75 Jahre NATO

Das Damoklesschwert über der Existenz der Menschheit wird 75

von Bernhard Trautvetter
Hintergrund
Hintergrund

Im April dieses Jahres begeht die NATO ihr 75-jähriges Bestehen. Ihre Legitimation baut sie seit jeher auf der Warnung vor dem Osten auf. Auf die Sowjetunion, die 1991 aufgelöst wurde, folgte da bald Russland als Rivale und schließlich Feind. Sicherheit heißt für die NATO militärische Stärke in Europa und immer mehr auch weltweit.

Wachsende Armut, Unterfinanzierung der Gesundheit, Bildung, Ökologie, Infrastruktur und des Sozialsektors wird dieser Art Sicherheit in den aktuell 31 Staaten teilweise geopfert. Abschreckung, Rüstung und Krieg werden prioritär finanziert, während Kinder weltweit im Sekundentakt verhungern.

Die NATO-Staaten geben, nach den offiziellen Zahlen, im Minutentakt über 2,3 Millionen US-Dollar für den Militärsektor aus (1); hinzu kommen dabei nicht berücksichtigte Kosten der Zerstörung, des Wiederaufbaus, der Forschung und für Dual-Use-Systeme. Der Gesamt-Rüstungs-Etat aller 31 NATO-Staaten liegt bei mehr als dem 14-fachen Russlands; dessen so kommunizierte Gefährlichkeit ist für die NATO der Grund für die Vorgabe, mindestens zwei Prozent ihrer gesamtwirtschaftlichen Leistung für den Militärsektor auszugeben. (2)

Die aktuelle Höhe der offiziellen NATO-Militärausgaben entspricht 2024 in etwa der globalen Summe aller Militärausgaben der Staaten der Welt circa 40 Jahre zuvor. Damals schrieb das Gründungsmitglied der Grünen Petra Kelly: „Das System ist bankrott, wenn auf dieser Erde pro Minute 2,3 Millionen Dollar dafür ausgegeben werden, die Vernichtungsmaschinerie zu vervollkommnen, … Das System ist kaputt, bankrott, wenn man für alle Namen der Unvernunft vernünftige Namen erfunden hat… nach allem, was wir wissen, gibt es für die Bundesrepublik, wenn es zum Krieg kommt, den Verteidigungsfall nicht mehr. Es gibt nur noch den Vernichtungsfall. …  Tatsache ist, dass diese Sicherheitspolitik uns in die extreme Unsicherheit geführt hat. … Das System ist bankrott, wenn sich das Gehirn gegenüber der Erkenntnis abschottet, dass es dabei ist, sich selbst zu zerstören. … Das System ist bankrott, wenn die Sparbeschlüsse der Koalition sich im starken Rückgang des Etats für Arbeit und Soziales …auswirken. “ (3)

Die Gründung der NATO
Als die NATO-Gründung am 4.4.1949 von 10 Staaten West-, Süd und Nordeuropas sowie von den USA und Kanada vollzogen war, gehörte ihr mit Portugal eine Diktatur an. Die NATO war schon damals kein Bündnis von Demokratien.
Für ihr Gründungsdokument zeichneten sich die US-Diplomaten Achilles und John D. Hickerson verantwortlich – Achilles damals: „Mehr als jeder andere Mensch war Jack für die Natur, den Inhalt und die Form des Vertrages verantwortlich.“ (4)   

Für die Gefahr aus dem Osten kommunizierte man mehrere Konflikte in Staaten zwischen Ost und West von Korea bis Berlin: „Die Sowjetunion, die damals West-Berlin blockiert und ein Jahr zuvor den kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakei unterstützt hat, soll wissen, dass sie für weitere Expansionsversuche einen hohen Preis zu zahlen hat.“ (5)

Damals erklärte der britische Stratege und spätere erste Generalsekretär der NATO, Lt. Hastings Ismay, die Funktion der NATO für Europa „to keep the Soviet Union out, the Americans in“, er hatte noch ergänzt: keep „the Germans down“.(6)

Wie gehaltvoll die Legitimation der NATO als Bollwerk gegen den Kommunismus im Osten war, zeigt ein Text des späteren US-Botschafters in Moskau, des US-Strategen George F Kennan über die sowjetische Führung: „Die Männer, die im Kreml … wollten den Kampf um Deutschland - und ganz Europa - gewinnen, aber nicht durch militärische Aktionen.“ (7) G.F. Kennan kannte sicher die US-Geheimdienst-Studie, die die Wahrheit für die interne Beratung unverfälscht abbildete: Die Sowjetische Führung sei sich „ihrer ungeheuren Schwäche durch die großen Verluste an Menschen (über 20 Millionen Tote…) und an Produktionspotential in der Nachkriegsperiode bewusst“. (8)

Propaganda
Das Vortäuschen falscher Tatsachen lässt sich alleine schon an der Berlin-Blockade nachzeichnen. Die Sowjetunion hatte sich zu diesem Schritt entschieden, nachdem die Westmächte im besetzten Deutschland die Westzonen und die westlichen Sektoren Berlins ökonomisch vom Ostteil durch die Einführung der D-Mark abtrennten. (9). Die Sowjetunion hatte auf alliierten Absprachen beharrt und strebte nach einem neutralen Gesamtdeutschland. Was vom Westen als expansionistische Erpressung dargestellt wurde, entpuppt sich bei genauem Hinsehen umgekehrt als eine Reaktion auf die Machtpolitik des Westens.

So verhielt es sich auch mit der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO, die auf die Wiederbewaffnung Deutschlands keine zehn Jahre nach Kriegsende folgte. Kurz danach stationierten die USA ohne Information der Öffentlichkeit Atombomben in Deutschland (10), und die Sowjetunion bildete mit den Staaten in ihrem Einflussbereich den Warschauer Pakt.

Auch der in den 1960er Jahren von der NATO-Führungsmacht USA sowie vor allem der anfangsvon Frankreich geführte Vietnamkrieg mit seinen circa zwei Millionen Toten auf allen Seiten fügte sich in den Kalten Krieg der NATO gegen den Kommunismus ein. (11)
Nach einem Putsch 1967 wurde der NATO-Staat Griechenland für sieben Jahre eine Diktatur. (12)

Sechs Jahre nach dem Ende der griechischen Junta betrog die NATO die Weltöffentlichkeit mit der Des-Information über eine Atomraketenlücke der NATO gegenüber Russland bei atomaren Mittelstreckenraketen in Europa, indem sie die Arsenale der NATO-Atommächte Frankreich und Großbritannien ausblendete. So erfand sie den Begriff der ‚Nachrüstung‘ und stationierte in mehreren NATO-Staaten Europas nukleare Enthauptungsschlag-Raketen, deren kurze Flugzeit zu den Kommandozentralen und Raketensilos der führenden Staaten des Warschauer Paktes praktisch keine Vorwarnzeit mehr zuließ.

Die Friedensbewegung und die Politik der Sowjetunion im Sinne eines Europäischen Hauses gegenseitiger gemeinsamer Sicherheit erzwangen 1988 den Abzug der US-Atomraketen aus Europa, während auch die Sowjetunion ihre SS 20-Arsenale abbaute.
Die NATO hat gleichzeitig am Konzept des präventiv genannten nuklearen Erstschlags festgehalten, wie das ‚Center for Strategic & International Studies‘ noch 2016 erklärte. (13)

Nach dem Ende der Sowjetunion griff die NATO-Russland-Grundakte die Konzeption der gegenseitigen und damit gemeinsamen Sicherheit auf: „Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Sicherheit aller Staaten in der euro-atlantischen Gemeinschaft unteilbar ist, werden die NATO und Russland zusammenarbeiten, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass in Europa gemeinsame und umfassende Sicherheit auf der Grundlage des Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten, Verpflichtungen und Verhaltensnormen im Interesse aller Staaten geschaffen wird.
Die NATO und Russland werden zur Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beitragen …. Der OSZE als einziger gesamteuropäischer Sicherheitsorganisation kommt eine Schlüsselrolle für Frieden und Stabilität in Europa zu. Im Zuge der Stärkung der OSZE werden die NATO und Russland zusammenarbeiten, um jede Möglichkeit einer Rückkehr zu einem Europa der Spaltung und Konfrontation oder der Isolierung irgendeines Staates auszuschließen.“ (14)

Bruch
Die NATO-Expansion brach mit diesen Festlegungen und mit Regelungen im 2+4-Vertrag und in der OSZE-Sicherheitscharta. Mit der anschließenden Stationierung konventioneller Offensivwaffen sowie leicht in Offensivsysteme umrüstbarer atomarer Abwehrsystemen in Osteuropa konfrontierte sie Russlands Sicherheitsinteressen. Das Argument, sie respektiere die Souveränität aller Staaten, übergeht die vertraglichen Verpflichtungen über den Aufbau einer Friedensordnung gegenseitiger Sicherheit. Diese Entwicklung benannte NATO-Generalsekretär Stoltenberg im September 2023 im EU-Parlament als Grund für den Ukraine-Krieg: „Präsident Putin erklärte im Herbst 2021, die NATO solle versprechen, sich nicht mehr zu erweitern. Er schickte dazu einen Vertragsentwurf. Es war seine Bedingung, um nicht in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben. … Also zog er in den Krieg, um die NATO an seinen Grenzen zu verhindern.“ (15)

Die NATO-Expansion forcierten US-Regierungen teils gegen Bedenken aus Westeuropa. Der bündnisgrüne Politiker Hans-Christian Ströbele diagnostizierte 2009 in diesem Zusammenhang: „Gerade das Bemühen der Europäer, den übermächtigen Einfluss der USA innerhalb der NATO und in ‚Koalitionen der Willigen‘ zurückzudrängen, treibt womöglich den Ausbau der militärischen Fähigkeiten der EU voran.“ (16)

Die Brisanz dieser Entwicklung liegt auch in der Spannung zwischen Atommächten. Schon 1950 hieß es im US-NSC-68-Memorandum, dass die USA mit ihrer „ganzen Macht zuschlagen können, sobald wir angegriffen werden und falls möglich bevor der sowjetische Schlag tatsächlich ausgeführt ist.“ (17) 

Wir müssen der Gesellschaft auch auf der Basis der hier zusammengetragenen Informationen deutlich machen, dass nicht der Krieg, sondern der Frieden der Ernstfall ist, wie es einst der ehemalige Bundespräsident Heinemann ausdrückte. (18)

Anmerkungen
1 https://www.mitwelt.org/militaerausgaben-ruestungsausgaben-deutschland-N... Die Zahl ergibt sich aus der Jahressumme der NATO-Militärausgaben von offiziell 1.232 Milliarden Dollar, das sind 55 Prozent der weltweiten Ausgaben.
2 https://www.merkur.de/politik/news-pistorius-siko-NATO-verteidigungsausg...
3 Petra Kelly Um Hoffnung kämpfen, Göttingen 1983, S, 1f5f,
4 Theodore Achilles Oral History Interview | Harry S. Truman (trumanlibrary.gov) [38}
5 https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/organisationen/NATO/die-anfaen...
https://www.nato.int/cps/en/natohq/declassified_137930.htm
7 Melvyn Leffler: The Struggle for Germany and the Origins of the Cold War. German Historical Institute, Washington D.C. Occasional Paper No 16/1996, S. 52 (Übersetz.: B.T.)
8 Joint Intelligence Staff, hier laut Uli Crämer, Neue NATO: die ersten Kriege, HH 2009, S. 18
9 https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-... und: https://www.grin.com/document/104487
10 https://antifa.vvn-bda.de/2022/07/01/schoengeredetes-kriegsbuendnis/   
11 https://geschichtsforum.de/thema/politische-doktrinen-und-militaerpoliti...
12 https://www.deutschlandfunkkultur.de/vor-50-jahren-militaerputsch-in-gri... und: https://taz.de/Zeitzeuge-ueber-Diktatur-in-Griechenland/!5973582/
13 https://www.csis.org/analysis/NATOs-nuclear-policy-part-revitalized-dete...
14 https://www.NATO.int/cps/en/NATOhq/official_texts_25468.htm?selectedLoca... #
15 https://www.infosperber.ch/politik/welt/stoltenberg-raeumt-ein-NATO-expa...
16 Uli Crämer, Neue NATO: die ersten Kriege, HH 2009, S. 10
17 National Security Council Memo NSC-68, April 1950, nach: Uli Cremer, a.a.O., S. 18
18 Bundespräsident Heinemann: Dem Frieden dienen, 07.02.2014 (Friedensratschlag) (ag-friedensforschung.de)

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Hintergrund
Bernhard Trautvetter, Mitglied im Essener Friedensforum und Gründungsmitglied von Schule ohne Bundeswehr NRW, friedenspädagogisch und -politisch auch in der GEW NRW aktiv, Lehrer an einem Berufskolleg im Ruhrgebiet, Beiträge zu unterschiedlichen Themen u.a. in Zeitschriften wie neue deutsche schule, Friedensforum; eigene Website: www.fotolyrikart.eu.