Bundesregierung

Das drohende Ende des INF-Vertrages und das „Versagen?“ der Bundesregierung

von Alexander S. Neu
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Mit der Aufkündigung des INF-Vertrages seitens der USA fällt ein wesentlicher Baustein der Abrüstungs- und Rüstungskontrollarchitektur für Europa. Die Dimension dieser Entwicklung ist noch nicht vollumfänglich absehbar. Stichworte: Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages 2020 und Verlängerung des New-Start-Vertrages 2021.

Aber spätestestens seit Beginn der Nullerjahre zeichnete sich eine „Trendwende“ hin zur Wiederaufrüstung der USA und der NATO ab: Genannt seien hier die einseitige Kündigung des ABM-Vertrages, die darauffolgende Aufstellung des NATO-Raketenabwehrsystems in Rumänien und Polen, die Nichtratifikation des A-KSE-Vertrages seitens der NATO-Staaten sowie der Beschluss zur Steigerung der Militärausgaben auf zwei Prozent der NATO-Mitgliedsstaaten. Die kollektive Nicht-Teilnahme der NATO-Mitgliedsstaaten an den Verhandlungen zum Atomwaffenverbotsvertrag. Und nun die Kündigung des INF-Vertrages.

Politische Vorstöße in Richtung Abrüstung, Entspannung, gemeinsame Sicherheit sind in der politischen Klasse Deutschlands zu Fremdworten verkommen. Bei entsprechenden Äußerungen im Bundestag wird man seitens der meisten anderen Bundestagsfraktionen mindestens müde belachelt, häufig sogar als „Putinversteher“ diffamiert.

Die Bundesregierungen unter Kanzlerin Merkel wie auch die übrigen europäischen NATO-Mitgliedsstaaten haben sich in all diesen Re-Militarisierungsmaßnahmen der NATO immer hinter den US-Kurs gestellt. Die Nicht-Ratifikation des A-KSE-Vertrages durch alle NATO-Mitgliedsstaaten war das Ergebnis der US-amerikanischen Position. Das gleiche gilt für die Transformation des US-Raketenabwehrschildes in ein NATO-Raketenabwehrsystem. Auch die Aufrüstung auf zwei Prozent des BiP ist im Wesentlichen eine US-Forderung. Die kollektive Ablehnung des Atomwaffenverbotsvertrages seitens der NATO-Staaten zählt ebenso dazu. Letztlich auch die Übernahme des faktenfreien Wordings, wonach Russland den INF-Vertrag breche. In all diesen Fällen gaben die USA den Kurs vor, und diese Vorgabe wurde dann zur einheitlichen NATO-Position. Zwar gab es im politischen Berlin immer wieder auch formulierte „Bauchschmerzen“, aber ein klares NEIN zum US-Kurs war weder in Berlin noch in anderen europäischen Hauptstädten zu hören.

Anstatt eine rationale Debatte im Auswärtigen und Verteidigungsausschuss über Sinn oder Unsinn dieser Militarisierungsmaßnahmen zu führen, wird man mit einer betonköpfigen transatlantischen Ideologie konfrontiert: Das NATO-Bündnis dürfe nicht gespalten werden. Putin wolle jedoch genau diese Spaltung – Ende der Debatte.

Darin sind sich nahezu alle Fraktionen einig – minus DIE LINKE. Mit dieser Spaltungsargumentation wird jegliche Initiative, jegliche Anstrengung zur Abrüstung, zur Entspannung mit Russland etc. bereits im Keime erstickt. Stets steht das Wohl und Wehe der NATO als Argument davor. Kurzum: NATO First.

Europäische Sicherheit?
Die Überzeugung, dass die NATO und nur sie die europäische Sicherheit und den Frieden in Europa garantieren, hat einen quasi-religiösen Charakter angenommen, der sich naturgemäß einem rationalen Diskurs entzieht.

Aber das Gegenteil ist der Fall, analysiert man ganz rational die US-amerikanischen Vorstöße in Europa: Das außen- und sicherheitspolitische Gebaren der USA fördert eben nicht die europäische Sicherheit. All die oben genannten Maßnahmen und Entscheidungen der US-geführten NATO führen zur Destabilisierung des europäischen Kontinents, da sie auf eine nachhaltige Spaltung Europas (Rest-Europa gegen Russland und Weißrussland) abzielen. Und in all diesen Fällen hätte Deutschland zur Abwechslung mal eine konstruktive und friedensdienende Führungsposition einnehmen bzw. sich als ehrlicher Makler anbieten können. Denn, es geht nun mal um europäische, nicht um US-amerikanische Sicherheit.

Russland bot den NATO-Staaten Inspektionsmöglichkeiten an den angeblichen Mittelstreckenraketen an. Alle NATO-Staaten lehnen diese Inspektionsmöglichkeiten ab. Warum werden Inspektionen seitens der NATO abgelehnt? Das ist eine zentrale Frage. Warum nimmt Berlin die Chance zur Rettung des INF-Vertrages nicht in die eigenen Hände und prüft die russische Bereitschaft auf ihre Ernsthaftigkeit? Warum werden die Vorwürfe Russlands, wonach die USA mit dem Startersystem MK41 des NATO-Raketenabwehrsystems ebenfalls den INF-Vertrag breche, einfach als unsinnig verworfen, weil die USA den Vorwurf als unsinnig betrachten? Warum glaubt man nicht, dass auch die USA sich rechtswidrig verhalten könnten? Warum drängt Berlin nicht darauf, dass ein russisch-deutsches Expertenteam das NATO-Raketenabwehrsystem mit der von Russland unterstellten Fähigkeit inspiziert?

All diese Maßnahmen könnte Deutschland ergreifen und würde damit erstens eine für Europa friedensdienliche Leistung erbringen und zweitens eine emanzipatorische Position gegenüber den USA erarbeiten. Europäische Sicherheit und Frieden gehören in europäische Hände –  in zivile europäische Hände.

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Dr. Alexander S. Neu, MdB – DIE LINKE, geb. 1969 im Rhein-Sieg-Kreis, Studium und Promotion in den Politischen Wissenschaften an der Uni Bonn. Er ist Obmann im Verteidigungsausschuss, Stellv. Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Mitglied der NATO-PV.