Bedrohungen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes

von Ulrich Albrecht
Schwerpunkt
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1. Globale Problemsichten

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, und mangels der Fähigkeit der Dritten Welt, den Nord-Süd-Konflikt zu ak­zentuieren, auch mangels Protagonisten, die globale Umweltkonflikte zu kontu­rieren vermöchten, verlagert sich deut­lich der Schwerpunkt internationaler Interaktionen und politischer Krisen auf eine dritte Ebene, wie als einer der er­sten Elmar Altvater ausmachte, Regio­nales. Stellt "widersprüchliche Entwicklungstendenzen" fest, "die in der Gleichzeitigkeit von Progression und Regression, von Globalisierung und Kleinräumigkeit, von Verflechtung und Differenzierung, von Annäherung und Entfremdung, von Sicherheitsgewährlei­stung und Sicherheitsbedrohung die Grundlagen und die Perspektiven der internationalen Beziehungen prägen."

Ähnlich lassen sich weitere Autoren an­führen, etwa Charles Weston; dieser verweist auf weltweites Bevölkerungs­wachstum, die chronische Entwicklungskrise, Rüstungsproliferation und die Gefährdung regionaler Stabilität, die Vetomacht von peripheren Mächten bei Konfliktregulierungen, weltweite Flucht- und Migrationsbewegungen, Umweltzerstörung und Raubbau, Aus­breitung von Infektionskrankheiten, or­ganisierter Kriminalität und Drogenhan­del, die fundamentalistische Rebellion gegen diese Perspektiven, Verarmung, ethnisch-kulturelle Entwurzelung sowie gesellschaftlichen Werteverfall.

Diese Skizze läßt sich ohne Mühe vom Staat der Dritten Welt auf die periphe­ren Gemeinwesen in Europa übertragen. Die divergierenden Grundlinien bleiben (1) Hightech-Rüstung im affluenten Zentrum und Lowtech-Kriege an der Pe­ripherie; (2) Die internationale Arbeits­teilung führt im Zentrum zu intensivierter Verflechtung, in der Pheripherie zu weiterer Marginalisierung; (3) Die ökologische Bedrohung läßt den Staat in seiner Schutzaufgabe besonders in der Peripherie versagen; (4) Die Globalisie­rung von Kommunikation führt in der Peripherie zur Auflösung traditioneller Identitäten; (5) Die Entleerung von souveräner Entscheidungsmacht bringt den peripheren Staat in die Existenz­krise.

Besonders in der Sicht der Dritten Welt bleibt nicht nachvollziehbar, daß die nördlichen Industriestaaten beanspru­chen, Demokratien zu sein, dem Mehr­heitswillen ihrer Bevölkerungen zu fol­gen, und daß dieselben Staaten gleich­zeitig sich dem Begehren der Mehrheit der Weltbevölkerung nach Entwicklung entziehen und bestenfalls Almosen ge­ben. Von einer künftigen Weltordnung verlangen aber die tonangebenden westlichen Eliten, daß sie diesen Wider­spruch einhegt - ein zutiefst inhumanes Unterfangen.

Die Frage, wie global die natürliche Umwelt so erhalten werden kann, daß trotz Industrialisierung und weltweiter Übernahme westlicher Konsummuster "sustainable development", nachhaltige Entwicklung, möglich bleibt, vertieft den Nord-Süd-Gegensatz weiter. Der Streit um Ordnungen, etwa nationale Emissionsgrenzen, hat mittlerweile gewiss das Stadium der Auseinanderset­zung über den Export von Schmutzindu­strien verlassen. Auch bleibt wichtiges Nebenergebnis des Umweltgipfels von Rio 1992, daß den Nichtregierungsorga­nisationen (NGOs) angesichts der Hilf­losigkeit der Staatsvertreter in breitem Maße Mitwirkungsmöglichkeiten zuge­standen wurden, weit über das Regle­ment der Charta hinaus. Aber ein grund­sätzlicher Wandel der globalen Um­welttrends ist auf diesem Wege nicht zu erreichen.

2. Europäische Perspektiven

Mit dem Ende des Warschauer Paktes 1991 findet sich die NATO überra­schend als einzige funktionierende si­cherheitspolitische Struktur übernatio­naler Art. Die KSZE wiegt institutionell nicht: sie verfügt (zählt man die Sprach­dienste nicht mit) über nicht einmal ein­hundert Beschäftigte. Wie soll es wei­tergehen?

Eine Position lautet, daß die westliche Allianz ihren Zweck erfüllt habe und gleichfalls aufgelöst werden sollte. Sol­che Stimmen sind auch aus den USA zu hören, etwa vom Nestor der Integrati­onstheoretiker, Ernest B. Haas. Artikel 12 des NATO-Vertrages sieht, so diese Position, ausdrücklich die Möglichkeit der Überprüfung dieses Übereinkom­mens vor; Artikel 13 regelt die Modali­täten des Ausscheidens aus der Allianz. Die Schwäche dieser Position bleibt, daß sie sich lediglich an den genannten Zielen des Westbündnisses orientiert. Die nicht genannten Zwecke, vor allem die Sicherung amerikanischen Einflus­ses auf europäische Politik, bleiben aber bestehen. Daneben war Zweck des Westbündnisses die Kontrolle Nach­kriegsdeutschlands sowie das Bemühen, die Russen aus Kerneuropa herauszu­halten. Diese nicht genannten Zielset­zungen werden weiterhin sichern, daß die NATO bleibt.

Ähnlich wie die EU steht das Bündnis vor der Frage, ob es sich nach Osten hin ausweiten soll. Eine Anzahl der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa strebt nach Mitgliedschaft in der NATO. Im Kern geht es darum, wie das politi­sche Europa definiert wird. Für Egon Bahr beispielsweise ist die Sache klar: "Sicherheitspolitisch reicht Europa von Lissabon bis Wladiwostok." Eine euro­zentrische Sichtweise, die sich so nicht umsetzen lassen wird, denn die NATO-Staaten USA und Kanada würden die Westgrenze Lissabon kaum sicherheits­politisch gelten lassen. Die Ausweitung auf die Formel hin von "Vancouver bis Wladiwostok" eröffnet keine sinnvolle Perspektive: die Nordhalbkugel des Globus kann bestimmt nicht mehr Grundlage für "Regionale Abmachun­gen" bilden, wie sie Kapitel VIII der UN-Charta vorsieht. Mit anderen Wor­ten: eine bloße Ausweitung vorhandener Bündnisstrukturen wird nicht hinrei­chen. Erforderlich sind institutionelle Innovationen.

Für Russland würde die Verlegung der NATO-Verteidigungslinie an seine Landesgrenzen zumindest eine Demüti­gung bewirken. Die UdSSR hat sich nicht aus Ostdeutschland und den ande­ren Gebieten des Warschauer Paktes zu­rückgezogen, um der NATO Gelegen­heit zu einem großen Gegenzug Rich­tung Osten zu geben. Dabei hätten die Russen im Vereinigungsprozess Deutschlands durchaus Hebel in der Hand gehabt, um die NATO zu einem grundsätzlichen Neuansatz zu zwingen. Der vormalige sowjetische Außenmini­ster Schewardnadse bekam anläßlich seines Abschiedsbesuches bei seinem amerikanischen Amtskollegen Baker zu hören, daß die Strategen des State De­partment während der "2+4"-Verhand­lungen von der Befürchtung geplagt wurden, die Sowjets würden verhand­lungstaktisch in die Offensive gehen und die Zustimmung zur Vereinigung der Deutschen in Aussicht stellen, wenn das vereinigte Deutschland nicht Mit­glied der NATO würde, das Westbünd­nis nach Westen zurückgenommen würde ähnlich wie der Warschauer Pakt nach Osten, und die Bundesrepublik si­cherheitspolitisch eben einen gleichen Status bekäme wie die anderen neuen Demokratien. Eine solche Konzeption, so wird Baker kolportiert, hätte der We­sten wohl akzeptieren müssen. Freilich befand sich die Sowjetunion als Staatsgebilde im Sommer 1990 schon so weitgehend im Verfall, das für eine sol­che Druckpolitik die Voraussetzungen entfallen waren...

Andererseits fürchten die neuen Demo­kratien, zwischen Russland und der NATO eine Art "Zwischeneuropa" zu werden, Spielball der übermächtigen Nachbarn (andere Bezeichnungen lauten "Grau-" oder "Pufferzone" - die wech­selnden Begriffe deuten eine intensive Debatte an). Solche Befürchtungen sind nicht unbegründet. Alexei G. Arbatow, einer der liberalsten Köpfe im Verteidi­gungsausschuß der russischen Staats­duma, fasst die Moskauer Ansichten zu­sammen:

"Anstatt die NATO nach Osten auszu­weiten, sollten die NATO und Russland gemeinsame Garanten der Sicherheit derjenigen Länder werden, die zwischen ihnen liegen."

Gegen solche Optionen gibt es in Mit­tel- und Osteuropa vielfache Proteste. Man befürchtet, daß Russland die Gen­darmen-Rolle, die die Clinton-Admini­stration dem Kreml augenscheinlich im Bereich der GUS insgeheim zugesteht, nach Westen ausgedehnt werden könnte. Vor allem möchten die neuen Demo­kratien gleichrangige Mitglieder der eu­ropäischen Staatengemeinschaft werden und ihre Sicherheit nicht von irgendwel­chen Großmächten geschützt sehen.

Bisher hat die NATO wenig befriedi­gende Angebote in Richtung Osten ge­macht. Der Kooperationsrat, ein im Bündnisvertrag nicht vorgesehene Konsultationseinrichtung, ist sicherheitspo­litisch für die neuen Demokratien nicht attraktiv.

Um eine wirklich zukunftshaltige Lö­sung zu erhalten, muß der Bogen des Diskurses sehr viel weiter gespannt werden. Die Alternative zur NATO-Si­cherheit liegt im radikalen Gegenent­wurf, dem Projekt einer internationalen Zivilgesellschaft. Auf zivile Solidarität bauend läßt sich tatsächlich vorstellen, daß Sicherheit (mit geringem Aufwand) gemeinsam gewährleistet, das Nord-Süd-Problem entzerrt oder die Umwelt­verschmutzung begrenzt wird.

3. Die Rolle der Bundesrepublik

Die Bundespolitik befindet sich in ei­nem Prozess der außenpolitischen Reori­entierung. Konservative wie der Brite Michael Howard sprechen dem verei­nigten Deutschland das Recht zu, hege­monial aufzutreten - das Land sei der natürliche Kandidat dafür (nach Sir Mi­chael stehe nunmehr Europa und darin ein mächtiges Deutschland erneut exakt an dem Punkt, wo es 1914 stand, und habe jetzt die Chance für eine bedacht­samere Politik).

Die Rolle der neuen Bundesrepublik (nach der Inkorporation der "neuen Bundesländer") wird im Selbstbild wie­dergegeben v.a. im "Weißbuch 1994", untertitelt "Zur Sicherheit der Bundes­republik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr". Dieses Farb­buch unterbricht ein fast zehnjähriges Schweigen des offiziellen Bonn (das letzte Weißbuch dieser Art wurde 1985 herausgegeben und blieb voll den Kon­frontationen des Kalten Krieges ver­pflichtet). Umso engagierter wendet sich der Leser diesem neuen Manifest zu.

Das neue Weißbuch der Hardthöhe ent­hält erstmals gar einen Abschnitt "Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen", immerhin unter der Kapitel­überschrift "Die Handlungs- und Ge­staltungsfelder deutscher Sicherheitspo­litik". Dieser Abschnitt thematisiert die mögliche Verwendung der Bundeswehr außerhalb des Vertragsgebietes der NATO, mithin den möglichen Einsatz der Bundeswehr im Kriege, und soll deswegen etwas genauer betrachtet werden.

Die Bonner Positionen kommen eher treuherzig über: so habe sich "Deutschland" mit seinem UN-Beitritt "im Jahr 1973 vorbehaltlos zu den damit verbundenen Rechten und Pflichten be­kannt" (Weißbuch 1994, S.67). Diese Formulierung nötigt einen doppelten Paukenschlag ab. Zum einen bestand "Deutschland" 1973 aus zwei Staaten. Aber den anderen, ungeliebten deut­schen Staat gab es in der Bonner Sicht des Jahres 1994 schon damals nicht (mehr). Wichtiger: Die Fülligkeit des Mandats ("vorbehaltlos zu den damit verbundenen ... Pflichten bekannt") soll augenscheinlich dazu beitragen, die schmerzende Debatte über das tatsächli­che Mandat der Bundeswehr nach Ende des Ost-West-Konflikts beiseite zu schieben.

Verständlicherweise werden Formeln zur Friedensbindung deutscher Politik wiederholt ("Es bleibt das Kernziel deutscher Außenpolitik, zum Frieden in der Welt beizutragen", ebd.). Auch wer­den nichtmilitärische Interventionsmittel hervorgehoben:

"Wirkungsvolle Krisenbewältigung verlangt die Fähigkeit, schnell zu rea­gieren. Deutschland unterstützt die In­itiative des Generalsekretärs der Ver­einten Nationen zur Schaffung von so­fort verfügbaren Kräften ('Stand-by For­ces'). Sie sollten nicht auf militärische Einheiten oder Material beschränkt sein, sondern auch ziviles Personal, Polizei­kräfte und Wahlbeobachter sowie die allgemeine Unterstützung der VN, zum Beispiel durch Dienstleistungen, ein­schließen" (ebd., S.68).

Das Militärische hat jedoch Vorrang. Unmissverständlich heißt es weiter:

"Um eine entsprechende Handlungsfä­higkeit der Vereinten Nationen ge­währleisten zu können, müssen militäri­sche Fähigkeiten weiterentwickelt wer­den" (ebd., S.69).

An einem Sitz im Sicherheitsrat, natür­lich mit dem Vetorecht der Hauptsie­germächte (so der Kanzler), wird Inter­esse angemeldet, mit einer altruistischen Begründung:

"Wer den Willen zum Frieden hat, muß den Sicherheitsrat stärken. Deutschland ist bereit, Verantwortung auch im Rah­men einer ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu übernehmen" (ebd.).

Der Wille in der Völkergemeinschaft, die Deutschen an den Kabinettstisch der VN-Weltpolitik zu bringen, ist jedoch im Ausland gedämpft. Lediglich die US-Regierung hat sich für einen solchen Schritt ausgesprochen, wobei sie sich darauf verlassen kann, daß ein solcher Vorschlag nicht umgesetzt wird. Für die politischen Eliten Frankreichs und Englands bleibt der ständige Sitz im Si­cherheitsrat das kleine "Prä", welches man diesen Nachkriegsdeutschen noch voraus hat, und das deutsche Begehren, dieses zu beseitigen wird als sehr unge­hobelt empfunden. Die Masse der VN-Mitglieder hat gleichfalls andere Vor­stellungen, wie der Sicherheitsrat umge­baut werden könnte (was das Weißbuch durchaus einräumt: es soll bei einer "Reform das wachsende Gewicht der Dritten Welt angemessen berücksich­tigt" werden, ebd.).

4. Ergebnisse

Die Resultante aus diesen divergieren­den Bestrebungen dürfte die am wenig­sten erfreuliche Entwicklung sein: die Bundesrepublik beteiligt sich militärisch verstärkt an Auslandsengagements, re­formiert etwas an den internationalen Institutionen mit, ohne wie andere auch der Größe der Herausforderung zu ge­nügen, und verzichtet im Kern auf of­fene Gestaltung auch nur des europäi­schen Teils einer Weltordnung. Das Schwergewicht der Bundesrepublik wird hinter den Kulissen, informell, nützlicher für die eigenen Interessen eingesetzt als auf der Weltbühne.

Es bleibt zu bedenken, daß die europäi­sche Politik, nicht nur die Friedenspoli­tik, sich in einer Übergangsphase befin­det. Das ist an sich eine Banalität. Die aufmerksame Beachtung dieses Tatbe­standes hat jedoch weitreichende Folgen für die Politikgestaltung. Friedenser­haltende Strukturen müssen offen ge­halten werden, sie werden für eine Transformation optimiert. Nur fehlt es den dominanten Akteuren im Westen erkennbar an solch weitgehendem Ge­staltungswillen. In der Vergangenheit zeigten sie bemerkenswerte Innovati­onskraft, führt man sich als damals neu­artige Strukturen - wie immer man sie bewerten mag - die NATO oder auch die KSZE vor Augen. Heute ist ein ver­gleichbarer Innovationsschub gefragt. Es bleibt Aufgabe der Friedensfor­schung, sich mit konzeptionellen De­batten an diesem Versuch zu beteiligen.

 

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Ulrich Albrecht ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der FU-Berlin.