Deutsche Atomwaffen

Bizarre Debatten: Deutsche Atombewaffnung oder neue Nachrüstung?

von Jürgen Wagner
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Die Ambitionen, an eine Atomwaffe zu gelangen, sind wohl nahezu so alt wie die Bundesrepublik selbst. Allerdings hat die diesbezügliche Debatte in jüngster Zeit mit Vorschlägen für eine „Europäisierung“ des französischen Arsenals besonders bizarre Züge angenommen. Viel realistischer ist dagegen die Gefahr, dass sich Pläne für eine neue Nachrüstung in Form der Stationierung atomarer US-Mittelstreckenraketen konkretisieren könnten, durch die das ganze existierende Rüstungskontrollgefüge existenziell bedroht würde.

Einen ersten Impuls erhielt die neuere Debatte um eine mögliche deutsche Atombewaffnung vom Mitherausgeber der FAZ, Berthold Kohler. Aufgrund der Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten könne man sich auf die US-Atomwaffen nicht mehr verlassen, weshalb in Deutschland nun das „Undenkbare“ auf die Agenda gesetzt werden müsse, „die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit“. (FAZ, 27.11.2016) Dieser Vorschlag wurde im Anschluss in einer Reihe von Medien aufgegriffen, zum Beispiel von Maximilian Terhalle im Debattenportal des Tagesspiegel: „Die Antwort auf den Wegfall des strategischen Schutzes für unsere nationale Sicherheit muss daher lauten: Deutschland braucht Atomwaffen. […] Ein Deutschland hingegen, das die Macht von Putins Russland begrenzen will, um unabhängig und damit politisch unbeugsam ein Europa aufrechtzuerhalten, das unseren innen- und außenpolitischen Handlungsspielraum erhält, muss dies militärisch und damit nuklear tun. Alles andere ist Illusion“. (Terhalle, Maximilian Tagesspiegel Causa, 23.1.2017)

Von politischer Seite erhielten diese Überlegungen besonders in Gestalt des CDU-Militärpolitikers Roderich Kiesewetter Rückenwind. Er schaltete sich ebenfalls schon im November 2016 in die Debatte ein, indem er forderte, es dürfte in dieser Angelegenheit „keine Denkverbote“ geben. Vor allem die Finanzierung französischer Atomwaffen und deren Überführung in einen wie auch immer gearteten EU-Rahmen schien es ihm angetan zu haben (siehe IMI-Standpunkt 2016/039). Um sich zu versichern, dass sich seine Vorschläge auch rechtlich auf „sicherem“ Boden bewegen, beauftragte Kiesewetter anschließend den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, um ihm genau dies zu bestätigen. Dieser veröffentlichte am 23. Mai 2017 dann pflichtschuldig seinen Sachstand „Deutsche und europäische Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale“: „Die derzeitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands aus dem NVV [Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag] und dem ‚Zwei-Plus-Vier-Vertrag‘ beschränken sich auf das Verbot eines Erwerbs von eigenen Atomwaffen (‚deutsche Bombe‘). Die ‚nukleare Teilhabe‘, wie sie bereits im Hinblick auf die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen praktiziert wird, verstößt ebenso wenig gegen den NVV wie die Ko-Finanzierung eines ausländischen (z.B. französischen oder britischen) Nuklearwaffenpotentials.“

Weshalb Frankreich allerdings auf die Idee kommen sollte, seine „Force de Frappe“ zu „europäisieren“ und damit eines seiner wichtigsten Machtinstrumente mit Deutschland und anderen EU-Staaten zu teilen, dürfte Kiesewetters Geheimnis bleiben. Allzu wahrscheinlich ist ein solches Szenario jedenfalls nicht, viel realistischer sind dagegen aktuell angestellte Überlegungen für eine neue Nachrüstung atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland (und womöglich in anderen EU-Staaten).

Neue Nachrüstung?
Aktuell haben die USA in fünf europäischen Ländern zwischen 150 und 200 taktische Atomwaffen stationiert – unter anderem wohl 20 davon in Deutschland (Büchel). Obwohl die USA bis zur Zündung die volle Kontrolle über diese Waffen haben, wären es im Einsatzfall deutsche SoldatInnen, die sie mit Bundeswehr-Flugzeugen ans Ziel bringen würden. Diese Waffen sind Teil der Nuklearen Teilhabe der NATO und werden aktuell für geschätzte 6 Milliarden Dollar „modernisiert“, wodurch sie zielgenauer, durchschlagender und gefährlicher werden (siehe IMI-Studie 2016/7).

Daneben haben die USA auch eine großangelegte „Modernisierung“ ihres gesamten strategischen Arsenals in Gang gesetzt, deren Kosten sich je nach Schätzung zwischen 350 und 1.000 Milliarden Dollar bewegen wird. Mit dem „Nuclear Posture Review“ vom Februar 2018 kündigten die USA zudem an, den Bau „kleiner“ Atomwaffen vorantreiben zu wollen, um ausreichend „flexibel“ auf regionalen Gefechtsfeldern agieren zu können. Dies zielt nicht zuletzt auf Russland, dem vorgeworfen wird, es plane im Konfliktfall einen frühzeitigen Einsatz taktischer Atomwaffen. Tatsächlich wurde die nukleare Einsatzschwelle in der aktuellen russischen Militärstrategie entgegen den Vorwürfen angehoben. Es sind die USA, die sie mit ihren Mini-Atomwaffen-Plänen potenziell deutlich absenken und damit die Gefahr regionaler Atomkriege drastisch erhöhen.

Und genau in dieser ohnehin schon recht heiklen Gemengelage beschuldigen sich Washington und Moskau seit einiger Zeit auch noch gegenseitig, den INF-Vertrag zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckensysteme (Reichweite 500 bis 5.500 Kilometer) zu verletzen. Im Zuge dessen machen Hardliner in den USA derzeit massiv Druck, dies als „Chance“ für eine neue Nachrüstung solcher Waffensysteme in Europa zu nutzen, wie in der Süddeutschen Zeitung (1.9.2017) beschrieben wird: „Im Kongress wurden bereits die ersten gesetzgeberischen Schritte eingeleitet, dass die USA 2019 den INF-Vertrag aufkündigen könnten – dann würde drohen, dass die USA neue Raketen bauen und auch in Europa stationieren. […] In dieser Lage haben nun auch in der Nato Überlegungen zu geeigneten Reaktionen begonnen. Allen Mitgliedstaaten wurde ein sogenanntes ‚Optionspapier‘ übermittelt. […] Mehr als ein Dutzend Vorschläge stehen in dem Papier […]. Besonders heikel sind zwei Überlegungen: die sogenannte nukleare Zielplanung auszubauen – also bereits die Ziele für Atomwaffen aufzuklären und festzulegen. [Auch sind] Maßnahmen denkbar, die bisher in der Kategorie ‚nicht ratsam‘ zu finden sind: Bau, Test und Stationierung einer neuen Klasse Raketen oder Marschflugkörper – ein weiterer Schritt hinein in einen neuen Kalten Krieg.“

Ende der Rüstungskontrolle?
In Kombination mit dem fortschreitenden Aufbau des NATO-Raketenabwehrschildes in Osteuropa hat Russland eine Reihe nuklearer Rüstungsmaßnahmen in Gang gesetzt, beziehungsweise in der Rede Wladimir Putins am 1. März 2018 angekündigt, um auf die reale oder zumindest so empfundene Bedrohung seines nuklearen Abschreckungspotenzials zu reagieren.

In diesem aufgeheizten Klima steht nun auch der Kernbestandteil des gesamten heutigen Rüstungskontrollsystems zwischen Russland und den USA zur Disposition: Der Neue START-Vertrag, der eine Begrenzung der auf weitreichenden Atomraketen und Bombern stationierten Sprengköpfen auf je 1.550 Stück vorschreibt, dessen Laufzeit aber bis 2021 begrenzt ist. KritikerInnen vermuten, dass es Hardlinern in den USA gerade recht wäre, wenn der Vertrag nicht verlängert würde, wäre so doch der endgültig der Weg für einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf frei.

Auffällig ist jedenfalls in diesem Zusammenhang, dass in offiziellen NATO-Papieren immer skeptischere Töne gegenüber den Perspektiven weiterer Rüstungskontrollvereinbarungen angeschlagen werden. Und auch in Deutschland mehren sich solche Stimmen, wenn etwa Karl-Heinz Kamp, der Chef der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BASKS), kundgibt: „Unter den aktuellen konfrontativen Bedingungen ist eine gemeinsame Reduzierung der Atomwaffen in Europe kaum noch vorstellbar. […] Es ist nicht der primäre Daseinszweck einer Nuklearwaffe, abgerüstet zu werden. Zweck einer Kernwaffe – wie auch jeder anderen Waffen – ist es, zur Sicherheit und Verteidigung beizutragen.“ (BAKS-Arbeitspapier 3/2015)

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt

Themen

Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI).