Chile: Soziale Heilung durch soziale Wiedereingliederung

von Roberta Bacic
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Das Militärregime, das Tausende von Chilenen ermordete und Hundert­tausende ihrer Rechte beraubte, endete vor fünf Jahren. Wie repariert eine Gesellschaft den Schaden, der von fast zwei Jahrzehnten Willkür­herrschaft verursacht wurde? Die Autorin dieses Artikels war eine der Frauen, die die Demonstrationen vor Pinochets Folterzentren organi­sierte. Sie arbeitet heute für eine staatliche Behörde, die die Entschädi­gung von Folteropfern organisiert. (Die Red.)

Der soziale und politische Kontext des Übergangs in Chile ist komplex. Er hängt sehr von der Marktwirtschaft und der Gewährung von Straffreiheit für diejenigen ab, die während der Diktatur Menschenrechtsverletzungen begingen. Dennoch hat es eine gewisse Versöh­nung zwischen den Opfern und einigen Teilen der Gesellschaft gegeben. Aus dieser Tatsache heraus können wir ei­nige positive Lehren für das Thema der "sozialen Heilung" ziehen.

Während der Diktatur war die Gesell­schaft als ganze durch eine Zweiteilung gekennzeichnet, der von dem Regime als unversöhnlicher Kräftegegensatz dargestellt wurde:

-     diejenigen, die die sozialistische Re­gierung von Salvador Allende unter­stützt hatten und die "links dachten", wurden alle als "Kommunisten" klas­sifiziert; manchmal wurde dieses La­bel auf alle GegnerInnen des Militär­regimes ausgeweitet.

-     alle anderen - von denen man an­nahm, daß sie die autoritäre Herr­schaft unterstützten - wurden die "wahren Chilenen" genannt.

Diese Teilung wurde sprichwörtlich mit der banalen aber erschreckenden Fest­stellung eines Junta-Mitglieds, die oft­mals in der Presse und im Fernsehen wiederholt wurde: Ihm zufolge war die chilenische Bevölkerung in "Menschen" und "Menschenartige" unterteilt. Einer anderen Kategorisierung zufolge waren wir entweder "Einheimische" oder "Moskoviten". Dies war ein typisches Beispiel für die "Doktrin der nationa­len Sicherheit", die auf dem Bild des "inneren Feindes" beruht.

Der Preis der Nichtzustimmung zum Regime hieß Arbeitslosigkeit, Vertrei­bung, Exil, Gefängnis, Folter, Hinrich­tung oder Verschwinden. In diesem Kontext war es sehr klar, daß es ver­schiedene Kategorien von BürgerInnen gab und wir begonnen, uns gegenseitig mit Misstrauen zu beäugen. In extremen Fällen hieß es, den anderen auszuschlie­ßen. In anderen Worten, das soziale Ge­flecht war zerrissen.

Das soziale Geflecht anfangen zu re­parieren

Der Übergang zur Demokratie und die Machtübernahme durch eine zivile Re­gierung wurde durch politische Aktion möglich gemacht. Der Sieg der "Nein"-Kampagne in der Volksabstimmung 1988 war ein deutlicher Schritt zur Ausrufung von Wahlen. Soziale und Nicht-Regierungsorganisationen spiel­ten eine aktive und entscheidende Rolle dabei, diesen Punkt zu erreichen. Au­ßerdem war auch die Unterstützung durch die katholische und andere Kir­chen und die Berichte über Menschen­rechtsverletzungen wichtig.

Die neuen Institutionen der zivilen Ge­sellschaft haben zu dem Wandel beige­tragen, aber andere Faktoren schlossen internationale Solidarität, die Rolle be­stimmter bewaffneter Oppositionsgrup­pen, das Zeugnis politischer Gefange­neer und der Verlust an Glaubwürdig­keit durch das Regime selbst ein.

Wahrheit und Versöhnung

Was waren die Hauptschritte für den Prozess der sozialen Heilung zwischen 1990 und 1995? Der erste ist die Schaf­fung einer "Kommission für Wahrheit und Versöhnung" durch den ehemaligen Präsidenten Patricio Aylwin, die für die Ermittlung der schwersten Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Diese Ermittlungen dauerten neun Mo­nate und beschränkten sich auf Todes­fälle und auf Fälle spurlosen Ver­schwindens. Die Kommission war ge­fragt, Empfehlungen abzugeben, wie Wiedergutmachung für diese Verluste geleistet werden könne.

Durch den offiziellen Charakter ihrer Ermittlungsergebinisse - die in drei Bänden veröffentlicht wurden - hatte die Kommission einen unmittelbaren Einfluss auf die soziale Heilung. Präsident Aylwin, der sich per Fernsehen an das ganze Land wandte, bat offiziell um Verzeihung für das, was im Namen des chilenischen Staates geschehen war.

Eine andere Auswirkung der Arbeit der Kommission war, daß diejenigen, die hingerichtet oder verschwunden waren, offiziell als "Opfer" anerkannt wurden, anstatt als Kriminelle angesehen zu werden oder einfach unbekannt und nicht anerkannt zu sein.

Neue Fäden für das Geflecht

Der nächste Schritt war die Gründung der Behörde für Nationale Wiedergut­machung und Versöhnung. Auf ihre Anweisung hin werden nun Renten an die Familien von Opfern bezahlt. Deren Kinder erhalten eine kostenlose Ausbil­dung von der Mittelschule bis zur Uni­versität, was bedeutet, daß der Staat die materielle Verantwortung des fehlenden Elternteils übernimmt. Ein spezielles Gesundheits-Fürsorgeprogramm sichert die Familien. Es steht auch anderen Op­fern des Regimes zur Verfügung und bringt dadurch die Betroffenen in das soziale Geflecht zurück. Kinder von Op­fern sind vom Militärdienst ausgenom­men.

Auf dem Friedhof in Santiago gibt es jetzt ein Denkmal für die 3.197 be­kannten Opfer der Diktatur. Viele von ihnen sind auch dort begraben. Auch außerhalb der Hauptstadt wird ver­gleichbare Arbeit getan, die Opfer der Diktatur anzuerkennen und ihnen Würde zu geben. Was die Verschwun­denen betrifft, so ist die Arbeit der Be­hörde, ihre Leichen zu finden und zu identifizieren, bis Ende 1995 verlängert worden.

Bildung für Versöhnung

Der dritte Hauptbereich sozialer Hei­lung ist das Schulsystem. Dort zieht sich nun das Thema "Menschenrechte" durch das ganze Curriculum; Ziel ist, daß die öffentliche Bildung eine Kultur ermu­tigt, die auf dem Respekt gegenüber dem Anderen beruht.

Dies sind einige der Mechanismen, die genutzt wurden, um eine integrierter Gesellschaft zu schaffen. Ein sehr we­sentlicher Schritt, den wir in vielen ver­schiedenen Kontexten gesehen haben, war die Schaffung von Kontaktpunkten zwischen den Betroffenen und den Ver­treterInnen des Staates (in ihrer offi­ziellen und öffentlichen Rolle). Parallel hierzu hat es sich bewährt, verschiedene Kanäle für die Förderung und Verbrei­tung von Menschenrechten zu haben. Dadurch beabsichtigen wir, ein größeres Bewußtsein von diesen Rechten zu schaffen, damit die Gesellschaft als Ganze ein wacheres Bewußtsein ihrer Wichtigkeit hat und sicherstellt, daß sie in Zukunft nicht wieder verletzt werden.

 

Dieser Artikel wurde aus Peace News März 1995 übernommen und leicht ge­kürzt. Übersetzung: Red.

 

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Roberta Bacic ist chilenische Kuratorin von Ausstellungen von Arpilleras und Quilts. Sie lebt in Nordirland. Von 1993 bis 1996 war sie Forscherin bei der Nationalen Körperschaft für Reparationen und Versöhnung. Siehe www.cain.ulst.ac.uk/quilts. Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion.