Erfahrungen, Kämpfe und Visionen in der weltweiten Ökumene

Buchbesprechung „Gerechtigkeit, Frieden und (Über)Leben“

von Ulrich Frey
Hintergrund
Hintergrund

Rechtzeitig zu seinem 90. Geburtstag bilanziert Ulrich Duchrow seine Erfahrungen, Kämpfe und Visionen für „Gerechtigkeit, Frieden und (Über)Leben“ unter der Maxime: „Leben ist mehr als Kapital“. „Wie werden zukünftige Generationen noch leben können und was können wir dafür tun?“ (S. 9). Diese zentrale Frage stellt er in aller Deutlichkeit auf der Grundlage des „Konziliaren Prozesses gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ (JPIC), ausgerufen von der VI. Vollversammlung des ÖRK 1983 in Vancouver: „Die Kirchen sollen auf allen Ebenen – Gemeinden, Diözesen und Synoden, Netzwerken christlicher Gruppen und Basisgemeinschaften – zusammen mit dem ÖRK in einem konziliaren Prozess zusammenfinden“ (1). Duchrow lässt die Lesenden in einer überfälligen theologischen und ökonomischen Analyse an seinen Erfolgen und Misserfolgen in Kämpfen gegen das kapitalistische Weltwirtschaftssystem teilhaben.

Die Kapitel des Buches sind:

  1. Die 1960er-Jahre - Progressive Perspektiven für Gesellschaft, Kirchen und Theologie
  2. Der Lutherische Weltbund (LWB) knüpft an die Bekennende Kirche an (1970-1977)
  3. Ökumenische Basisarbeit für gerechte Strukturen (1978ff.)
  4. Der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (1983-1990)
  5. Die Verwerfung des imperialen Kapitalismus in allen internationalen Kirchenorganisationen
  6. Kairos Europa (1990ff. und die Reformation radikalisieren (2010ff.)
  7. Interreligiöse Solidarität für Gerechtigkeit in Palästina-Israel (ab 2009)
  8. Epilog. Was können wir aus 50 Jahren Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und (Über)Leben lernen und was in Zukunft besser machen?

 

Identität der Kirche?
Das zentrale ökumenische Problem bei allen Kämpfen war immer die Lehre von der Identität der Kirche und ihres Dienstes an den Menschen (Stichwort Ekklesiologie). Deren ökumenische Formel ist „konziliare Gemeinschaft“ bzw. „organische Union“, eine andere: „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ist das theologisch „fundierte Projekt“ (S. 117) für die Identität aller Kirchen, wie sie sich im Laufe der Geschichte auf unterschiedliche Weise entwickelt haben.

Die Debatte führt im Kern zum „status confessionis“ („außergewöhnlicher Bekenntnisfall“, Anm. d. Red.) im Falle des Antirassimusprogramms gegen die Apartheid in Südafrika, ähnlich die Barmer Theologische Erklärung, Artikel III, im Kirchenkampf der Bekennenden Kirche gegen die Deutschen Christen in Nazideutschland. Kriterien sind a) die „Einbettung der ethischen und politisch-ökonomischen Fragen“ (S. 105) sowie b) die ökumenischen Basisorganisationen. Nicht oder nicht immer ist dies der Fall. Die aktuelle Friedensethik der Ökumenischen Versammlung Dresden-Magdeburg-Dresden (1989) des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR ist beispielhaft.

Basisorganisationen, z.B. Kairos Europa
Für die Beteiligung aller Formen auf allen Ebenen aller Kirchen haben Duchrow und viele Unterstützende 1990 das Ökumenische Basisnetzwerk Kairos Europa“ gegründet. Die Initiative soll den „Widerstand gegen den imperialen Kapitalismus und die Arbeit an Alternativen“ (S. 163) fördern. Denn ohne „verstärkte Basisbewegung und den Aufbau von zivilgesellschaftlicher Gegenmacht wird es keine Transformation des tödlichen Weltwirtschaftssystems geben“ (S. 163). Strategisch geht es einerseits um die Entwicklung von Widerstand und Verweigerung, anderseits um die Nutzung von Punkten, „Gegenmacht (zu) organisieren und makroökonomische und politische Entscheidungen pragmatisch in die erstrebte Richtung zu beeinflussen versuchen“, z.B. gegen Rassismus (S. 171). Kairos Europa hat durch viele Aktivitäten (z.B. die Zachäuskampagne) dazu beigetragen, dass alle internationalen ökumenischen Kirchenorganisationen „den imperialen Kapitalismus verwarfen und ein alternatives Wirtschaftssystem“ forderten – „ein kirchengeschichtliches Ereignis“ (S. 225). Die deutschen Kirchen stehen bisher abseits gegen die Ökumene.

Duchrow hat die offensichtliche Problematik faktenreich und eingängig formuliert. Er bittet die progressiven Gruppen, Bündnisse mit Gewerkschaften und Kirchen „zum Aufbau einer Wirtschaft und Kultur des Lebens“ einzugehen. Er hofft, dass künftige Generationen „dann noch eine Lebenschance haben“ (S. 236). Der Rezensent ist überzeugt, dass die ökumenische Bewegung wie bisher von Kommunikation, Dialog und Diskurs lebt. In diesem Sinne ist dem Buch viel Erfolg auch bei Kritiker*innen zu wünschen.

 

Anmerkung

1 Müller-Römheld, Walter (Hg.): Bericht aus Vancouver 1983. Offizieller Bericht der Sechsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Verlag Otto Lembeck, Frankfurt a. M., S. 116.

Ulrich Duchrow (2025): Gerechtigkeit, Frieden und (Über)Leben. Erfahrungen, Kämpfe und Visionen in der weltweiten Ökumene, Hamburg: VSA-Verlag, 299 Seiten, ISBN 978-3-96488-2430-0, 19,80 Euro.

Ulrich Frey war u.a. früher Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e.V. (AGDF).

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Hintergrund
Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.