Russland und seine Nuklearrüstung

Bedingt modernisierungsbereit

von Otfried Nassauer

Russland hat ein demographisches Problem: Die Bevölkerung wird immer älter. Es gibt immer weniger junge Menschen, die später die Aufgaben der Älteren übernehmen können. Auch Russlands Streitkräfte haben ein demographisches Problem. Ihnen fehlen nicht nur Rekruten, sondern auch Raketen. Atomraketen. Die Nuklearwaffen Moskaus altern viel schneller als sie ersetzt werden können. Denn Moskaus Bemühungen um eine Modernisierung seines Atomwaffenpotentials stehen vor substantiellen Problemen – technisch und finanziell.

Wenn Russlands Präsident Dmitri Medwedew und der russische Regierungschef Wladimir Putin über die Nuklearwaffen Russlands sprechen, geben sich beide zumeist martialisch. So kündigte Medwedew im November 2009 vor dem Oberhaus der Russischen Föderation an, Russland werde 2010 drei neue Atom-U-Boote und mehr als 30 neue Langstreckenraketen erhalten. Natürlich werden solche Meldungen im Westen gerne aufgegriffen, wenn es gilt, vor einem Wiedererstarken Moskaus zu warnen. Ähnlich reagiert man bei Bemerkungen, wie sie der Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, im Kontext der Verabschiedung der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie im Mai 2009 gegenüber der Rossiskaja Gasetta machte: „Die Durchführung eines nuklearen Schlages gegen einen Aggressor, einschließlich eines Präventivschlages, ist in Situationen, die kritisch für unsere nationale Sicherheit sind, nicht ausgeschlossen.“

Seine Aussage lässt sich in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation nicht finden. Auch keine vergleichbare. Auch müsste ein kleines Wunder geschehen, damit Dimitri Medwedews Modernisierungsankündigung für die russischen Nuklearstreitkräfte in diesem Jahr vollständig umgesetzt werden könnte. Starke Worte und große Modernisierungsversprechen im Blick auf Russlands Atomwaffen haben Tradition. Sie sind die letzten Insignien des sowjetischen Supermachtstatus. Die Präsidenten Jelzin und Putin haben davon regelmäßig Gebrauch gemacht. Nun tut es Dmitri Medwedew. Die Äußerungen sind innenpolitisch motiviert. Sie richten sich an die russische Bevölkerung, deren nationales Selbstbewusstsein traditionell an das Bild eines starken Russlands gekoppelt ist. Und sie richten sich an das russische Offizierskorps, dessen gesellschaftliche Stellung nicht zuletzt von der Wertschätzung abhängt, die die Streitkräfte in der Öffentlichkeitsarbeit des Kremls erfahren.

Nuklearer Riese auf Schrumpfkurs
Russland Nuklearpotential schrumpft. Aus Sicht der russischen Generalität schrumpft es sogar dramatisch und gefährlich. Erste Befürchtungen, es könne in absehbarer Zeit Opfer eines entwaffnenden Erstschlags der USA werden, wurden bereits vor mehreren Jahren laut. Der Schrumpfprozess ist weniger den bilateralen Rüstungskontrollvereinbarungen mit Washington geschuldet denn der schlichten Unmöglichkeit, das Potential auf dem bisherigen Niveau aufrecht zu erhalten. Ende 2009, so schätzen die amerikanischen Think-Tanks FAS und NRDC, besaß die Russische Föderation noch etwas mehr als 2.500 aktive Nuklearwaffen für strategische Trägersysteme und etwa 2.000 für nicht-strategische Trägersysteme. Zu diesen 4.500 aktiven Atomwaffen kommen schätzungsweise 7.300 Sprengköpfe, die als Reserve eingelagert wurden oder auf ihre Demontage warten. Ob sie noch nutzbar sind, ist in vielen Fällen unbekannt.

Neben chronischem Geldmangel prägen drei Grundprobleme die bisherige und die vorhersehbare Entwicklung der russischen Nuklearstreitkräfte. Russland muss erstens seine Atomsprengköpfe noch immer regelmäßig vollständig demontieren und aufarbeiten. Anders als die USA, die ihre Waffen lebensdauerverlängernden Maßnahmen unterziehen können. Russland kann zweitens seine strategischen Trägersysteme – U-Boote, seegestützte Langstreckenraketen, Interkontinentalraketen und Bomber - nicht so schnell ersetzen, wie die vorhandenen Systeme das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen. Im Gegensatz zu den USA, die ihre Trägersysteme regelmäßig umfassend modernisieren und so auch deren Lebensdauer erheblich verlängern, muss Russland neue Trägersysteme bauen. Das stieß in den letzten beiden Jahrzehnten auf substantielle technische Schwierigkeiten.

Drittens war die industrielle Infrastruktur z.B. für den Bau schwerer Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen früher auf mehrere Sowjetrepubliken verteilt. Heute sind diese Republiken, wie z.B. die Ukraine, unabhängige Staaten. Der Russischen Föderation fehlte es deshalb bald sowohl an der Möglichkeit, alte Träger durch neue Komponenten länger am Leben zu erhalten, als auch neue Trägerraketen mithilfe der alten Fabriken weiterhin zu bauen. Realisierbar war nur der Kauf von schon gefertigten Raketen und Ersatzteilen, die noch in den anderen Republiken lagerten. Also eine Zwischenlösung, mit der man die Nutzungsdauer einzelner Trägersysteme um ein paar Jahre verlängern und Zeit gewinnen konnte, nicht aber eine Dauerlösung. Moskau sah sich deshalb gezwungen, den Bau von Langstreckenraketen in Wotkinsk in einer Fabrik zu konzentrieren, die früher Mittelstreckenraketen und später leichte Langstreckenraketen baute. Dort wurden nun schrittweise leistungsfähigere Typen einer neuen Interkontinentalrakete, der Topol-M (SS-27), entwickelt. Sie hatte zunächst nur einen Sprengkopf und wurde in einer stationären und in einer mobilen Version gebaut. Seit Kurzem kann sie auch mehrere Sprengköpfe tragen (SS-X-29). Das aber kostete viel Zeit und gelang nicht immer auf Anhieb. Nur rund 70 dieser Flugkörper wurden zwischen 1997 und 2009 stationiert. Pro Jahr können nicht mehr als 6-8 Flugkörper hergestellt werden. Erheblich zu wenig, um Hunderte außer Dienst gestellte Waffen zu ersetzen.

Auch im Bereich der seegestützten Langstreckenraketen – für die Russland weiterhin über den größten Teil der erforderlichen industriellen Infrastruktur verfügte - traten erhebliche Schwierigkeiten auf. Die Entwicklung und der Bau einer neuen Klasse von U-Booten (Borey-Klasse) und einer neuen seegestützten Langstreckenrakete (Bulawa, SS-NX-30) verzögerten sich aus technischen und finanziellen Gründen um viele Jahre. Das erste Boot der neuen Klasse schwimmt zwar mittlerweile, doch bis Ende 2009 schlugen die Flugtests mit der neuen Rakete immer wieder fehl. Es ist ungewiss, ob und wann sie in Dienst gestellt werden können. Bislang gelang es der russischen Marine lediglich, drei oder vier U-Boote der Klasse Delta IV mit einer moderneren Version der SS-N-23 (Sinewa) auszustatten und erfolgreich zu testen. Beide neue Raketentypen haben eine deutlich geringe Tragfähigkeit (Wurfgewicht) für die Sprengköpfe. Die strategische U-Boot-Flotte Russlands schrumpft derweil immer weiter: Von rund 60 Booten, die zum Ende des Kalten Krieges noch vorhanden waren, sind heute noch zehn im Dienst. Die Zahl der darauf gelagerten Sprengköpfe ging von damals 3.636 auf heute 576 zurück.

Weniger dramatisch sind die Veränderungen bei der russischen Bomberflotte. Von ehemals 162 Bombern, die die Sowjetunion besaß, betreibt Russland heute nach dem Zukauf einiger Bomber aus der Ukraine noch 75 Flugzeuge. Diese Flugzeuge werden seit einiger Zeit gelegentlich auch wieder zu Patrouillenflügen ausgesandt.

Der Modernisierungsmythos
Die Abrüstungs- und Modernisierungsgeschwindigkeit der russischen Nuklearwaffen lässt sich auch aus Tabelle 1 ablesen. Diese zeigt: Die Verkleinerung des Potentials ist nur bedingt Folge der bilateralen Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen zwischen Moskau und Washington, also von START-1, START-2 oder Moskauer Vertrag von 2002. Russland wäre aufgrund technischer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, die vereinbarten, zulässigen Obergrenzen dauerhaft zu nutzen. Die dafür erforderliche Modernisierung der Trägersysteme wäre kaum finanzierbar und technisch wohl auch nicht umsetzbar gewesen. Auch russische Experten wie Michail A. Kardaschew sehen das so: „Die Reduzierung der strategischen Offensivwaffen Russlands war ohne Alternative, und zwar wegen des Fehlens der ökonomischen Vorraussetzungen für deren Unterhaltung, nicht nur in der früheren, sondern selbst in wesentlich reduzierter Zahl. (...) Die Verbindung eines hohen Tempos der Außerdienststellung (...) mit einem geringen Tempo der Einführung neuer Offensivbewaffnungen führte unabhängig von der Existenz von Verträgen mit den USA (...) unausweichlich vorherbestimmt zur Abrüstung Russlands.“

Rechnet man die gegen Ende des Kalten Krieges bereits laufenden Beschaffungsvorhaben heraus, so haben die russischen Nuklearstreitkräfte in den vergangen 20 Jahren nur rund 70 neue Interkontinentalraketen, kein neues U-Boot, keine neue U-Boot-Rakete und keine neu produzierten strategischen Bomber erhalten. Es wurden lediglich einige Waffensysteme aus anderen Republiken der UdSSR zurückgekauft, einige Bomber modernisiert und einige U-Boote der Klasse Delta IV mit einer modernisierten Langstreckenrakete umgerüstet. Dieses Modernisierungstempo reicht nicht aus, um Moskau dauerhaft die Aufrechterhaltung eines Nuklearwaffenpotentials entlang der Obergrenzen zu erlauben, die die START-2-Verträge oder der Moskauer Vertrag zulassen.

Nuklearpotential und Abrüstungsgespräche
Bei den Verhandlungen über einen START-Nachfolgevertrag hat Moskau die Konsequenzen aus seiner Modernisierungsschwäche gezogen. Russland plädiert bei diesen Gesprächen für eine deutliche Reduzierung der Zahl erlaubter Trägersysteme. Washingtons Vorschlag, künftig jeder Seite noch 1.100 strategische Trägersysteme zu erlauben, konterte Moskau mit einem viel weitergehenden Vorschlag. Beiden Staaten sollten nur noch je 500 Trägersysteme erlaubt werden. Damit will Russland zweierlei erreichen: Zum einen hofft man, ein solch kleines Potential vielleicht doch noch für einige Jahre unterhalten zu können. Zum anderen will man verhindern, dass die USA ihre vorhandenen Interkontinentalwaffe zu strategischen Waffen mit konventionellem Sprengkopf umbauen – ein Vorhaben, das sowohl von der Regierung Bush also auch von der Regierung Obama ins Auge gefasst wird. Bis heute wurde in dieser Frage keine Einigung erzielt. Auch andere Wünsche Russlands an einen solchen Vertrag, wie z.B. ein Verbot der erneuten Montage zusätzlicher Sprengköpfe auf Raketen, die aufgrund vertraglicher Vereinbarungen künftig weniger Sprengköpfe tragen dürfen, die Einbeziehung seegestützter Marschflugkörper oder der in Europa vorgeschoben stationierten nuklearen Bomben der USA in den Vertrag dürften zumindest derzeit in den USA wenig Anklang finden.

Nicht-strategische Systeme
Rund 2.000 nicht-strategische Nuklearwaffen soll Russland derzeit noch besitzen. Über sie ist nur wenig Verlässliches bekannt. Rund 700 dieser Waffen werden der Luft- und Raketenabwehr zugerechnet, 650 den Luftstreitkräfte und 700 sind an Land gelagerte Waffen für die Marine. Kein anderer Nuklearwaffenstaat bevorratet noch Atomsprengköpfe für die Luft- und Raketenabwehr. In Russland werden diese Waffen als Rückversicherung gegen einen strategischen Überraschungsangriff weiter bevorratet. Für die Marine werden weiterhin Nuklearwaffen vorgehalten, obwohl diese – wie mit den USA vereinbart – im Frieden nicht auf Schiffen mitgeführt werden dürfen. Diese Waffen werden beibehalten, weil Russlands Marine der konventionellen „Seemacht USA“ deutlich unterlegen ist. Ähnlich wie in dem Vorbehalt der russischen Militärdoktrin, der einen nuklearen Ersteinsatz seit etlichen Jahren nicht mehr ausschließt, kommt mit diesen Waffen zum Ausdruck, dass Russland in einem Teil seiner sub-strategischen Nuklearwaffen eine Rückversicherung gegen die konventionelle Überlegenheit vor allem der USA sieht. Mit 650 Atombomben und atomaren Luft-Bodenraketen bevorratet Russland – wie die USA – die Fähigkeit, konventionelle Kriege nuklear eskalieren zu können. Verhandeln will Russland über sein sub-strategisches Nuklearpotential erst, wenn die USA all ihre substrategischen Atomwaffen auf ihr eigenes Territorium zurückverlegt haben. Gemeint sind damit vor allem die 200-240 substrategischem Nuklearwaffen Washingtons in Europa.

Noch immer die Nummer „Zwei“
Russland verfügt mit rund 2.500 strategischen Sprengköpfen und vielleicht noch bis zu 2000 nicht-strategischen Nuklearwaffen noch immer über ein Atomwaffenpotential, das um ein Vielfaches größer ist als das der kleineren Nuklearmächte. Weder China, Frankreich oder Großbritannien noch die nicht-anerkannten Nuklearwaffenstaaten Indien, Pakistan, Israel und vielleicht Nordkorea kommen auch nur in die Nähe des russischen Potentials. Moskau agiert heute getrieben von dem Wunsch nach „strategischer Stabilität“, ein Begriff, der mittlerweile zunehmend an die Stelle der strategischen Parität getreten ist. Letztere ist nicht mehr erreichbar, es sei denn, sie würde es durch vertraglich vereinbarte Abrüstung. Moskaus schwächebedingte Abrüstungswünsche könnten also einen guten Anknüpfungspunkt für Barack Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt bieten. Doch: Es ist derzeit nicht zu erkennen, dass von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden könnte. In Washington gibt es zu viele, die Moskaus Schwäche lieber ausnutzen wollen.

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Otfried Nassauer (1956-2020) war freier Journalist und leitete das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)