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Bedrohungen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes
von![Schwerpunkt Schwerpunkt](https://www.friedenskooperative.de/sites/default/files/styles/image_content/public/bild/schwerpunkt.png?itok=bmhB42Sc)
1. Globale Problemsichten
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, und mangels der Fähigkeit der Dritten Welt, den Nord-Süd-Konflikt zu akzentuieren, auch mangels Protagonisten, die globale Umweltkonflikte zu konturieren vermöchten, verlagert sich deutlich der Schwerpunkt internationaler Interaktionen und politischer Krisen auf eine dritte Ebene, wie als einer der ersten Elmar Altvater ausmachte, Regionales. Stellt "widersprüchliche Entwicklungstendenzen" fest, "die in der Gleichzeitigkeit von Progression und Regression, von Globalisierung und Kleinräumigkeit, von Verflechtung und Differenzierung, von Annäherung und Entfremdung, von Sicherheitsgewährleistung und Sicherheitsbedrohung die Grundlagen und die Perspektiven der internationalen Beziehungen prägen."
Ähnlich lassen sich weitere Autoren anführen, etwa Charles Weston; dieser verweist auf weltweites Bevölkerungswachstum, die chronische Entwicklungskrise, Rüstungsproliferation und die Gefährdung regionaler Stabilität, die Vetomacht von peripheren Mächten bei Konfliktregulierungen, weltweite Flucht- und Migrationsbewegungen, Umweltzerstörung und Raubbau, Ausbreitung von Infektionskrankheiten, organisierter Kriminalität und Drogenhandel, die fundamentalistische Rebellion gegen diese Perspektiven, Verarmung, ethnisch-kulturelle Entwurzelung sowie gesellschaftlichen Werteverfall.
Diese Skizze läßt sich ohne Mühe vom Staat der Dritten Welt auf die peripheren Gemeinwesen in Europa übertragen. Die divergierenden Grundlinien bleiben (1) Hightech-Rüstung im affluenten Zentrum und Lowtech-Kriege an der Peripherie; (2) Die internationale Arbeitsteilung führt im Zentrum zu intensivierter Verflechtung, in der Pheripherie zu weiterer Marginalisierung; (3) Die ökologische Bedrohung läßt den Staat in seiner Schutzaufgabe besonders in der Peripherie versagen; (4) Die Globalisierung von Kommunikation führt in der Peripherie zur Auflösung traditioneller Identitäten; (5) Die Entleerung von souveräner Entscheidungsmacht bringt den peripheren Staat in die Existenzkrise.
Besonders in der Sicht der Dritten Welt bleibt nicht nachvollziehbar, daß die nördlichen Industriestaaten beanspruchen, Demokratien zu sein, dem Mehrheitswillen ihrer Bevölkerungen zu folgen, und daß dieselben Staaten gleichzeitig sich dem Begehren der Mehrheit der Weltbevölkerung nach Entwicklung entziehen und bestenfalls Almosen geben. Von einer künftigen Weltordnung verlangen aber die tonangebenden westlichen Eliten, daß sie diesen Widerspruch einhegt - ein zutiefst inhumanes Unterfangen.
Die Frage, wie global die natürliche Umwelt so erhalten werden kann, daß trotz Industrialisierung und weltweiter Übernahme westlicher Konsummuster "sustainable development", nachhaltige Entwicklung, möglich bleibt, vertieft den Nord-Süd-Gegensatz weiter. Der Streit um Ordnungen, etwa nationale Emissionsgrenzen, hat mittlerweile gewiss das Stadium der Auseinandersetzung über den Export von Schmutzindustrien verlassen. Auch bleibt wichtiges Nebenergebnis des Umweltgipfels von Rio 1992, daß den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) angesichts der Hilflosigkeit der Staatsvertreter in breitem Maße Mitwirkungsmöglichkeiten zugestanden wurden, weit über das Reglement der Charta hinaus. Aber ein grundsätzlicher Wandel der globalen Umwelttrends ist auf diesem Wege nicht zu erreichen.
2. Europäische Perspektiven
Mit dem Ende des Warschauer Paktes 1991 findet sich die NATO überraschend als einzige funktionierende sicherheitspolitische Struktur übernationaler Art. Die KSZE wiegt institutionell nicht: sie verfügt (zählt man die Sprachdienste nicht mit) über nicht einmal einhundert Beschäftigte. Wie soll es weitergehen?
Eine Position lautet, daß die westliche Allianz ihren Zweck erfüllt habe und gleichfalls aufgelöst werden sollte. Solche Stimmen sind auch aus den USA zu hören, etwa vom Nestor der Integrationstheoretiker, Ernest B. Haas. Artikel 12 des NATO-Vertrages sieht, so diese Position, ausdrücklich die Möglichkeit der Überprüfung dieses Übereinkommens vor; Artikel 13 regelt die Modalitäten des Ausscheidens aus der Allianz. Die Schwäche dieser Position bleibt, daß sie sich lediglich an den genannten Zielen des Westbündnisses orientiert. Die nicht genannten Zwecke, vor allem die Sicherung amerikanischen Einflusses auf europäische Politik, bleiben aber bestehen. Daneben war Zweck des Westbündnisses die Kontrolle Nachkriegsdeutschlands sowie das Bemühen, die Russen aus Kerneuropa herauszuhalten. Diese nicht genannten Zielsetzungen werden weiterhin sichern, daß die NATO bleibt.
Ähnlich wie die EU steht das Bündnis vor der Frage, ob es sich nach Osten hin ausweiten soll. Eine Anzahl der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa strebt nach Mitgliedschaft in der NATO. Im Kern geht es darum, wie das politische Europa definiert wird. Für Egon Bahr beispielsweise ist die Sache klar: "Sicherheitspolitisch reicht Europa von Lissabon bis Wladiwostok." Eine eurozentrische Sichtweise, die sich so nicht umsetzen lassen wird, denn die NATO-Staaten USA und Kanada würden die Westgrenze Lissabon kaum sicherheitspolitisch gelten lassen. Die Ausweitung auf die Formel hin von "Vancouver bis Wladiwostok" eröffnet keine sinnvolle Perspektive: die Nordhalbkugel des Globus kann bestimmt nicht mehr Grundlage für "Regionale Abmachungen" bilden, wie sie Kapitel VIII der UN-Charta vorsieht. Mit anderen Worten: eine bloße Ausweitung vorhandener Bündnisstrukturen wird nicht hinreichen. Erforderlich sind institutionelle Innovationen.
Für Russland würde die Verlegung der NATO-Verteidigungslinie an seine Landesgrenzen zumindest eine Demütigung bewirken. Die UdSSR hat sich nicht aus Ostdeutschland und den anderen Gebieten des Warschauer Paktes zurückgezogen, um der NATO Gelegenheit zu einem großen Gegenzug Richtung Osten zu geben. Dabei hätten die Russen im Vereinigungsprozess Deutschlands durchaus Hebel in der Hand gehabt, um die NATO zu einem grundsätzlichen Neuansatz zu zwingen. Der vormalige sowjetische Außenminister Schewardnadse bekam anläßlich seines Abschiedsbesuches bei seinem amerikanischen Amtskollegen Baker zu hören, daß die Strategen des State Department während der "2+4"-Verhandlungen von der Befürchtung geplagt wurden, die Sowjets würden verhandlungstaktisch in die Offensive gehen und die Zustimmung zur Vereinigung der Deutschen in Aussicht stellen, wenn das vereinigte Deutschland nicht Mitglied der NATO würde, das Westbündnis nach Westen zurückgenommen würde ähnlich wie der Warschauer Pakt nach Osten, und die Bundesrepublik sicherheitspolitisch eben einen gleichen Status bekäme wie die anderen neuen Demokratien. Eine solche Konzeption, so wird Baker kolportiert, hätte der Westen wohl akzeptieren müssen. Freilich befand sich die Sowjetunion als Staatsgebilde im Sommer 1990 schon so weitgehend im Verfall, das für eine solche Druckpolitik die Voraussetzungen entfallen waren...
Andererseits fürchten die neuen Demokratien, zwischen Russland und der NATO eine Art "Zwischeneuropa" zu werden, Spielball der übermächtigen Nachbarn (andere Bezeichnungen lauten "Grau-" oder "Pufferzone" - die wechselnden Begriffe deuten eine intensive Debatte an). Solche Befürchtungen sind nicht unbegründet. Alexei G. Arbatow, einer der liberalsten Köpfe im Verteidigungsausschuß der russischen Staatsduma, fasst die Moskauer Ansichten zusammen:
"Anstatt die NATO nach Osten auszuweiten, sollten die NATO und Russland gemeinsame Garanten der Sicherheit derjenigen Länder werden, die zwischen ihnen liegen."
Gegen solche Optionen gibt es in Mittel- und Osteuropa vielfache Proteste. Man befürchtet, daß Russland die Gendarmen-Rolle, die die Clinton-Administration dem Kreml augenscheinlich im Bereich der GUS insgeheim zugesteht, nach Westen ausgedehnt werden könnte. Vor allem möchten die neuen Demokratien gleichrangige Mitglieder der europäischen Staatengemeinschaft werden und ihre Sicherheit nicht von irgendwelchen Großmächten geschützt sehen.
Bisher hat die NATO wenig befriedigende Angebote in Richtung Osten gemacht. Der Kooperationsrat, ein im Bündnisvertrag nicht vorgesehene Konsultationseinrichtung, ist sicherheitspolitisch für die neuen Demokratien nicht attraktiv.
Um eine wirklich zukunftshaltige Lösung zu erhalten, muß der Bogen des Diskurses sehr viel weiter gespannt werden. Die Alternative zur NATO-Sicherheit liegt im radikalen Gegenentwurf, dem Projekt einer internationalen Zivilgesellschaft. Auf zivile Solidarität bauend läßt sich tatsächlich vorstellen, daß Sicherheit (mit geringem Aufwand) gemeinsam gewährleistet, das Nord-Süd-Problem entzerrt oder die Umweltverschmutzung begrenzt wird.
3. Die Rolle der Bundesrepublik
Die Bundespolitik befindet sich in einem Prozess der außenpolitischen Reorientierung. Konservative wie der Brite Michael Howard sprechen dem vereinigten Deutschland das Recht zu, hegemonial aufzutreten - das Land sei der natürliche Kandidat dafür (nach Sir Michael stehe nunmehr Europa und darin ein mächtiges Deutschland erneut exakt an dem Punkt, wo es 1914 stand, und habe jetzt die Chance für eine bedachtsamere Politik).
Die Rolle der neuen Bundesrepublik (nach der Inkorporation der "neuen Bundesländer") wird im Selbstbild wiedergegeben v.a. im "Weißbuch 1994", untertitelt "Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr". Dieses Farbbuch unterbricht ein fast zehnjähriges Schweigen des offiziellen Bonn (das letzte Weißbuch dieser Art wurde 1985 herausgegeben und blieb voll den Konfrontationen des Kalten Krieges verpflichtet). Umso engagierter wendet sich der Leser diesem neuen Manifest zu.
Das neue Weißbuch der Hardthöhe enthält erstmals gar einen Abschnitt "Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen", immerhin unter der Kapitelüberschrift "Die Handlungs- und Gestaltungsfelder deutscher Sicherheitspolitik". Dieser Abschnitt thematisiert die mögliche Verwendung der Bundeswehr außerhalb des Vertragsgebietes der NATO, mithin den möglichen Einsatz der Bundeswehr im Kriege, und soll deswegen etwas genauer betrachtet werden.
Die Bonner Positionen kommen eher treuherzig über: so habe sich "Deutschland" mit seinem UN-Beitritt "im Jahr 1973 vorbehaltlos zu den damit verbundenen Rechten und Pflichten bekannt" (Weißbuch 1994, S.67). Diese Formulierung nötigt einen doppelten Paukenschlag ab. Zum einen bestand "Deutschland" 1973 aus zwei Staaten. Aber den anderen, ungeliebten deutschen Staat gab es in der Bonner Sicht des Jahres 1994 schon damals nicht (mehr). Wichtiger: Die Fülligkeit des Mandats ("vorbehaltlos zu den damit verbundenen ... Pflichten bekannt") soll augenscheinlich dazu beitragen, die schmerzende Debatte über das tatsächliche Mandat der Bundeswehr nach Ende des Ost-West-Konflikts beiseite zu schieben.
Verständlicherweise werden Formeln zur Friedensbindung deutscher Politik wiederholt ("Es bleibt das Kernziel deutscher Außenpolitik, zum Frieden in der Welt beizutragen", ebd.). Auch werden nichtmilitärische Interventionsmittel hervorgehoben:
"Wirkungsvolle Krisenbewältigung verlangt die Fähigkeit, schnell zu reagieren. Deutschland unterstützt die Initiative des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zur Schaffung von sofort verfügbaren Kräften ('Stand-by Forces'). Sie sollten nicht auf militärische Einheiten oder Material beschränkt sein, sondern auch ziviles Personal, Polizeikräfte und Wahlbeobachter sowie die allgemeine Unterstützung der VN, zum Beispiel durch Dienstleistungen, einschließen" (ebd., S.68).
Das Militärische hat jedoch Vorrang. Unmissverständlich heißt es weiter:
"Um eine entsprechende Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen gewährleisten zu können, müssen militärische Fähigkeiten weiterentwickelt werden" (ebd., S.69).
An einem Sitz im Sicherheitsrat, natürlich mit dem Vetorecht der Hauptsiegermächte (so der Kanzler), wird Interesse angemeldet, mit einer altruistischen Begründung:
"Wer den Willen zum Frieden hat, muß den Sicherheitsrat stärken. Deutschland ist bereit, Verantwortung auch im Rahmen einer ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu übernehmen" (ebd.).
Der Wille in der Völkergemeinschaft, die Deutschen an den Kabinettstisch der VN-Weltpolitik zu bringen, ist jedoch im Ausland gedämpft. Lediglich die US-Regierung hat sich für einen solchen Schritt ausgesprochen, wobei sie sich darauf verlassen kann, daß ein solcher Vorschlag nicht umgesetzt wird. Für die politischen Eliten Frankreichs und Englands bleibt der ständige Sitz im Sicherheitsrat das kleine "Prä", welches man diesen Nachkriegsdeutschen noch voraus hat, und das deutsche Begehren, dieses zu beseitigen wird als sehr ungehobelt empfunden. Die Masse der VN-Mitglieder hat gleichfalls andere Vorstellungen, wie der Sicherheitsrat umgebaut werden könnte (was das Weißbuch durchaus einräumt: es soll bei einer "Reform das wachsende Gewicht der Dritten Welt angemessen berücksichtigt" werden, ebd.).
4. Ergebnisse
Die Resultante aus diesen divergierenden Bestrebungen dürfte die am wenigsten erfreuliche Entwicklung sein: die Bundesrepublik beteiligt sich militärisch verstärkt an Auslandsengagements, reformiert etwas an den internationalen Institutionen mit, ohne wie andere auch der Größe der Herausforderung zu genügen, und verzichtet im Kern auf offene Gestaltung auch nur des europäischen Teils einer Weltordnung. Das Schwergewicht der Bundesrepublik wird hinter den Kulissen, informell, nützlicher für die eigenen Interessen eingesetzt als auf der Weltbühne.
Es bleibt zu bedenken, daß die europäische Politik, nicht nur die Friedenspolitik, sich in einer Übergangsphase befindet. Das ist an sich eine Banalität. Die aufmerksame Beachtung dieses Tatbestandes hat jedoch weitreichende Folgen für die Politikgestaltung. Friedenserhaltende Strukturen müssen offen gehalten werden, sie werden für eine Transformation optimiert. Nur fehlt es den dominanten Akteuren im Westen erkennbar an solch weitgehendem Gestaltungswillen. In der Vergangenheit zeigten sie bemerkenswerte Innovationskraft, führt man sich als damals neuartige Strukturen - wie immer man sie bewerten mag - die NATO oder auch die KSZE vor Augen. Heute ist ein vergleichbarer Innovationsschub gefragt. Es bleibt Aufgabe der Friedensforschung, sich mit konzeptionellen Debatten an diesem Versuch zu beteiligen.