Belgien schafft die Wehrpflicht ab - werden andere NATO-Länder folgen?

von Sam Biesemans
Hintergrund
Hintergrund

Zur Überraschung der übrigen europäischen NATO-Mitglieder hat der Ministerrat des Königreiches Belgien am 3. Juli 1992 be­schlossen, die Wehrpflicht ab 1994 abzu­schaffen. Der noch junge Verteidigungsmini­ster Leo Delcroix, Christdemokrat aus Flan­dern, seit sechs Monaten in diesem Amt, hat seine Idee, den Militärdienst zu eliminie­ren, damit durchgesetzt.

Diese belgische Entwicklung ist interes­sant aus vielerlei Sicht, denn das Ende des Kalten Krieges erschüttert die mili­tär-strategischen Kon­zepte in allen grö­ßeren europäischen Län­dern und die Debatte, die in Belgien geführt wurde, könnte in ähnlicher Weise in anderen Ländern aufleben.

Die Abschaffung der Wehrpflicht ist Teil einer grundlegenden Reform der bewaffneten Streitkräfte. Es ist der Ein­stieg in eine größere Parlamentsdebatte über entsprechende Regierungsvor­schläge, die Ende des Jahres vorliegen wer­den.

Der Beschluss des Minsterrates stellt fest: "In Anbetracht der Tatsache, daß die europäi­schen und NATO-Institutio­nen gehalten sind, ihre bisherigen Pla­nungen im Lichte der veränderten interna­tionalen Lage zu überprüfen, werden Außen- und Verteidigungsmini­ster mit ihnen Bera­tungen aufnehmen, um die belgischen Ver­pflichtungen neu zu definieren."

Wo bleibt die Friedensdividende?

Die der Entscheidung des Ministerrats voran­gegangene politische Diskussion enthielt ei­nige wichtige Elemente. Ein paar seien hier vorgestellt:

Die politische Entspannung muß durch die Abschaffung oder Ver­ringerung des Militärdienstes sowie durch eine Ver­minderung der Militärkredite eine Friedensdividende ermöglichen. Die Auf­gabenstellung der Streitkräfte ändert sich, denn ein totaler Krieg zwischen den beiden Blöcken in Ost und West, wie zuvor möglich, ist ausgeschlossen. Die Atomstrategie hat ausgedient. Die Militärstrategen möchten deshalb die Aufgaben der Streitkräfte auf Ak­tionen in regionalen Krisengebieten umwid­men, wie sie auf dem Balkan oder im ehema­ligen sowjetischen Imperium sichtbar werden. Diese Intervention er­folgt mit leichten und mobilen Truppen. Aus diesem Grund wird in dem Vor­schlag für eine neue belgische Armee vom Verteidigungsminister der Akzent auf die Entwicklung von Streitkräften des Typs "Para-Kommando" gelegt, ebenso auf die Be­reitstellung von Trup­pentransportern und Hubschraubern wie dem italienischen "Augusta", der kürz­lich von Belgien gekauft wurde. Ver­bunden mit diesem neuen Konzept dreht sich die Debatte um die Frage, wo diese Streitkräfte angebunden sein sollen: soll man sie im deutsch-französische Corps integrie­ren, sollen sie der Westeuropäi­schen Union (WEU) unterstellt werden, die nach den Be­schlüssen von Maastricht früher oder später der be­waffnete Arm der Europäischen Ge­meinschaft werden oder sollen sie als Inter­ventionstruppen zu "humanitären Zwecken" funktionieren, die den Ver­einten Nationen unterstellt werden? Diese Debatte hat erst be­gonnen.

Leider wird es keine rasche Friedensdivi­dende geben, folgt man den Budgetplänen des belgischen Verteidi­gungsministers: "Der Mi­nisterrat hält grundsätzlich daran fest, daß der Vertei­digungshaushalt die Obergrenze von 99 Milliarden belgischen Francs bis zum Jahre 1997 beibehält". Dieser Betrag entspricht den aktuellen Militärausga­ben; eine Verringerung um 20%, wie dies zuvor durch einige Regie­rungsparteien gefordert wurde (die So­zialisten befürworteten eine Verringe­rung der Militär­kredite unter Beibehal­tung eines auf 6 Monate reduzierten Militärdienstes), steht außer Frage. Die Armeefüh­rung schätzt, daß die Profes­sionalisierung und Transformation der Armee teuer wird. Dar­überhinaus muß man wissen, daß die Armee durch den Verkauf überflüssiger Waffen zu­sätzliche Mittel erhält: Fregatten, Kampfflugzeuge vom Typ F16, Panzer und anderes schweres Gerät. Die Em­pfängerländer dieser Verkäufe sind eben­falls Gegenstand heftiger Diskussionen, an denen sich Pazifisten betei­ligen müs­sen.

Die Abschaffung des Militärdienstes und weitere Reformen werden den Personalbe­stand der belgischen Armee von gegenwärtig 85.799 auf 45.000 verringern. Zur Zeit gibt es 35.000 Wehrdienstleistende.

Die pazifistische Bewegung und die nicht-staatlichen Organisationen zur Entwicklungs­zusammenarbeit in Bel­gien begrüßen die Ab­schaffung des Mi­litärdienstes. Sie fordern aber eine weit­gehende Verringerung des Mi­litärhaushaltes insbesondere, um die interna­tionalen Verpflichtungen gegen­über den Ent­wicklungsländern zu erfül­len. Man muß leider feststellen, daß die NATO-Mitgliedsländer immer noch in weit höherem Maße die Zah­lungs-Ver­pflichtungen gegenüber der NATO be­achten als die Überweisung der Ent­wicklungsgelder, die von den Vereinten Nationen eingefordert werden.

Was wird aus dem Recht auf Kriegsdienst­verweigerung?

Die KDV-Organisationen sowohl in Flandern als auch in Flamen - der "Burger­dienst voor de Jeugd" (BDJ) und die "Confederation du Ser­vice Civil de la Jeunesse" (CSCJ) - fordern die Beibe­haltung des Rechts auf Kriegsdienst­verweigerung, denn die Wehrpflicht könnte zum Beispiel in einem interna­tionalen Krisen­fall wieder eingeführt werden. Es erscheint ihnen deshalb notwendig, daß alle Bürger sich freiwil­lig und in jedem Alter als Kriegs­dienstverweigerer eintragen können. Dies verhinderte ihre Einberufung oder Wiederein­berufung zur Armee, falls die Wehrpflicht wieder eingeführt wird. Außerdem sollen Be­rufssoldaten und Freiwillige ebenfalls die Möglichkeit behalten, ihren Antrag auf Kriegsdienst­verweigerung zu stellen und zwar wäh­rend und nach ihrem Militärdienst. Die Ausdehnung des Rechts auf Gewissens­freiheit muß außerdem zum Beispiel ei­nem Arbeitslo­sen zu Gute kommen, der die Beschäftigung in einer Waffenfabrik verweigert ohne seine An­sprüche aus der Arbeitslosenversicherung zu verlie­ren.

Für einen freiwilligen Zivildienst

Die KDV-Verbände schlagen einen freiwilli­gen Zivildienst vor, der dem ge­genwärtigen verpflichtenden Zi­vil(ersatz)dienst folgt. Kriegsdienstver­weigerer leisten häufig einen anerkann­ten Beitrag in privaten oder öffentli­chen Einrichtungen, in denen sie beschäftigt sind. Der gegenwärtige Zivildienst zeigt die bestehenden Defizite in den weiten Bereichen der Gesellschaft auf. Der Staat verfügt nicht über die ausrei­chende Flexibilität, um auf die neuen Erfordernisse und Probleme in der Gesell­schaft zu reagieren. Kriegsdienst­verweigerer tragen häufig in kreativer Weise durch die Entwicklung zahlrei­cher Pilot-Initiativen zur Ver­besserung der Lebensqualität bei, sei es auf dem Gebiet der Menschenrechte, im Kampf gegen die Armut, im kulturellen Be­reich, im Jugendbereich, bei der Inte­gration von Immi­granten, bei Umwelt-, Friedens- und Ent­wicklungsprojekten.

Dieser freiwillige Zivildienst müßte besser entlohnt werden als der gegen­wärtige und steuerliche Vorteile bieten, die ihn attraktiv ma­chen. Er sollte für Männer und Frauen gleichermaßen offenstehen, für Belgier ebenso wie für Ausländer, die in Bel­gien wohnen. Er müßte sich nicht mehr nur an die Jugend wenden sondern könnte in jedem Al­ter wahrgenommen zum Beispiel zur Berufsun­terbrechung. Man müßte weiterhin darauf achten, daß dieser Freiwilligendienst nicht den übri­gen Berufen zugeordnet wird, die mit gewerkschaftlichen Problemen kon­frontiert sind in Folge des unnachgiebi­gen Konkur­renzdruckes der Lohnab­hängigen untereinan­der, die um bessere Bezahlung kämpfen.

Die von den pazifistischen Gruppen in Bel­gien geführte Kampagne scheint be­reits bei den Koalitionsparteien der so­zialistisch-christ-demokratisch geführ­ten Regierung Ge­hör gefunden zu ha­ben. Der Ministerrat er­klärte am 3. Juli 1992: "In der gleichen Zeit, in der die vorgeschlagene Parlamentsdiskus­sion über die Einrichtung eines freiwilligen Zivildienstes stattfindet, wird eine intermini­sterielle Arbeitsgruppe eine Studie über die Machbarkeit eines sol­chen Dienstes vorle­gen."

Für die belgischen Kriegsdienstverwei­gerer wäre dieser freiwillige Zivildienst ein Beitrag für die Verwirklichung einer solidarischen und weniger egoistischen Gesellschaft zur Verbesserung der Le­bensqualität in einer zi­vilen und für die Verwirklichung einer ge­waltfreieren Gesellschaft.

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Hintergrund
Sam Biesemans arbeitet seit 20 Jahren für die flämische Sektion der War Resisters International (WRI) in Brüssel und ist Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO).