Geschichte und Frieden in Deutschland 1870–2020

Buchbesprechung: Würdigung des Werkes von Wolfram Wette

von Detlef Garbe
Hintergrund
Hintergrund

Im Nachgang zum 80. Geburtstag des Historikers und Friedensforschers Wolfram Wette erschien Ende 2023/Anfang 2024 ein schwergewichtiges und zugleich gehaltvolles 879-seitiges Buch, dessen 43 Beiträge Rückschau halten auf 150 Jahre deutscher Geschichte. Den beiden Herausgebern Helmut Donat und Reinhold Lütgemeier-Davin ist es gelungen, für dieses Buchprojekt zahlreiche namhafte Personen zu gewinnen, viele von ihnen aus dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung, aber auch aus anderen wissenschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen.

Das weite Spektrum der 39 Autoren und der leider nur vier Autorinnen – ein Hinweis auf das lange ungleiche Interesse an militärgeschichtlich geprägten Themen wie andererseits an geschlechterspezifischen Fragestellungen – reicht von Götz Aly über Detlef Bald, Wolfgang Benz, Stig Förster und Klaus Theweleit bis zu Ilse Zelle. Politiker wie die ehemaligen Minister Gernot Erler und Rolf Wernstedt, der General a.D. Winfried Vogel und der Jurist Helmut Kramer gehören ebenso zu den Mitwirkenden wie die russischen Professorinnen Tatyana Evdokimova und Nina Vashkau oder die Aktivisten Jürgen Grässlin, Jakob Knab und Günter Knebel.

Die chronologisch angeordneten Beiträge setzen ein mit dem aus dem Sieg über Frankreich 1870/71 hervorgegangenen deutschen Kaiserreich und dessen Prägung durch den preußischen Militarismus. Beiträge über den alle zuvor gekannten Dimensionen der Waffentechnik wie des Verschleißes von Menschenleben sprengenden, auch aus der Luft wie mit Giftgas geführten Ersten Weltkrieg wechseln sich anschließend ab mit Betrachtungen über die Entstehung friedensgesinnter und pazifistisch orientierter Gruppen, die zu den ersten Gegnerinnen der Nationalsozialisten zählten. Der Charakter des Zweiten Weltkriegs als ein Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg neuer Prägung steht im Zentrum von fünf Beiträgen.

Eine noch deutlich größere Zahl, nämlich die gute Hälfte aller Beiträge thematisiert die Nach- und Rezeptionsgeschichte der kriegerischen Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein. Aufgrund der Monstrosität der Shoah in Osteuropa, des millionenfachen Mordes an sowjetischen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung kommt dem deutsch-russischen Verhältnis und der Aussöhnung im Wirken Wettes wie in der Anlage des Buches ein besonderes Gewicht zu. Vier Beiträge widmen sich diesem Thema, das auch in Zeiten des russischen Angriffs auf die Ukraine und trotz des Herrschaftsanspruchs Putins seine grundsätzliche Bedeutung für ein friedliches Miteinander der europäischen Völker nicht verloren hat.

Bemerkenswert ist die Fülle von biografischen Studien. Insgesamt finden sich 13 überwiegend an einzelnen Lebenswegen orientierte Beiträge. In ihnen spiegeln sich oftmals bedeutungsvolle Wandlungsprozesse. So den des Rüstungsmanagers im Krupp-Konzern Wilhelm Muehlon, der unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten wurde (Volker Ulrich). Oder den Weg des Hauptmanns Robert Bernadis vom Wehrmachtsverbrecher zum nach dem Staatsstreichversuch des 20. Juli vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer (Hannes Heer). Beachtenswert ist auch der Beitrag über Georg Werthmann, bis 1945 katholischer Feldgeneralvikar in der Wehrmacht und ab 1956 bis 1962 erster Generalvikar der katholischen Militärseelsorge in der Bundeswehr (Peter Bürger) sowie Jörg Wollenbergs Abhandlung über den marxistischen Wirtschaftswissenschaftler und -historiker „Jürgen Kuczynski und die Fehleinschätzung von zwei Weltkriegen“.

Hervorzuheben ist, dass eine Reihe von Beiträgen bislang nur wenig untersuchte Themen ansprechen, so die im Vergleich zu Deserteuren kleine, aber bemerkenswerte Zahl von Kriegsdienstverweigerern im Ersten Weltkrieg (Guido Grünewald), oder heutige Tabus offen thematisieren, so Johannes Klotz und Helmut Donat über die zunehmende Abkehr von einer Friedensethik hin zur Orientierung an der Kriegslogik (in Auseinandersetzung mit Sönke Neitzels „Deutsche Krieger“) sowie Jürgen Rose in seinem Aufsatz „Töten für Deutschland – Das Kommando Spezialstreitkräfte in den Dunkelzonen der Demokratie“.

Einige Autorinnen und Autoren setzen sich explizit mit dem Schaffen von Wolfram Wette auseinander, mit den von ihm gezogenen Lehren aus der Geschichte (Jürgen Reulecke und Helmut Donat), der Bedeutung, die die Auseinandersetzung mit dem Stalingrad-Mythos für Wettes Denken und Handeln hat (Tatyana Evdokimova) und über die Aufregung, die seine Biografie über den sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske in den 1980er-Jahren auslöste bis hin zu dem gescheiterten Versuch, die Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse zu verhindern (Helmut Donat). Sigrun Rehm und Roland Burkhard, Wegbegleiter von Wettes Engagement in seiner südbadischen Heimatstadt Waldkirch, berichten über seinen Beitrag zur regionalgeschichtlichen „Aufklärung im Dienst der Wahrheit“ und über Wette als „Nachbarn, Freund und ‚Nestbeschmutzer‘“.

Das Buch würdigt die geschichtswissenschaftlichen Leistungen, die Verdienste um die Begründung der „Historischen Friedens- und Konfliktforschung“ und das politische Engagement Wettes, der sich auch als SPD-Stadtrat in der Kommunalpolitik einbrachte. Zu Recht wird betont, dass Wette sich nie als ein Akademiker verstand, der sich allein auf den Fachdiskurs konzentriert. Bis heute hat er stets auch die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit im Blick, wie u.a. seine zahlreichen Zeitungsartikel belegen. Immer wieder brachte er sich in geschichtspolitische Debatten ein wie jener um die Ausstellungen über die Wehrmachtsverbrechen, streitbar und entschieden, aber stets im Dialog und an konstruktiven Lösungen interessiert. Ausgehend von alltags- und sozialgeschichtlichen Zugängen gehört Wette zu einem der zentralen Begründer einer „Militärgeschichte von unten“. Im Zusammenwirken mit seinem damaligen Chef und langjährigen Mentor Manfred Messerschmidt hatte er auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr stets die Opfer von Kriegen im Blick. Dass er von Messerschmidt 2012 den Vorsitz im wissenschaftlichen Beirat der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz übernahm, lag ebenso auf dieser Linie wie sein Plädoyer für Deserteursdenkmale. Zu Recht fanden seine Studien zu Judenrettern in Wehrmachtsuniform eine große öffentliche Aufmerksamkeit, lenkte er doch den Blick auf alternative Handlungsoptionen, die allein durch ihre Existenz manche Legende der Kriegsgeneration in Frage stellen.

Das am Ende des Buches aufgenommene 66-seitige Verzeichnis der Publikationen von Wolfram Wette legt Zeugnis ab von dessen enormen Werk. Für die Jahre von 1971 bis 2023 weist es über 900 Titel aus, davon allein 25 Monografien, 32 Bücher, bei denen er als Herausgeber fungierte. und 312 wissenschaftliche Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften, ferner eine Vielzahl von publizistischen Arbeiten und Beiträgen zur regionalgeschichtlichen Forschung.

Dieses Buch ist gleichwohl nicht nur eine Festschrift, nicht nur die mehr als berechtigte Würdigung eines wegweisenden Forschers. Vielmehr fügen sich die (vielleicht etwas zu vielen) Beiträge zu einer Gesamtschau. Das Buch ist wahrlich – wie es sein Titel verheißt – ein unverzichtbares Kompendium zu Geschichte und Frieden in Deutschland 1870–2020.

 

Anmerkung:

  • Donat, Helmut und Reinhold Lütgemeier-Davin (Hrsg.) (2024): Geschichte und Frieden in Deutschland 1870–2020. Eine Würdigung des Werkes von Wolfram Wette, Bremen: Donat Verlag, ISBN 978-3-949116-11-7, 879 Seiten, 48 Euro.

Rubrik

Hintergrund
Prof. Dr. Detlef Garbe, geb. 1956, Historiker, von 1989 bis 2019 Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, 2020 bis 2022 Gründungsvorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte.