zu gewährleisten, eine Strategie der Vorneverteidigung zu entwickeln, die Überwachung des Luftraums und die Manövertätigkeit zu verstärken und den militärischen Dialog mit Russland abzubrechen.
  • Zur psychologischen Angstverarbeitung gehört die Angstverleugnung. So sagte die estnische Premierministerin Kaja Kallas über Putin in einem Interview der Tagesschau am 20.2.2024: „Er will, dass wir Angst haben. Aber damit würden wir ihm geben, was er will. Deshalb sollten wir keine Angst haben.“

Die baltischen Staaten besser zu verstehen, heißt ihre Angst vor Russland anzuerkennen. Solidarität bedeutet jedoch nicht, ihre Strategien der Angstverarbeitung zu übernehmen.

Denn sie verringern weder die Bedrohung durch Russland noch die Angst vor Russland. Militärstrateg*innen zweifeln, ob die NATO ihr Schutzversprechen der grenznahen Vorneverteidigung von so kleinen Territorien erfüllen kann, ohne die baltische Bevölkerung zu opfern. Russland kann die baltischen Staaten trotz der Präsenz der NATO vermutlich angreifen. Dass es davor zurückschreckt, ist ebenfalls möglich. Aber dass Russland militärische Bewegungen an seinen westlichen Außengrenzen anders wahrnimmt als erwünscht, und die verstärkte NATO-Präsenz an den russischen Grenzen als Bedrohung interpretiert, ist keinesfalls unwahrscheinlich.

Niemand glaubt den Aussagen des russischen Präsidenten, er wolle die baltischen Staaten nicht angreifen. Aber keine verifizierbaren Vereinbarungen, keine Transparenz von Manöveraktivitäten, kein persönlicher Austausch auf militärischer und politischer Ebene hemmt heute eine Dynamik der Missverständnisse, Irrtümer und Fehlentscheidungen. Auch die Bedingungen für einen abwägenden Diskurs über die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der regionalen Rüstungsdynamik haben sich verschlechtert.

Ratlosigkeit über die Gestaltung eines zukünftigen Zusammenlebens in Europa hat sowohl die politischen Ebenen in den Hauptstädten, wie auch die europäischen Zivilgesellschaften erfasst. Bei Vorverhandlungen für einen Waffenstillstand in der Ukraine wird es nicht nur um Sicherheitsgarantien für die Ukraine gehen. Es wird auch um die Kontroversen im Westen gehen, ob und unter welchen Bedingungen Russland Teil einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur sein kann, die auch von den baltischen Staaten befürwortet wird. Sie wollen Garantien vor einer Fortsetzung der Kämpfe an ihren Grenzen. Ohne dass die baltischen Staaten für Schritte zur vertrauensbildenden Rüstungskontrolle gewonnen werden, ohne Ausweitung der Bemühungen, Nuklearwaffen aus dem strategischen Repertoire Europas zu verbannen, werden sich die Aussichten für eine europäische Friedensentwicklung weiter verschlechtern. Auf lokaler Ebene finden sich aktuell am ehesten noch rüstungskritische Akteure. Dem Bündnis gegen Atomwaffen „Mayors for Peace“ gehören in Estland vier, in Lettland fünf und in Litauen zehn Städte an. In Russland sind es 67 und in Deutschland 827. Das sind keine Leuchttürme, aber vielleicht Hoffnungsschimmer über dem Abgrund.

 

Anmerkung:

  • 1 W. Richter, Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, SWP, 2019

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