Das Jugoslawien-Tribunal

von Bernd Hahnfeld
Schwerpunkt
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Bilder von Völkermord und Vergewaltigung, von Vertreibung und Brand­schatzen gehören seit Jahren seit Jahren zu unserer täglichen Fernseh­kost. Gefühle der Ohnmacht und Wut erfassen uns. Wer kann das fürch­terliche Geschehen stoppen? Ist das wirklich nur durch militärisches Eingreifen von außen möglich? Getragen von der großen Mehrheit der Bevölkerung haben jedenfalls in vielen Ländern Politiker den fragwür­digen Versuch unternommen, durch Militäreinsätze weitere Menschenrechtsverbrechen zu verhindern, so zum Beispiel in Kambodscha, in Somalia, in Ruanda und jetzt im ehem. Jugoslawien.

Selbst wenn unterstellt wird, daß es das Ziel all dieser Militäreinsätze ist, die Einstellung der Kampfhandlungen zu erreichen und Bedingungen zu schaffen, die den Überlebenden und den Zurück­kehrenden das Weiterleben ermögli­chen, so stellt sich die Frage, unter wel­chen Bedingungen nach dem Ende der Massaker, der Vertreibungen und der Plünderungen ein friedliches Miteinan­der oder auch nur ein Nebeneinander der verfeindeten ethnischen und religiö­sen Volksgruppen möglich ist.

Nachträglich Gerechtigkeit schaffen

Was muß geschehen, damit die Men­schen wieder gegenseitig ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit akzeptieren? Die Achtung der existenti­ellen Menschenrechte der jeweils ande­ren und die uneingeschränkte Anerken­nung der grundlegenden Normen men­schlichen Zusammenlebens wird nur dann zu erreichen sein, wenn der ernst­hafte und glaubwürdige Versuch unter­nommen wird, auch für die vorangegan­gene Kriegszeit nachträglich Gerechtig­keit zu schaffen. Das bedeutet, daß die zuvor begangenen Menschenrechtsver­brechen verfolgt und die Schuldigen be­straft werden. Nur eine umfassende Aufklärung aller Verbrechen kann letzt­lich die einzelnen Menschen zur Verge­bung des geschehenden Unrechts füh­ren. "Offene Rechnungen" sind der Keim für neue Auseinandersetzungen. Was kann in diesem Zusammenhang die internationale Strafgerichtsbarkeit lei­sten?

Der Sicherheitsrat der Vereinten Natio­nalen hat mit der Resolution 808 vom 22.02.93 und mit der Resolution 827 vom 23.05.93 einen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur strafrecht­lichen Verfolgung der Verantwortlichen für die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehem. Jugoslawien begangenen schwe­ren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht geschaffen.

Die jahrzehntelangen Bemühungen ver­schiedener Gremien der UN und die Einrichtung einer ständigen und allge­meinen internationalen Strafgerichts­barkeit sind bislang erfolglos geblieben, weil sich einige Staaten, insbesondere die USA, Großbritannien und China ge­gen die Einschränkung ihrer staatlichen Souveränität sperren, die notwendiger­weise mit einem derartigen Gericht ver­bunden ist. Sie sprechen sich strikt da­gegen aus, Entscheidungen ihrer natio­nalen Justiz durch ein internationales Gremium überprüfen zu lassen.

Aufgrund der Nachrichten und Berichte über die massenhaften Tötungen, Ver­gewaltigungen und Vertreibungen im ehem. Jugoslawien und Ruanda und auf Druck der beunruhigten Weltöffentlich­keit sah sich der UN-Sicherheitsrat zum Handeln gezwungen. Dabei ließ die fehlende Bereitschaft seiner eigenen Mitglieder zur Schaffung eines allge­meinen internationalen Strafgerichtes dem Sicherheitsrat nur den Weg, ad hoc-Tribunale einzurichten.

Der lange Weg nach Den Haag

Zunächst wurde durch die Resolution 780 vom 06.10.92 eine unparteiische Sachverständigenkommission einge­setzt, die einem späteren Jugoslawien-Tribunal zuarbeiten, Anzeigen nachge­hen und Beweise sichern sollte, die je­doch keinen förmlichen UN-Auftrag zu gerichtsverwertbaren Ermittlungen hatte und die nur mit geringen Finanzmitteln ausgestattet war. Der Vorsitzende  der Kommission ist im September 1993 frustriert von seinem Posten zurückge­treten, wobei er Großbritannien, Frankreich und Deutschland mangelnde Unterstützung der Kommissionsarbeit vorgeworfen und über die UN-Bürokra­tie geklagt hat.

1993 schuf sich der UN-Sicherheitsrat mit den Resolutionen 808 und 827 ein neues Hilfsorgan, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dieser hat den "ausschließlichen Zweck, die Personen zu verfolgen, die für die zwi­schen dem 1. Januar 1991 und einem vom Sicherheitsrat nach der Wiederher­stellung des Friedens festzusetzenden Zeitpunkt im Hoheitsgebiet des ehema­ligen Jugoslawien begangenen schweren  Verstöße gegen das humanitäre Völker­recht verantwortlich sind". Das be­schlossene Statut des Internationalen Strafgerichtshofs beruht auf der Ausar­beitung des Generalsekretärs der UN in seinem Bericht an den Sicherheitsrat.

Wie in bisher allen Fällen der interna­tionalen Strafgerichtsbarkeit ist das in­ternationale Tribunal nicht vertraglich zwischen den beteiligten Staaten ver­einbart worden. Durch Hoheitsakt des UN-Sicherheitsrats sind ad hoc Sonder­gerichte eingesetzt worden.

Das Jugoslawien-Tribunal besteht aus zwei Kammern mit je drei Richtern, ei­ner mit fünf Richtern besetzten Revisi­onskammer, einer großen Kanzlei ein­schließlich einer Abteilung für die Op­fer- und Zeugenbetreuung und aus einer Anklagebehörde mit einem umfangrei­chen Polizeiapparat mit ca. 140 Mitar­beitern. Die Ende 1993 von der UN-Ge­neralversammlung gewählten 11 Richter und Richterinnen stammen aus Ägypten, Australien, China, Costa Rica, Frankreich, Italien, Kanada, Malaysia, Nigeria, Pakistan und den USA. Zum Anklagevertreter wurde zunächst ein Venezolaner bestimmt, der jedoch be­reits im Februar 94 zurücktrat, um in Caracas ein politisches Amt anzutreten. Sein Nachfolger wurde im Herbst 94 der renommierte südafrikanische Richter Richard Goldstone, vormals Vorsitzen­der des Ausschusses zur Untersuchung der politischen Gewalt in Südafrika.

Die gewählten Richter und Richterinnen haben sich durch Beschluß vom 11.2.1994 (geändert am 5.5.94 und am 4.10.94) eine ausführliche Verfahren­ordnung gegeben. Das Verfahren ist am angelsächsischen Rechtssystem orien­tiert, was insbesondere die zahlreichen Beweisregeln deutlich macht. Prozesse dürfen nur in Anwesenheit der Ange­klagten durchgeführt werden. Die Ver­urteilung Abwesender ist unzulässig. Ankläger und Verteidiger haben gleiche Rechte und Pflichten.

Der Sicherheitsrat hat die Mitgliedstaaten der UN aufgefordert, mit dem Gerichtshof zusammenzuarbeiten und alle Maßnahmen zu ergreifen, die nach dem innerstaatlichen Recht notwendig sind, um den Bestimmungen der Reso­lution 827 und dem Statut des IStGH nachzukommen.

Die Finanzierung ist problematisch. Zwar sollen nach Art. 32 des Statuts die Ko­sten aus dem ordentlichen Haushalt der Vereinten Nationen bestritten werden. Der Sicherheitsrat hat jedoch in der Re­solution 827 alle Staaten, die zwischen­staatlichen und die nichtstaatlichen Or­ganisationen nachdrücklich gebeten, dem IStGH Geld- und Sachmittel zur Verfügung zu stellen. Die Kosten der inzwischen insgesamt ca 800 Mitarbei­ter sind hoch, zumal die Ermittlungen eine umfangreiche Reisetätigkeit erfor­dern. Der Schriftverkehr des Gerichts wird überwiegend über Computer ab­gewickelt. Jedoch müssen alle Doku­mente und Vorgänge kostenaufwendig in die beiden Gerichtssprachen englisch und französisch bzw. in die Sprachen der Angeklagten übersetzt werden.

Die Ermittlungsergebnisse sind auf Tonband und Video dokumentiert. Vi­deos und anonyme Zeugen sind als Be­weismittel zugelassen. Die zu verhän­genden Strafen sind beliebig, Strafrah­men gibt es nicht. Jedoch darf die To­desstrafe nicht verhängt werden. Voll­streckt werden sollen die Freiheitsstra­fen unter der Aufsicht des IStGH in ei­nem vom Gericht aus der Liste ausge­wählten Staat nach dessen Rechtsvor­schriften. Eine Begnadigung ist grund­sätzlich möglich. Über sie entscheidet der Gerichtpräsident nach Beratung mit den Richtern.

Zuständig ist der IStGH für vier Ver­brechenkatagorien:

1.    Schwere Verletzungen der vier Gen­fer Abkommen vom 12.8.49

2.    Verstöße gegen die Gesetze oder Ge­bräuche des Krieges,

3.    Völkermord

4.    Verbrechen gegen die Menschlich­keit, wozu u.a. Vertreibung, Folter, Vergewaltigung und andere un­menschliche Handlungen zählen.

Auslegungsprobleme sind zu erwarten, z.B. über den Begriff "Folter" und "unmenschliche Handlungen". Der IStGH hat eine konkurrierende Zustän­digkeit. Was bei der Ausarbeitung der allgemeinen internationalen Strafge­richtsbarkeit insbesondere von den großen Industriestaaten strikt abgelehnt worden ist, hat nunmehr der Sicherheits­rat bei dem Jugoslawientribunal ohne zu Zögern geschaffen. In jeder Phase des Verfahrens kann der IGStGH die vor nationalen Gerichten anhängigen Ver­fahren an sich ziehen.

Völkerrechtlich fragwürdig ist die Rechtsgrundlage des IStGH. In seien Resolutionen zur Errichtung des IStGH hat sich der Sicherheitsrat darauf beru­fen, daß durch die Verstöße gegen des humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien der Weltfriede und die in­ternationale Sicherheit bedroht seien. Damit hat der Sicherheitsrat seine Zu­ständigkeit auf Kapitel VII der UN-Charta gestützt. Die UN-Charta enthält jedoch keine ausdrücklichen Vorschrif­ten, die das Einsetzen judikativer Or­gane zur Wahrung oder Wiederherstel­lung des Friedens erlaubt oder verbietet.

Während z.B. Graefrath die Auffassung vertritt, daß die Einsetzung eines inter­nationalen Tribunals keine zulässige Zwangsmaßnahme nach Art 41 UN-Charta darstellt, sondern vielmehr ein weitreichender Eingriff in die Souverä­nitätsrechte aller Staaten darstellt, meint Hollweg, daß die Maßnahmen der Ein­richtung eines UN-Tribunals nach Art 41 UN-Charta geeignet sei, zur Wieder­herstellung des Weltfriedens beizutra­gen. Er hält die Ermächtigungsgrund­lage für ausreichend. So im Ergebnis auch Trautwein, der jedoch Bedenken hat wegen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 In­ternationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) jedem Be­schuldigten garantierten Rechtes, sich nur vor einem auf gesetzlicher Grund­lage beruhenden Gericht verantworten zu müssen. Legislativkompetenz im Rah­men der UN-Charta haben nur die Mit­gliedsstaaten, nicht aber der Sicherheits­rat.

Der Streit über die Kompetenz des Si­cherheitsrates dürfte keine praktische Bedeutung haben. Denn es geht nicht um die Errichtung einer allg. internatio­nalen Strafgerichtsbarkeit, die nach bis­herigem Rechtsverständnis ohne Völ­kerrechtsvertrag nicht möglich wäre. Die Einsetzung eines internationalen Strafgerichtshof für Menschenrechts­verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und eines weiteren internationalen Strafgerichtshofs für die entsprechenden Delikte in Ruanda ist in der Völkerge­meinschaft auf allgemeine Zustimmung gestoßen.

Deutschland ist wie viele andere Staaten der Aufforderung des Sicherheitsrats ge­folgt und hat am 10.4.95 ein Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem IStGH für das ehemalige Jugoslawien (Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetz verkündet. Dieses ermöglicht die Über­leitung bundesdeutscher Strafverfahren und auch die Auslieferung beschuldigter Personen an den IStGH und regelt Ein­zelheiten der Rechtshilfe.

Spitze des Eisberges

Die Arbeit des IStGH zeigt erste Er­folge. Mit 12 Anklagen sind 52 Perso­nen aus dem ehemaligen Jugoslawien angeklagt. Ein serbischer Verdächtiger ist aus Deutschland an den IStGH aus­geliefert worden. Ein zweiter ist im Ja­nuar 96 in Deutschland festgenommen worden. Dennoch hat im Dezember 95 ein deutscher Ermittlungsrichter ge­klagt, daß die Verfahren in Den Haag nur schleppend vorankämen. Die Ver­teidigung mache sich das angelsächsi­sche Rechts zunutze. Die Justiz in Den Haag habe mit "außenpolitischen Bela­stungen zu kämpfen". Zudem seien Völkermordverbrechen schwierig auf­zuklären. Die Ermittlerteams der Ankla­gebehörde durchsuchen Flüchtlingslager in ganz Europa nach Zeugen (und Be­schuldigten) und recherchieren auch in den Kriegsgebieten, wobei die Kriegs­parteien nur begrenzt oder gar nicht ko­operativ sind und Schutz durch UN-Truppen nur begrenzt möglich ist.

In der Bundesrepublik, wo für Völker­mord (_ 220a StGB) das Weltrechts­prinzip gilt, ermittelt die Bundesanwalt­schaft gegen 45 bis 50 namentlich be­kannte Beschuldigte. Etwa 10 Personen werden mit Haftbefehlen gesucht.

Die Anklagebehörde des IStGH treibt die Ausstellung von internationalen Haftbefehlen voran, die jeden UN-Mit­gliedsstaat verpflichten, die Angeklag­ten zu verhaften und nach Den Haag zu überstellen.

Bedenklich sind die Versuche, Einfluss auf die Arbeit des IStGH zu nehmen. So hat Russland den IStGH für das ehema­lige Jugoslawien ersucht, die Ermittlun­gen gegen den bosnischen Serbenführer Karadic und seinen Militärchef Mladic "einzufrieren". UN-Chefankläger Gold­stone hat dieses Ansinnen zurückgewie­sen.

Inzwischen sind nicht nur Serben, son­dern auch bosnische Kroaten vor dem IStGH angeklagt worden. Ihnen wird vorgeworfen, für die Tötung von Zivili­sten in dem mehrheitlichen von den bosnischen Moslems bewohnten Lasva Tal 1992/93 verantwortlich zu sein. Kritisch zu betrachten sind in diesem Zusammenhang Bemühungen der Bun­desregierung Deutschlands im UN-Si­cherheitsrat. Dort versucht die Bundes­regierung zu verhindern, daß der Si­cherheitsrat in gleicher Weise wie Ser­bien auch Kroatien wegen der im Krieg begangenen Menschenrechtsverletzun­gen verurteilt.

Ruanda - Strafgerichtshof

Eine Amnestie für mutmaßliche Kriegs­verbrecher hält der Chefankläger Gold­stone für ausgeschlossen. Er hat unmissverständlich erklärt, daß die Anklage und die Urteile des Tribunals niemals Verhandlungsmasse bei Friedensver­handlungen sein könnten. Mit einer Amnestie, die nur der UN-Sicherheitsrat erlassen könne, sei nicht zu rechnen.

Seit Ende Juni 1995 hat sich auch der IStGH für Ruanda konstituiert. Er ist vom Sicherheitsrat beauftragt worden, die Verantwortlichen für den Völker­mord an bis zu 1.000.000 Angehörigen der Tutsi-Minderheit im Jahre 1994 zur Rechenschaft zu ziehen. Der ständige Sitz dieses Gerichts ist Arusha in Tan­sania. Die Anklagebehörde wird in Den Haag bleiben.

Dieses Gericht hat sich die gleiche Ver­fahrensordnung gegeben wie das für das ehemaligen Jugoslawien zuständige Ge­richt. Am 8.1.96 ist das Tribunal in Arusha erstmalig zusammengetreten. Bislang sind acht Personen angeklagt worden. Drei von ihnen sitzen in Bel­gien in Haft. Ihre Auslieferung soll be­antragt werden. Als problematisch könnte sich herausstellen, daß nur ein kleiner Teil der 57.000 nach den Mas­senmorden in Ruanda festgenommenen Personen vor den IStGH gestellt werden kann. Ob damit den Opfern das Gefühl vermittelt werden kann, ihnen wider­fahre Gerechtigkeit, wird die weitere Entwicklung zeigen.

Können die beiden internationalen Strafgerichte Modellcharakter haben für die so lange hinausgezögerte allgemeine internationale Strafgerichtsbarkeit?

Ein Bedürfnis für eine allgemeine inter­nationale Strafgerichtsbarkeit besteht nur in den Fällen, in denen bei Völker­rechtsverbrechen staatliche Strafgerichte untätig bleiben oder Entscheidungen treffen, die sich nicht an den internatio­nal anerkannten Rechtsnormen orientie­ren. Das ist dann der Fall, wenn (a) ein Straftäter in seinem Land weder straf­rechtlich verfolgt noch ausgeliefert wird (z.B. Libyen-Fall) oder (b) die staatliche Strafgerichtsbarkeit nicht funktioniert, weil es sich z.B. um Regierungskrimi­nalität handelt.

In solchen Fällen könnte und müsste eine internationale Strafgerichtsbarkeit die Anwendung von international einheitli­chen Bewertungsmaßstäben sichern. Das setzt voraus, daß nationalstaatliche Strafverfahren und -urteile überprüft werden können. Dazu sind die Regie­rungen vieler Staaten (immer noch) nicht bereit.

Ein ständiger internationaler Strafge­richtshof

Es gibt zwei Wege zur Einrichtung ei­nes ständigen und allgemeinen interna­tionalen Strafgerichtshof. Der Weg über die Ergänzung der UN-Charta ist wegen des komplizierten Satzungsänderungs­verfahrens derzeit nicht erfolgverspre­chend. Wegen der Widerstände vieler Regierungen ist auch mit der völkerver­traglichen Einrichtung eines für zahlrei­che Staaten zuständigen internationalen Strafgerichtes nicht zu rechnen.

Das Dilemma ist zurzeit nicht lösbar. So bleibt nichts anderes übrig, als die Möglichkeit des Sicherheitsrats, ad-hoc-Gerichte zu schaffen, zu akzeptieren und in Kauf zu nehmen, daß durch das Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates eine Ungleichbehand­lung festgeschrieben wird. Völker­rechts- und Menschenrechtsverbrechen, die im Auftrag und im Namen Chinas, Frankreichs, Großbritanniens, Russlands und der USA begangen worden sind, werden auf absehbare Zeit nicht vor in­ternationalen Strafgerichten verhandelt werden.

Diese Ungleichheit sollte jedoch nicht dazu führen, auf die internationale Strafgerichtsbarkeit völlig zu verzich­ten. Die Verfolgung und Bestrafung schwerwiegender Völkerrechts- und Menschenrechtsverbrechen ist Voraus­setzung für die Versöhnung zerstrittener Volks- und Religionsgruppen. Auch ist jedenfalls bis zum Beweis des Gegen­teils  mit einer generalpräventiven Wir­kung zu rechnen.

Jedes einzelne internationale Tribunal ist ein wichtiger Schritt zur künftigen Errichtung eines ständigen und allge­meinen Strafgerichtshof der UN. Es ist der Ausdruck einer internationalen Überzeugungsgemeinschaft und eines Konsenses über fundamentale Grund­werte und Menschenrechte, die durch Kriegsparteien nicht folgenlos gebro­chen werden können.

Nicht übersehen werden sollte letztlich auch, daß der weltweite Medienverbund mit seinen Nachrichten über die Durch­führung und die Ergebnisse internatio­naler Strafverfahren dazu beiträgt, das allgemeine Rechtsverständnis zu prägen und Rechtstreue zu fördern. Kein Staat und keine Regierung lassen sich gern öffentlich der Verstöße gegen das hu­manitäre Völkerrecht bezichtigen.

Der vorrangige Zweck einer völker­rechtlichen Strafe ist nicht die Vergel­tung und auch nicht die Abschreckung. Es ist das Ziel, die gebrochene Norm selbst im Namen der Menschheit wie­derherzustellen, ihre Geltung gegen den politischen motivierten Bruch zu vertei­digen und sie damit in ihrem ständigen Konflikt mit der staatlichen Macht als die stärkere durchzusetzen. Normen, die sanktionslos gebrochen werden, erodie­ren und verschwinden letztlich wären sie noch so grundlegend.

Obwohl Recht den Frieden allein nicht herbeiführen kann: Ein Frieden ohne Recht kann nicht von Dauer sein. Alter­nativen zu einer für alle Menschen zu­ständigen internationalen Strafgerichts­barkeit gibt es nicht. Nach Pressemit­teilungen berät seit Ende 1995 die UN-Generalversammlung über einen Ent­wurf für ein derartiges Gericht.

 

Wir haben diesen Text aus "Betrifft Justiz" entnommen und stark ge­kürzt.

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Bernd Hahnfeld ist Richter im Ruhestand und Gründungs- und Vorstandsmitglied der IALANA.