Beschluß der Pax-Christi-Delegeirtenversammlung 1990

Schwerpunkt
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Für eine gemeinsam europäische Friedensordnung, für die Entmilitarisierung Deutschlands und den Aufbau der Fähigkeit gewaltfreier Selbstbehauptung

1. In den letzten Jahren hat sich Pax Christi mehrfach zu umstrittenen sicherheitspolitischen Fragen, insbesondere zum nuklearen Abschreckungssystem geäußert. Diesem System wurde 1983 in der Neustädter Erklärung jegliche Legitimation bestritten. 1986 formulierte Pax Christi  auf dieser Grundlage Konsequenzen für das eigene Handeln und forderte zu gewaltfreiem Handeln und Sichverweigern gegenüber dem nuklearen Abschreckungssystem auf (Feuersteiner Erklärung).

2. 1990 stehen wir vor einer völlig veränderten Situation: Perspektiven, die weit über das bisherige Ziel „Überwindung der nuklearen Abschreckung“ hinausgehen, sind in Sichtweise gerückt und erscheinen realistisch. Sie werden von immer mehr Menschen der Friedensbewegung, aber auch von Politikern und Politikerinnen gefordert.

Die neue Politik in der Sowjetunion und die gewaltfreien Aufstände in osteuropäischen Ländern haben dazu geführt, daß der Ost-West-Konflikt im Kern überwunden und der Kalte Krieg beendet ist. Demokratisch legitimierte Regierungen in den Staaten des Warschauer Paktes (WVO) eröffnen ein Verhältnis wirklicher politischer und wirtschaftlicher Kooperation anstelle der starren, von Gegnerschaft bestimmten Blockkonfrontation. Der Warschauer Pakt ist als Militärbündnis praktisch zerfallen .. In
dieser historischen Stunde darf der We¬sten nicht mehr an einer · Mauer zwischen Ost und West festhalten, indem altes Blockdenken zementiert wird.

Insofern sich die NATO auf eine angenommene militärische Bedrohung durch . den Warschauer Pakt bezog, ist ihre bisherige Begründung hinfällig geworden.

Sie muß jetzt schrittweise in ein gemeinsames· europäisches nicht-militärisches Sicherheitssystem, unter Einschluß der osteuropäischen Länder und der Sowjetunion, überführt werden. Ein Festhalten an diesem Militärbündnis bedeutet nicht nur eine anachronistische Festschreibung des Ost-West-Gegensatzes, sondern behindert auch das zusammenwachsen Europas. in politischer und ökonomischer Hinsicht. Durch eine solche Politik bliebe die Sowjetunion auf lange Siebt. in der Rolle einer potentiellen Gegnerschaft festgehalten. Wir sehen zugleich die große Gefahr, daß jetzt statt eines wirklichen Abrüstungs und Entmilitarisierungsprozesses-  nur ein Umstrukturierungs- und Modernisierungsprozeß von Waffensystemen eingeleitet und neue auf den Süden bezo¬gene Strategien entwickelt werden Sol¬che Tendenzen sind Zeichen dafür, daß es den westlichen Industrieländern – erst recht nach dem Wegfall des „alten“ Gegners im Osten- nicht so sehr um Kriegsverhütung und Verteidigung geht, sondern um die Aufrechterhaltung und Einsatzfähigkeit eines militärischen Drohpotentials zur Durchsetzung ihrer politischen und militärischen Interessen, vornehmlich gegenüber den Völkern und Staaten in der „Dritten“ Welt. Wir werden uns nach Kräften zur Wehr setzen, wenn die NATO nach einer Überwindung des Ost-West-Konfliktes ihr Überleben nun durch den Aufbau eines militärischen Konfliktpotentials gegen den Süden sichern will.

3. Die historische Situation in Europa bietet heute eine einmalige Chance zu wirklicher Abrüstung, für Entmilitarisierung und zum Aufbau dauerhafter friedenspolitischer Strukturen. Eine Vielzahl von Gründen kann für die Forderung benannt werden, daß militärisch gestütze Sicherheitspolitik in einem politischen Prozeß überwunden werden kann und muß:

3.1 Immer mehr Menschen sind davon überzeugt, daß in einem hochindustrialisierten Land kein Konflikt mehr sinnvoll mit militärischen Mitteln ausgetragen werden kann. Dies wird zunehmend durch wissenschaftliche Forderungen über mögliche Kriegsfolgen belegt. Studien über die Folgen von Nuklearkriegen liegen schon vor (vgl. die UNO-Studie „Kernwaffen“). Aber auch konventioneller Krieg ist in Staaten, die voller Atomkraftwerke und chemischer Anlagen sind, nicht führbar, denn auch ein solcher Krieg würde alle menschlichen und sozialen Werte zerstören und Massenvernichtung bedeuten (vgl. R. Bader/ M. Kortländer, „Strukturelle Nichtverteidigbarkeit hochindustrialisierter Staaten“, München 1989).

3.2 Weltweit und besonders in den Industrieländern wird die ökologische Krise als primäre Sicherheitsbedrohung und Überlebensfrage wahrgenommen. Wir brauchen für die Zukunft eine grundlegende Umorientierung unserer Lebens-, Produktions- und Konsumweise. Bereits die bisher entstandenen ökologischen Probleme und Gefahren erfordern einen ungeheuren finanziellen Einsatz und die Konzentration menschlicher Energien und Potentiale auf die Reparatur der beschädigten Schöpfung. Umso gefährlicher ist es, daß nach wie vor unvorstellbare Summen Geldes und ein großer Teil unserer geistigen Kapazitäten in militärische Projekte und Strukturen verschwendet werden.

3.3 Die Menschen in den Ländern der „Dritten“ Welt leiden vor allem unter den ungerechten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnissen, die wesentlich von den westlichen Industriestaaten mit aufrecht erhalten werden. Für sie gilt unmittelbar, daß Rüstung auch ohne Krieg tötet. Zum einen werden Entwicklungsmöglichkeiten für diese Regionen durch die Rüstungsausgaben der reichen Nationen blockiert. Zum anderen werden die Militärbudgets der „Dritte-Welt-Länder“ selbst immer umfangreicher, so daß große Teile der Einnahmen dieser Länder verpulvert werden, die sonst sozialen, technischen und ökonomischen Zwecken gewidmet werden könnten. Für diese Entwicklung sind nicht nur die Herrschenden der jeweiligen Länder verantwortlich, sondern ebenso die Waffenlieferanten aus Ost und West. Die Aufrüstung der Staaten der „Dritten“ Welt als auch die Militarisierung des Nord-Süd-Konflikts selbst lösen keine Probleme, sondern verschärfen die bestehenden Krisen. Nur Gerechtigkeit kann auf Dauer wirklichen Frieden schaffen.

3.4 Militärisch gestützte Sicherheitspolitik muß nicht nur, sie kann überwunden werden. Vielfältige Formen der gewaltfreien Konfliktaustragung sind erprobt, und sie können immer mehr zur Geltung kommen. Aus historischen Beispielen- nicht zuletzt aus den gewaltfreien Aufständen im Osten- wissen wir, daß ein Volk ohne Waffen nicht wehrlos ist. Auch für den Fall neuer militärischer Bedrohungen bleibt die Möglichkeit der Sozialen Verteidigung, d.h. der Anwendung der gewaltfreien Widerstandsmethoden zur Selbstbehauptung eines Volkes. Zudem können heute keine plausiblen militärischen Verteidigungsszenarios letztlich den Prinzipien zur Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten (Diskriminationsprinzip) und dem der Verhältnismäßigkeit zwischen dem angerichteten Schaden und dem zu verteidigenden Gut (Proportionalitätsprinzip) genügen. Für viele in der Pax-Christi-Bewegung folgt auch aus der Option des Evangeliums für die Gewaltfreiheit, daß das Notwehr- und Nothilferecht spätestens am Lebensrecht unbeteiligter Unschuldiger haltmachen müsse, was bei einer militärischen Verteidigung nicht gewährleistet hat.

4. Perspektiven

Aus all diesen Gründen tritt Pax Christi für den Aufbau einer umfassenden Friedensordnung für ganz Europa ein. Zu den grundlegenden Pfeilern dieser europäischen Friedensordnung gehört es, daß Friedenssicherung nicht mehr militärisch abgestützt werden braucht, sondern durch gerechte und gewaltfreie politische, kulturelle und ökonomische Strukturen geschaffen wird. Gemeinsame Zusammenarbeit und zwischenmenschliche Begegnungen sowie Eröffnung von Kommunikations- und Handlungsräume n spielen dabei eine ebenso bedeutende Rolle, insbesondere in der Gewinnung gegenseitigen Verständnisses.

Für den Aufbau einer europäischen Friedensordnung ist es vor allem notwendig, die Zuständigkeit für Fragen der Friedenssicherung der Souveränität heutiger Nationalstaaten zu entziehen, um damit die Möglichkeit zu schaffen, die Institution des Krieges sowie jegliches militärische Sicherheits- und Überlegenheitsstreben insgesamt zu überwinden. Einer der derzeitigen Anknüpfungspunkte und Bausteine zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung ist die Forcierung der Institutionalisierung der KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Zum Ausbau der KSZE sollte die neu zu schaffende Einrichtung gesamteuropäischer Gremien gehören: ein ständiges Sekretariat, ein Rat für Friedenssicherung und Zusammenarbeit, ein Zentrum zur Verhütung und Beilegung von Konflikten (friedliche Streitbeilegung), ein Institut für Konfliktforschung, verschiedene Räte zur Koordinierung und Förderung der wirtschaftlichen, rechtlichen, humanitären und kulturellen Zusammenarbeit. Im Rahmen einer zukünftigen europäischen Friedensordnung sollen neben staatlichen Institutionen auch Vertretungen nicht-staatlicher Organisationen, wie Gewerkschaften, Kirchen, Verbände, sowie Menschenrechts- und Friedensbewegungen, gleichberechtigt mitwirken können Insgesamt würde durch eine allgemein anerkannte europäische Friedensordnung die Umformung von militärischer zu rein politischer Friedenssicherung gefördert.

Gleiches gilt auch für die weltweiten internationalen Beziehungen: Friedenssicherung- und förderung ist längst nicht mehr eine regional oder gar national begrenzte Aufgabe, sondern steht in einem Kontext globaler Herausforderungen und Bedrohungen der Menschheit. Letztlich ist es daher dringend geboten, die Konsolidierung und den Ausbau völkerrechtlicher Ordnungen unter Einschluß einer internationalen Friedensordnung voranzutreiben.

Pax Christi setzt sich dafür ein, daß in Ergänzung zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung schon jetzt eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der gewaltfreien Selbstbehauptung und der Sozialen Verteidigung, auf breiter gesellschaftlicher und internationaler Ebene geführt wird. Dies bedeutet, den Ausbau der Fähigkeit zur gewaltfreien Selbstbehauptung und Sozialen Verteidigung mit allen Kräften zu fördern, damit - insbesondere für den Fall des Versagens politischer Konfliktregulierungen -nicht-militärische Handlungsalternativen bereitstehen.

Im Zusammenhang einer Entmilitarisierung Deutschlands und Europas halten wir die Konversion von militärischer in zivile Produktion für dringend erforderlich. Pax Christi fordert deshalb die schnelle Bereitstellung staatlicher Gelder, damit durch regionale Strukturpläne die Folgen „militärischer Monokulturen“ und Abhängigkeiten im Konversionsprozeß aufgefangen werden können.

5. In·mittlerweile·17 KSZE-Ländern drängen verschiedene „ohne-Armee“¬Initiativen auf eine grundsätzliche Entmilitarisierung·Europas.Die Kampagnen richten ihre Forderungen zunächst einseitig an die eigene Regierung, so auch die Kampagne "Für eine Bundesrepublik ohne Armee" (BoA), arbeiten jedoch aufgrund der Vernetzung mit den Kampagnen in anderen europäischen Ländern auf eine Entmilitarisierung sowie den Aufbau einer europäischen Friedensordnung hin, damit die historische Chance, den Weg von einer lebensverachtenden Logik des Militarismus und der Abschreckung zu einer Kultur der Gewaltfreiheit im nationalen wie internationalen Zusammenleben zu beschreiten, nicht vertan wird.

5.1 Wir wissen, daß eine große Zahl der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands einen solchen Prozeß der umfassenden Entmilitarisierung wünschen. Die Mehrheitsverhältnisse sind nicht eindeutig in dieser Frage, aber immer mehr Menschen erkennen die Absurdität des Festhaltens an militärischer „Sicherheits“-Politik. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich mit uns für den Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung, für die Entmilitarisierung Deutschlands und den Aufbau der Fähigkeit zu gewaltfreier Selbstbehauptung und Sozialer Verteidigung einzusetzen.

5.2 Von der Bundesregierung fordern wir insbesondere; einen Prozeß der Entmilitarisierung einzuleiten und umgehend mit folgenden dringlichen und vorrangigen Maßnahmen zu beginnen:

- Verbindlicher und grundgesetzlich verankerter Verzicht Deutschlands auf Besitz, Herstellung, Lagerung von eigenen oder ausländischen ABC-Waffen; Verzicht auf entsprechende Trägersysteme; keine Beteiligung an Planungen und Entscheidungen, die das Bereithalten und den Einsatz von ABC-Waffen betreffen; Verbot der Stationierung der neuen binären Chemiewaffen auch im Krisen- oder Kriegsfall;

- Verbot von Rüstungsexporten;

- Die sofortige Kündigung des Wartime-Host-Nation-Support- Abkommens, das den USA die Nutzung von Infrastruktureinrichtungen und logistische Unterstützung beim Truppeneinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebietes zusichert;

- Eintreten für die Auflösung der Militärbündnisse NATO und WVO zugunsten eines gesamteuropäischen Systems politischer Friedenssicherung;

- Erstellung und schrittweise Umsetzung eines Konversionsplanes für eine Entmilitarisierung Deutschlands bis zum Jahr 2000 und den Einsatz der freiwerdenden Gelder des Verteidigungshaushaltes in die Bereiche Arbeit und Soziales, Umwelt und Naturschutz, Entwicklungspolitik;

- Einrichtung eines Ministeriums für Abrüstung,Konversion und Soziale Verteidigung, wie es·vom Bund für SozialeVerteidigung gefordert wird;

- Einrichtung der Möglichkeit eines freiwilligen Dienstes und einer Ausbildung in gewaltfreier Aktion und Sozialer Verteidigung statt des Wehr- oder Zivildienstes.

 P .S. Die im Punkt 1. angesprochenen Texte (Neustädter und Feuersteiner Erklärung) können angefordert werden bei: Pax Christi, Postfach 1345, 6368 Bad Vibel.

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