Beobachtungen über die neue Zivilgesellschaft in Osteuropa

von Gerd Greune
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Niemand wird ernsthaft erstaunt darüber sein, dass die öffentliche Debatte in den post-kommunistischen Ländern über Globalisierung und Sicherheitspolitik anders verläuft als im Westen. Wir erinnern uns vielleicht noch daran, wie Friedensgruppen aus dem Baltikum Anfang der 90er Jahre bei europäischen Treffen sich für die Mitgliedschaft ihrer Länder in der NATO einsetzten. Der öffentliche politische Streit in den ehemaligen Mitgliedsländern des Warschauer Vertrages drehte sich in den vergangenen zehn Jahren eher darum, ob man zuerst in der EU oder in der NATO Mitglied wird. Sicherheitspolitisches Vertrauen wird in erster Linie den USA entgegengebracht und nur in geringerem Maße den Europäern. Nicht-Regierungsorganisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft, sofern sie sich überhaupt mit außen- und friedenspolitischen Fragen beschäftigen, orientieren sich mehr an Freiheits- und Bürgerrechten, sozialen Belangen, Angleichung ihrer Gesellschaften an europäische Rechtsnormen, und wenn es gut geht, am Schutz von Minderheiten, Flüchtlingen und MigrantInnen.

Eine starke Lobby haben auch noch traditionell in Mittel- und Osteuropa aber auch in den westlichen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einige Umweltthemen. Proteste gegen Naturzerstörungen, Versorgung von Strahlenopfern, Kampf gegen Umweltkriminalität, das sind Konfliktthemen zwischen Bürgergruppen, kritischen Journalisten und den Regierenden, die oft auch für die Protestierenden mit Strafverfolgung verbunden sind oder tödlich ausgehen.

Anti-Kriegsbewegungen in Ländern Osteuropas sind selbst dann, wenn der Krieg vor der Haustür stattfindet oder gar im eigenen Land, kaum bemerkbar.

Der Kosovo-Krieg ebenso wie der Bombenkrieg gegen Serbien und Montenegro hat die demokratische Opposition gespalten und schon gar keine sichtbare Empörung in den angrenzenden Nachbarländern hervorgerufen. Humanitäre Hilfe, ja, Unterstützung von Flüchtlingen und Derserteuren, ja, Verurteilung der Aggressionen - überwiegend Fehlanzeige. Natürlich haben Menschenrechtsgruppen gegen Massaker serbisch-nationalistischer Milizen protestiert und serbische Oppositionsgruppen gegen den Bombenterror der NATO mahnende Worte gefunden, aber überzeugende Proteste blieben Mangelware. Sie überließ man in beiden Fällen den Opfern nationalistischer Politik, die ihrerseits nationalistisch reagierten. Die Bürgerinnen und Bürger in den betroffenen Ländern und Nachbarländern sind immer noch Gefangene der ethnischen Spannungen und Gewalt geblieben.
 

Der Tschetschenienkrieg im Süden Russlands hat noch in den 90er Jahren vielfältigen Protest und zivile Einmischung erfahren. Im 1. Tschetschenienkrieg fanden Protestdemonstrationen und Friedensmärsche von Petersburg bis Grozny statt. Heute einigen sich Menschenrechtsorganisationen der Russischen Föderation, die im Januar 2001 in Moskau mit über 1.000 Delegierten zusammenkamen, nicht einmal mehr darauf, die Frage zu untersuchen, ob es sich bei der Intervention des russischen Militärs in Tschetschenien, die zur Folge hat, dass 3/4 der Bevölkerung das Land verlassen mussten, um Völkermord handelt oder nicht. Unterschriftenaktionen in Moskau, etwa der "Radical Party", einer pazifistischen Gruppe in Moskau, bringen im Laufe eines Tages gerade mal 45 Unterschriften zusammen, an einem Tag, an dem Grozny erneut bombardiert wurde.

Der Afghanistankrieg oder die Terroranschläge gegen die USA sind kaum Gegenstand heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen in Osteuropa. Vielleicht erinnern - eher hinter vorgehaltener Hand - serbische Gruppen daran, dass die Opfer des Terrorismus in den USA mehr Beachtung finden als die zivilen Opfer des Bombenkrieges in Serbien und Montenegro. Kritische Journalisten warnen vor der wachsenden militärischen Präsenz der USA und anderer NATO-Mächte in Zentralasien oder im Kaukasus. Aber in allen osteuropäischen Gesellschaften gibt es große Übereinstimmung darüber, dass der militärische Einsatz gegen die globale Bedrohung des Terrorismus und der Krieg gegen Taliban und Al Quaida in Afghanistan gerechtfertigt ist - basta. Kein Demonstrant, kein Protest in Sicht.

Die Bewunderung für die materielle Unterstützung beim demokratischen Umbau der Gesellschaften durch die USA und durch Herrn Soros ist so groß, dass die wachsende strategische Überlegenheit der USA gegenüber Russland und Europa eher wohlwollend zur Kenntnis genommen wird als Garant dafür, dass ein Rückfall in die Zeiten der Diktatur damit unwahrscheinlich oder gar ausgeschlossen ist. Sorge machen sich Bürgerrechtsgruppen allerdings über die wachsende Aushöhlung der internationalen Rechtsordnung. Die Kündigung des ABM-Vertrages, der Rückzug der USA aus dem Kyoto-Prozess und dem Internationalen Strafgerichtshof - dies kann Gegnern einer internationalen Friedensordnung in die Hände spielen und das bisher Erreichte in Frage stellen, äußert sich z.B. ein russischer Rechtsexperte beim Internationalen Roten Kreuz in Moskau, mit dem wir kürzlich ein Friedensprojekt für Tschetschenien durchführten.

Interessanterweise ist die Zusammenarbeit zwischen Friedens- und Konfliktforschung und staatlicher Sicherheitspolitik enger als wir dies im Westen kennen. Konfliktprävention sowohl zwischen Nachbarn mit erheblichem Konfliktpotential im Bereich grenzüberschreitender Minderheitenfragen (Rumänien, Ungarn, Ukraine, Serbien, Slowakei), die Bearbeitung von kriegerischen Konflikten im Kaukasus (Berg Karabach), im Baltikum oder in Moldavien, verzeichnen eine starke Beteiligung von Politikern und Wissenschaftlern aus Warschau, Prag oder Budapest im Rahmen von OSZE oder Europarat.

Wenig Popularität hat der Pazifismus in Mittel- und Osteuropa. Von kleineren kirchlichen Gruppen abgesehen, bleibt die Zahl von Kriegsdienstverweigerern marginal, obwohl das Recht auf Verweigerung in den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas bereits Anfang der 90er Jahre eingeführt worden ist. In Russland beginnen sich junge Menschen darüber aufzuregen, dass der Zivildienst mehr als doppelt so lang sein soll wie der durchschnittlich 2-jährige Militärdienst. In den meisten Ländern gibt es ein latentes Befehle verweigern, das auf Grund fehlender administrativer Kapazitäten auch häufig erfolgreich verläuft. Zivildienst spielt in den neuen Demokratien keine besondere Rolle.

Was beschäftigt Friedensgruppen in Osteuropa also?

Wenn wir nicht in die Falle laufen wollen, US-, NATO- oder EU-kritische Stimmen aus dem rechten oder nationalistischen Lager als Partner zu gewinnen, müssen wir bei der Zusammenarbeit mit Friedens- und Oppositionsgruppen geduldiger sein. Zu unterschiedlich sind die historischen Entwicklungen in Ost und West, um ernsthaft zu vermuten, hier ließen sich rasch gemeinsame Koalitionen bilden. In Belarus würde man heute in Lukaschenko einen Globalisierungsgegner der besonderen Art ausmachen, ebenso in Turkmenistan oder Moldavien. Andererseits kämpfen gerade in diesen Ländern ernstzunehmende Friedensfreunde für mehr Demokratie, Pluralismus, Meinungsfreiheit und internationale Offenheit und würden eine Gegnerschaft gegen die Globalisierung nicht verstehen - gerade sie bedeutet ja Freiheit und Öffnung. Ideologische Entwürfe oder Grundsätze sind der jungen Generation der Transitionsländer fremd oder suspekt.

Vor zwanzig Jahren hat sich die Friedensbewegung in Westeuropa für die Überwindung der Spaltung Europas eingesetzt und vielfältige Begegnungen mit Bürgergruppen organisiert. Das ist heute leichter als damals und sollte allerdings auch wieder intensiviert werden. Denn eine gemeinsame Friedensarbeit in Ost- und Westeuropa macht Sinn und könnte uns helfen, politische Prozesse auf unserem Kontinent besser zu verstehen.

Im Rahmen der Wiener Plattform von 1998 haben sich Bürgergruppen aus dem Menschenrechts-, Friedens-, Demokratie- und Umweltbereich in Ost und West zusammengeschlossen, um mehr Zusammenarbeit in einer erweiterten EU zu organisieren. Gruppen aus dem Balkan und aus Belarus, Russland und der Ukraine sind beteiligt. Wer mitmachen will, schaue ins Internet http://www.ifias.net/viennaplatform. Dort findet man auch Hinweise auf interessante Aktionen und Kampagnen in Mittel- und Osteuropa.
 

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Gerd Greune ist Vorsitzender von ifias Brussels.