100 Tage Rot-Grün in Bonn: Ziehen Sie selbst Bilanz

Chronik eines angekündigten Ausstiegs

von Mathias Edler
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(Red/ms) Nachstehenden Artikel von Mathias Edler haben wir mit dessen freundlicher Genehmigung der Gorleben-Rundschau entnommen. Nicht nur friedenspolitisch, auch atomausstiegspolitisch ist das rot-grüne Bühnenstück ein einziges Desaster.

Der Artikel - die Chronologie eines misskonnten Ausstiegs - endet am 2.2.99: mit der Verschiebung der Atomgesetznovelle. Was danach geschah, ist schnell vorweg erzählt: Nachdem die Atomgesetznovelle, mit der ja das Ende der Wiederaufbereitung auf das Jahr 2000 festgelegt werden sollte, noch einmal verschoben wurde, wird Mitte März verkündet, dass es vorläufig auch ohne Novelle gehe. Ein Gesamtpaket solle geschnürt werden, vermutlich mit Restlaufzeiten, die die AKWs eh nur noch laufen können, und Fristen für die Wiederaufbereitung, wie sie die Strombosse sowieso vereinbart hätten. Sie wollten aus Kostengründen aus der Wiederaufbereitung aussteigen und nur noch die bestehenden Verträge auslaufen lassen. Das wird ihnen nun offensichtlich zugestanden.

Jochen Stay beschreibt in einem zusätzlichen Artikel, den wir sehr gekürzt der Graswurzelrevolution entnommen haben, die Perspektiven für die Bewegung. Zum nächsten Atomtransport ist Massenprotest vonnöten, um die Castor-Transporte so kostspielig wie möglich zu machen. Dann kann es doch noch zur "Verstopfung" der "Entsorgungs"strategie der Atomkonzerne kommen - und zu einem schnelleren Ausstieg, den die Regierung schon jetzt verpatzt hat, da der Ausstieg ja vor allem für die Konzerne kostenfrei zu gestalten ist, so Schröders Wirtschaftslogik.
 

Chronologie
20. Okt. 1998 Im Koalitionsvertrag einigen sich SPD und Grüne auf folgendes Verfahren im Sinne einer "umfassenden und unumkehrbaren" Regelung zum "Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie":

"In einem ersten Schritt wird als Teil des 100-Tage-Programms eine erste Änderung des Atomgesetzes mit folgendem Inhalt eingebracht:

  •  Streichung des Förderzweckes
  • Einführung einer Verpflichtung zur Sicherheitsüberprüfung, vorzulegen binnen eines Jahres
  •  Klarstellung der Beweislastregelung bei begründetem Gefahrenverdacht
  • Beschränkung der Entsorgung auf die direkte Endlagerung
  •  Aufhebung der Atomgesetznovelle von 1998 (mit Ausnahme der Umsetzung von EU-Recht)
  • Erhöhung der Deckungsvorsorge.

Im zweiten Schritt wird die neue Bundesregierung die Energieversorgungsunternehmen zu Gesprächen einladen, um eine neue Energiepolitik, Schritte zur Beendigung der Atomenergie und Entsorgungsfragen möglichst im Konsens zu vereinbaren. Die neue Bundesregierung setzt sich hierfür einen zeitlichen Rahmen von einem Jahr nach Amtsantritt.

Als dritten Schritt wird die Koalition nach Ablauf dieser Frist ein Gesetz einbringen, mit dem der Ausstieg aus der Kernenergienutzung entschädigungsfrei geregelt wird; dazu werden die Betriebsgenehmigungen zeitlich befristet. Der Entsorgungsnachweis wird angepasst."

20. Nov. Trittin erklärt, der Gesetzentwurf zur Novellierung des AtG`s sei schon "in seiner Aktentasche" und werde in wenigen Tagen den Fraktionen von SPD und Grünen zugeleitet. Er beinhaltet auch ein Verbot der Wiederaufarbeitung zum Jahresbeginn.

7. Dez. Nach Protesten aus der Energiewirtschaft stellt das BMU die AtG-Novelle zurück und lässt sich die WAA-Verträge der EVU`s (Energieversorgungsunternehmen) zur Prüfung von Schadensersatzforderungen bei einem Ausstieg vorlegen. Trittin leugnet gar die Existenz eines grünen Entwurfes zur Novellierung des AtG.

14. Dez. Schröder fordert nach einem "informellen" Konsensvorgespräch mit den Vorsitzenden von vier großen Energieversorgern, dass vertragliche und völkerrechtliche Fragen beim Ausstieg aus der WAA "geklärt und beachtet" werden müssen. Trittin war zu dem Gespräch nicht eingeladen. Trotzdem sei die AtG-Novelle bis auf "wenige Einzelpunkte fertig" und soll "im Januar noch vor Beginn der Konsensgespräche" in den Bundestag eingebracht werden.

16. Dez. Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Pfaffenberger errechnet in einem von den EVU`s finanzierten Gutachten für den Fall des Atomausstiegs innerhalb der nächsten fünf Jahre Mehrkosten von knapp 90 Mill. Mark bis zum Jahr 2030. Außderdem sei mit dem Verlust von 150.000 Arbeitsplätzen zu rechnen.

17. Dez. Die AtG-Novelle soll zwischen BMU und BMWi in einer Koalitionsausschusssitzung am 13. Januar nachverhandelt werden. Während Trittin von einem bereits fertigen Gesetzentwurf spricht, redet das BMWi lediglich von einem "Referentenentwurf".
 

In einem Beitrag des ARD-Fernsehmagazins Monitor werden erstmals die unter Verschluss gehaltenen Verträge zwischen der französischen WAA-Betreiberfirma Cogema und den deutschen Energieversorgern bzw. der deutschen und der französischen Regierung gezeigt: Weder auf der privatwirtschaftlichen noch auf der häufig zitierten Völkerrechtsebene ergeben sich demnach Schadensersatzforderungen an die deutschen EVU`s oder die deutsche Regierung im Falle eines WAA-Verbotes.

21. Dez. Biblis-Betriebsrat Alwin Fittig plant mit der Belegschaft die "Aktion dunkle Republik". Um eine Stilllegung der 1974 und 76 in Betrieb gegangenen Reaktorblöcke A und B zu verhindern, würde man in Spitzenzeiten einfach abschalten.

22. Dez. Trittin erlässt für die Reaktorsicherheits- und die Strahlenschutzkommission (RSK u. SSK) neue Richtlinien, und löst beide Kommissionen "mit sofortiger Wirkung" auf.

23. Dez. Mittags: Schröder warnt Trittin vor der Umbesetzung der RSK und SSK, da dies die Konsensgespräche gefährden könne: "Wer die Konsensgespräche gefährdet, stellt die politische Übereinkunft in Frage." Abends: Schröder: Die Beratungskommission des Umweltministers sei allein Trittins Sache. Er wäre aber "gerne vorher nochmal informiert" worden.

30. Dez. Kanzleramtsminister Bodo Hombach kündigt eine baldige Wiederaufnahme der Castortransporte an.

4. Jan. 1999. Wie erst jetzt bekannt wird, hat Trittin in der letzten Verhandlungsrunde zum Ökosteuerkonzept am 17.12. vorgeschlagen, den Kernbrennstoff für Atomreaktoren genauso wie Gas und Öl mit einer Steuer zu belegen. Bei einem Pfennig pro kWh würden pro Jahr etwa 1,5 Mill. Mark zusätzliche Steuereinnahmen entstehen. Da die Mineralölsteuer auf Öl und Gas beibehalten werde, käme eine Nichtbesteuerung von Atomstrom einer Subventionierung gleich. Am selben Tag zieht die grüne Vorstandssprecherin Gunda Röstel den Vorschlag ihres Parteifreundes wieder zurück. Der umweltpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion bezeichnet Trittins gesamten Gesetzentwurf als mit zu "heißer Nadel gestrickt" und "nachbesserungsbedürftig".

13. Jan. Im Streit um das neue AtG einigen sich SPD und Grüne auf die Details: Demnach soll das Verbot der WAA zwar in der Novellierung des AtG enthalten sein, aber erst ein Jahr danach zum Jahr 2000 in Kraft treten.

23. Jan. Jürgen Trittin verteidigt auf dem Länderrat seiner Partei die Pläne für neue dezentrale Zwischenlager an den AKW-Standorten. Eine Genehmigung der neuen Zwischenlager ohne verbindliche Fristen für die Restlaufzeiten werde es nicht geben. Die Genehmigung der Zwischenlager werde ebenfalls zeitlich befristet sein.

25. Jan. Schröder trifft sich zu einem weiteren Vorgespräch mit den Konzernchefs der deutschen EVU`s. Nach dem Gespräch gibt die SPD bekannt, dass Kabinett und Bundestagsfraktionen doch nicht diese Woche über die Atomgesetznovelle beraten werden: "Im Zweifelsfall muss sich der Umweltminister der Kabinettsdisziplin beugen."
 

26. Jan. Offizieller Beginn der Konsensrunde. Ergebnis: Es wird keinen festen Termin für die Beendigung der WAA geben. Die Neufassung des Atomgesetzes wird verschoben und nicht wie geplant am 29.01. im Parlament beraten. Schröder sagte, der Ausstieg aus der WAA werde "so schnell als möglich" und "anlagenbezogen" erfolgen.

31. Jan. Das Gerangel um die Restlaufzeiten wird von den EVU`s in der WamS eröffnet: Jedes AKW müsse 40 - 60 Volllastjahre erreichen. Dabei zählen nur die Tage, an denen der Meiler auch mit seiner gesamten Megawatt-Leistung am Netz war. Je mehr Pannen ein Reaktor zu verzeichnen hat, desto länger dürfte er nach dieser Lesart am Netz bleiben. Als erstes AKW würde demzufolge Obrigheim im Jahre 2019 stillgelegt, Krümmel ginge 2034 vom Netz und Brunsbüttel als letzter Reaktor im Jahr 2047. Wenn sich die rot-grüne Koalition dieser Zeitplanung nicht anschließe, würden weitere Konsensgespräche "keinen Sinn mehr machen", erklären Manager der Betreiberfirmen in dem Sonntagsblatt.

1. Feb. BMWi Werner Müller hält den Wiedereinstieg in die Atomkraft in ferner Zukunft für "denkbar".

2. Feb. Die Fraktionsvorsitzenden Peter Struck (SPD) und Rezzo Schlauch (Grüne) stellen der Presse ihre Bilanz nach 100 Tagen rot-grüner Koalition vor. Titel der Broschüre: "Versprochen und Wort gehalten." Die innerhalb der 100-Tage-Frist vorgesehene Novellierung des AtG wurde abermals verschoben: Diesmal auf den 3. März 1999.

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Mathias Edler ist aktiv in der BI Lüchow-Dannenberg