Blockauflösung und Bau des europäischen Hauses - zwei Seiten einer Medaille

von Volker Böge

Blockauflösung und Bau des europäischen Hauses - zwei Seiten einer Medaille

Der Warschauer Vertrag zerbröckelt. Osteuropäische Regierungen drängen Moskau zum Abzug der Roten Armee. Gerät jetzt die Auflösung der beiden Militärblöcke auf die Tagesordnung? Was ist die Alternative?

Die tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Umwälzungen in den Staaten des RGW-Bereichs lassen die militärische Erscheinungsform des Ost-West-Gegensatzes als überholt hinter sich. Es gibt keinen einheitlichen "Ostblock" mehr, der als Block ein System des real existierenden Sozialismus verteidigen könnte oder der als Block zur militärischen Bedrohung des Westens fähig oder willens wäre.

Deswegen entfällt auf westlicher Seite die Legitimation der Aufrechterhaltung von Streitkräften zum Schutze gegen die "Bedrohung aus dem Osten" ebenso wie auf östlicher Seite das Argumentationsmuster vom militärischen Schutz der Errungenschaften des real existierenden Sozialismus gegen mögliche imperialistische Aggression.

Während aber im Osten ganz handgreifliche Prozesse der Blockauflockerung, der weitgehenden einseitigen Abrüstung und Entmilitarisierung ablaufen, zeigt sich der Westblock nach wie vor weitgehend unbeweglich. Allerdings werden umfassende Abrüstungs- und Entmilitarisierungsmaßnahmen drüben die angesprochenen Legitimationsprobleme hüben weiter verschärfen und damit die Ausgangsbedingungen des Eintretens für Abrüstung und Entmilitarisierung auch hier verbessern. Der Westen hat diesbezüglich und in puncto Blockauflösung gegenüber dem Osten einen erheblichen "Nachhohlbedarf". Die Auflösung beider Blöcke aber ist für den Bau eines gemeinsamen Hauses unabdingbar.

Einbindung nationaler Macht
Blockauflösung darf wohlgemerkt nicht heißen: Rückfall hinter die Blockordnung in den nationalstaatlichen Partikularismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern Fortschritt über die Blöcke hinaus zu qualitativ neuen Strukturen internationaler Ordnung. An die Stelle der immer noch konfrontativen Blockstrukturen, in die die BRD, DDR und andere europäische Staaten heute noch eingebunden sind, muß eine neue gesamteuropäische Struktur treten, die die Nationalstaaten zum Zwecke der Kriegsverhütung überwölbt und verbindet, ohne daß dadurch eine neue, zentralisierte supranationale Machtstruktur geschaffen wird. Es sind neue internationale Strukturen des Interessenausgleichs und der Konfliktbewältigung notwendig, in die die nationalen Machtpotentiale eingebunden werden. Nicht das Festhalten am Blocksystem, aber auch nicht die Renationalisierung von Sicherheitspolitik, sondern die Schaffung solcher neuer gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen ist die angemessene friedenspolitische Antwort auf die tiefgreifenden Veränderungen in Europa. Dabei handelt. es sich um einen zweiseitigen Prozeß: einerseits geht es um die Auflockerung und Desintegration der noch bestehenden Militärblöcke, andererseits um die Vertiefung der blockübergreifenden Kooperation, insbesondere um die Intensivierung und Institutionalisierung des KSZE-Prozesses, der in Vereinbarungen münden muß, mit denen eine gesamteuropäische Friedensordnung in Form der Auflösung der Blöcke und der Etablierung eines Europäischen Systems Kollektiver Sicherheit konstituiert wird.

Eurokollektive Sicherheit

Ein eurokollektives Sicherheitssystem hätte u.a. die Funktion zu verhindern, daß traditionelle zwischenstaatliche Konflikte wieder aufbrechen und kriegerisch ausgetragen werden. Insofern hätte es die disziplinierende Funktion der alten Blöcke nach innen zu übernehmen. Gerade angesichts des Wiederauflebens von zwischenstaatlichen und Nationalitätenkonflikten in Ost-

und Südosteuropa (aber auch zwischenstaatlicher Konflikte anderswo in Europa, z.B. griechisch-türkischer Konflikt) ist die Bedeutung solcher Funktionen eines eurokollektiven Sicherheitssystems nicht zu unterschätzen.

Und ein solches System hätte die Funktion der Einbindung und Kontrolle deutschen Machtpotentials. Bei Schwinden bzw. Wegfall der integrierenden Kraft der Ost-West-Konfrontation wird dieses Machtpotential von den Nachbarvölkern in Ost und West aufgrund ihrer bitteren Erfahrung mit deutschem Militarismus und aggressiver deutscher Großmachtpolitik mit Recht künftig wieder als besondere potentielle Gefahr angesehen werden müssen.

Diesen berechtigten Sorgen und Ängsten der Nachbarn ist von deutscher Seite Rechnung zu tragen in Form einer Politik der Selbstbeschränkung einerseits (d.h. u.a.: bewußter Verzicht auf alle Wieder- und Neuvereinigungsoptionen, einseitige Abrüstung und Entmilitarisierung) und in Form der freiwilligen Einbindung in internationale Zusammenhänge und die Unterwerfung unter internationale Kontrollen andererseits. Das heißt u.a., daß eine künftige deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft sich - bei Anerkennung aller existierenden Grenzen in Europa - in den gesamteuropäischen Kontext einzubetten hat. Eine derartige Europäisierung der "deutschen Frage" ist unabdingbar für die Gewährleistung von Sicherheit für die europäischen Völker.

Nur ein solcher, gegen eine Renationalisierung von Politik gerichteter Ansatz, der die Zurückdrängung nationalstaatlicher Machtpolitik, die Überwindung des Nationalstaats als politischem Bezugsrahmen hat, ist künftig friedenspolitisch noch vertretbar.

Aufgabe der bundesdeutschen Friedensbewegung ist es, dafür zu sorgen, daß die BRD am Ende dieses Jahrtausends als vollständig abgerüsteter und entmilitarisierter Staat Teil einer neuen europäischen Friedensordnung ( = europäische Vertragsgemeinschaft, gemeinsames europäisches Haus, europäische Konföderation oder wie auch immer) ist.

Volker Böge ist Mitarbeiter im Institut für Internationale Politik in Wuppertal.

 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt