BoA Ausweg aus dem Teufelskreis Staat-nation-Militär-Krieg?

von Ingo Arend

In Gummersbach befanden deutsche FriedensforscherInnen die "Zukunft des Militärs in Industriegesellschaften" sei abgelaufen.

Noch vor einem Jahr gaben viele Mitglieder der 1968 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) nur genervt dem Drängen des streitbaren Berliner Politologen Ekkehart Krippendorff nach. Auf dem alljährlich wiederkehrenden AFK-Kolloquium der Vereinigung kritischer deutscher FriedensforscherInnen wollte er das einer radikalen Analyse unterzogen wissen, was nach seiner Meinung den bürgerlich-kapitalistischen Nationalstaat im innersten zusammenhält: Das Militär. Im letzten Jahr fand das kaum einer der Diskussion so dringend bedürftig, die historische Entwicklung seitdem gab Krippendorff jedoch Recht. In Ost und West wird intensiv über den Abbau der anachronistisch gewordenen Waffenberge verhandelt, im Gefolge der dramatischen Wandlungen im europäischen Sicherheitsgefüge und der wandelnden Bedrohungsvorstellungen formiert sich auch in der Bundesrepublik nach dem Vorbild der erfolgreichen Initiative in der Schweiz eine breite Bewegung für eine "Bundesrepublik ohne Armee". Die AFK hatte also mit ihrem Thema ins Schwarze der aktuellen Diskussion um die Zukunft der Deutschen und Europas getroffen. Die 100 ForscherInnen aus der Bundesrepublik, Österreich, der Schweiz, zusammen mit einem erstmals nicht gesiebten größeren Trupp Wissenschaftler aus der DDR loteten in einem der spannendsten AFK-Kolloquien seit langem die Frage aus, ob die historische Umbruchphase in Europa eine realistische Chance bietet, aus dem ewigen circulus vitiosus, dem Teufelskreis von Nation-Staat-Militär-Krieg auszubrechen.

Wertewandel zu zivilen Lebensmustern

Für den Hamburger Soziologen Ralf Bambach reifen die Chancen einer durchgreifenden Entmilitarisierung nicht allein aus der aktuellen politischen Situation. Er setzte auf einen sich seit langem entwickelnden gesellschaftlichen Schub für Abrüstung durch einen postmodernen Wertewandel, besonders bei Jugendlichen, der zivile Lebensmuster begünstige. Unter dem Druck dieser neuen sozialen Basisorientierungen und der Tatsache, daß die Friedensbedrohungen heute nicht mehr primär militärisch, sondern sozial, ökologisch, kulturell und ökonomisch definiert würden, falle die sicherheitspolitische Begründung für weiteren Unterhalt des Militärs in sich zusammen: "Die aktuelle Aufgabe europäischer Politik liegt darin, soziale Ungerechtigkeit und politische Konflikte weltweit militärfrei bewältigen zu helfen", resümmierte er. Bambach forderte deshalb mit Blick auf die Diskussionen der Friedensbewegung eine nicht nur im nationalen Rahmen, sondern europaweit angelegte Initiative "Europa ohne Armeen (EOA)".

Umstritten waren freilich die Schritte dorthin. Während Bambach für die Übergangszeit bis zu einer neuen europäischen Friedensordnung ein militärischer Restbestand in Europa tolerierbar schien, der polizeiähnliche Sicherheitsfunktionen ausüben könne, aber alleiniger nationaler Verfügung entzogen sein müsse, war das für die Hamburger Friedensforscherin Hanne-Margret Birckenbach vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) dieser Zwischenschritt nicht einsichtig. Sie bezweifelte, daß eine "Räuberbande per se vernünftiger und friedlicher als ein einzelner Räuber sein" werde. Die allenthalben favorisierten Systeme kollektiver Sicherheit waren für sie nur "Halbherzigkeiten".

Militär: Männliches Gesellschaftskonzept

Aber auch anderen Gründen schien den WissenschaftlerInnen das Militär zugunsten eines Zeitalters des Zivilismus abschaffenswert. Mit ihrem Grundsatzreferat zum Zusammenhang von Militär und Patriarchat hatte sich die Berliner Soziologieprofessorin Astrid Albrecht-Heide als erste Frau in der zwanzigjährigen Verbandsgeschichte einen beeindruckenden Einstieg als neue AFK-Vorsitzende verschafft. Sie zeichnete die Entstehung des Nationalstaates und des dazugehörigen militärischen Gewaltmonopols als primär männliches Gesellschaftskonzept nach, in dem Frauen keinen gleichberechtigten Status hätten. Das Militär sei alles andere als ein tragfähiges Sicherheitskonzept. Dahinter stehe der Versuch, bedrohte Männlichkeit mit der "phallischen Logik" von Kanonenrohren, Düsenjägern und der Produktion von "Megamännern", die in die Abendsonne jetten, überzukompensieren. Statt Sicherheit produziere es nichts weiter als eine Potenzierung militärischer und sozialer Gewaltförmigkeit. Das Militär, die Teilhabe an der "Megamännlichkeit" bewirke eine "Vergleichgültigung der zivilen Identität". Als Gegentherapie empfahl sie die gesellschaftliche Entwicklung von Ichstärke anstelle der vom Militär angebotenen gewalthaltigen "Egogerüste". Dazu sei jedoch nur eine zivile, nicht vom Primat des Militärischen dominierte Politik imstande. Berthold Meyer von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt brachte schließlich unter großem Beifall den Konsens der Versammlung auf den Punkt, als er das Militär als "Zeichen zivilisatorischer Unreife" bezeichnete.

Zusammenhang Herrschaft – Militär
Konkret wurde die bisweilen abstrakte Diskussion über das Aufbrechen des Zusammenhangs zwischen Herrschaft und Militär am Beispiel der DDR. Rainer Ohff vom Neuen Forum in Rostock sah eine nie dagewesene Chance, den Prozeß faktischer Entmilitarisierung in der DDR zu beschleunigen. Dagegen warnten viele Teilnehmer vor der "Bremswirkung" durch den nationalistischen Rückfall, der überall in Europa auf eine Wiedererrichtung der Nationalstaaten samt ihrer stehenden Heere zulaufe. Die Friedensforscher, als Wissenschaftlerbewegung aus dem Anspruch entstanden, eine nuklear verkommene Machtpolitik praktisch zu korrigieren, wären keine Friedensforscher, wenn sie in dieser historischen Situation nicht auch eine Herausforderung für ihr Selbstverständnis als soziale Bewegung gewittert hätten. In heftig geführten Diskussion um ihre praktischen Eingriffsmöglichkeiten brachen sich wie in einem Brennspiegel die seit einiger Zeit auf unzähligen Konferenzen schmorende Diskussion um Praxisbezug und gesellschaftliche Relevanz der sozialwissenschaftlichen Friedensforschung, die gegenüber den großen wissenschaftlichen Friedensinitiativen der Ärzte, Naturwissenschaftler, Informatiker und Psychologen in der Öffentlichkeit ins Hintertreffen geraten ist. Als eine ihrer Hauptaufgaben kündigte denn auch die neugewählte Vorsitzende eine engere Kooperation mit den neuen Strängen friedenwissenschaftlicher Betätigung in der Technikkritik, der feministischen Wissenschaft und der ökologischen Wissenschaft an. Mit dem diesjährigen Kolloquium hatte die AFK erstmals wieder Anschluß an die aktuelle politische Debatte gefunden. In der gegenwärtigen Situation, so forderte es Ekkehart Krippendorff, müßten gerade die sozialwissenschaftlichen FriedensforscherInnen die Funktion eines "antimilitaristischen Kompasses" übernehmen, sonst drohe statt einer friedlichen europäischen Umgestaltung der Rückfall in alte Herrschaftsmuster. Die Friedensforschung müsse die "Hefe im Teig" des Umbruchprozesses sein. Ausgerechnet ein Dozent von der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, der Hamburger Sozialwissenschaftler Wolfgang R. Vogt mußte dagegen - weniger euphorisch als Krippendorff - seiner Disziplin eine "Angst vor dem Frieden" bescheinigen. Die Friedensforschung sei mental blockiert; ihr sei der visionäre Ansatz, ein Entwurf für einen neuen positiven Frieden in Europa ob all der alltäglichen "Wissenschaftsgschaftlhuberei" abhandengekommen. In einem Augenblick, wo sich die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Militär und weiterer zivilisatorischer Entwicklung erweise, verfüge sie über keine Alternativkonzepte für die Zeit nach dem negativen Frieden.

Prozeß der Entmilitarisierung und Denuklerisierung Europas
Günther Bächler, Chef der neugegründeten Schweizerischen Friedensstiftung in Bern und die Hamburger Friedensforscherin Christiane Rix warnten vor der Überschätzung des antimilitaristischen Potentials in der DDR und vor der von rechts forcierten Formierung eines deutschen Machtpotentials alter Prägung im Herzen Europas. Sie forderten eine friedenspolitische Initiative der beiden deutschen Staaten als Initialzündung für einen Prozeß zur Entmilitarisierung und Denuklearisierung Europas. Ekkehart Krippendorff, nie um Vorschläge verlegen, mit denen er die nach seiner Meinung seit Jahren zu unpolitisch agierende AFK zu provozieren nicht müde wird, plädierte dafür, den Prozeß der Desintegration des Militärs in der DDR "nicht einfach so vor sich hin bröckeln zu lassen". Die Gelegenheit sei günstig, die Entmilitarisierung zu erkämpfen, sie sich nicht bloß von oben gewähren zu lassen. Er griff die Diskussionen in der ostdeutschen Friedensbewegung auf und schlug vor, parallel zu den BoA-Aktionen in der Bundesrepublik, den in der DDR gefeierten Tag der Nationalen Volksarmee am 1. März zu einem Plebiszit zur Abschaffung der NVA umzufunktionieren. Von der Befreiung von dem "Symbol verdinglichter Herrschaft" verspricht er sich auch einen generellen Demokratisierungsschub in der Gesellschaft. Dabei war er bei seinem Lieblingsthema - der bundesdeutschen Diskussion um die BoA-Initiative, zu deren Spiritus rector er zählt. Krippendorffs Vorschlag, die AFK solle als Organisation der Kampagne per Resolution beitreten und sie durch ihre wissenschaftliche Expertise unterstützen, fand auf der Tagung keinen Widerhall. Zu groß waren wieder einmal die Vorbehalte, die in langen Jahren mühsam errichteten Strukturen friedenwissenschaftlicher Selbstorganisation, akademischer Karrierestränge und der Reputation in der Hierarchie der Wissenschaftlerorganisationen und der Öffentlichkeit durch eine klare politische Forderung nach radikaler Abrüstung zum Einsturz zu bringen. Für Krippendorff, der schon verschmitzt drohte, demnächst eine "Sezession kritischer Friedensforschung'' in der AFK zu gründen, waren die Forscher wieder einmal bloße "Tendenzwächter'' geblieben, während draußen "die Welt brennt".

Kontakt AFK c/o AFB, Regine Mehl, Beethovenallee 4, 5300 Bonn 2, Ruf- 0228/356032

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund