Das Menschenrecht Kriegsdienstverweigerung und das Europäische Parlament

von Christof Tannert
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"Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern ist für einen modernen Staat eine Schande - und eine Art Geständnis der öffentlichen Gewalt, kriegerische Ziele zu begünstigen."

Dieses Urteil von Albert Einstein mag 1930 radikal geklungen haben, 1998 ist es in Europa wahrscheinlich mehrheitsfähig. Das Europäische Parlament zumindest hat unmißverständlich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung Stellung genommen. Dennoch: die Frage der Kriegsdienstverweigerung ist in Teilen Europas nicht befriedigend gelöst.

"Deswegen kann und will ich nicht auf einen türkischen Menschen schießen. Ich kann das nicht. Ich bin gegen jede Armee, weil sie ein Mechanismus ist, der Krieg vorbereitet wie den Krieg in Jugoslawien."

Mit diesen Worten verteidigte Nikos Karanikas am 19. Dezember 1995 vor dem militärischen Berufungsgericht in Thessaloniki (Griechenland) seine Verweigerung des Kriegsdienstes. Trotz der viermonatigen Haftzeit im Militärgefängnis beharrte er auf seiner Gewissensentscheidung: Mein Gewissen ist meine einzige Wahl. Mein Gewissen ist das Einzige, was ich schützen kann und will."

Nikos Karanikas, 27 Jahre alt, wird am 25. August 1995 verhaftet und ins Militärgefängnis "Pavlos Melas" in Thessaloniki gebracht. Da er sich durch Verweigerung der Einberufung zur Armee entzogen hat, wird er beschuldigt, "in Zeiten einer Generalmobilmachung" (seit dem Zypernkonflikt 1974 befindet sich Griechenland in einem nicht widerrufenen Kriegszustand mit der Türkei) "fahnenflüchtig" gewesen zu sein. Am 5. Oktober 1995 wird er - wie alle jungen griechischen Verweigerer, die sich nicht durch Flucht der Verhaftung entzogen haben - zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

1981 war Griechenland im bisher schnellsten Aufnahmeverfahren als Vollmitglied in die EU aufgenommen worden, auch um dort in der Zeit nach der Militärdiktatur demokratische Verhältnisse zu stabilisieren. Aber in der Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wurde Griechenland seiner Vollmitgliedschaft nicht gerecht. Diejenigen, die in Griechenland der Einberufung zur Armee nicht Folge leisteten, wurden als "Anypotaktoi" ("Unbeugsame") bezeichnet. Neben der drohenden Verhaftung und Verurteilung wurde ihnen das Wahlrecht aberkannt, sie waren von einer Einstellung im öffentlichen Dienst ausgeschlossen und erhielten keine Reisedokumente. Ungefähr 13 000 Griechen, die im Ausland leben und den Wehrdienst nicht antreten wollten, können und wollen wegen dieser Strafmaßnahmen offiziell nicht nach Hause zurückkehren.

Abgeordnete des Europäischen Parlaments haben deshalb in den vergangenen Jahren immer wieder in parlamentarischen Anfragen und Petitionen diese Diskriminierung angeprangert und die Einführung des Menschenrechts "Kriegsdienstverweigerung" gefordert. In den jährlichen Berichten des Parlamentes "Zur Achtung der Menschenrechte in der Europäischen Gemeinschaft" wurde diese Frage mit steter Regelmäßigkeit angesprochen. Im Bericht vom 11.3.1993 heißt es: "Das Europäische Parlament ... verurteilt insbesondere die Praxis Griechenlands, Kriegsdienstverweigerer wie Verbrecher zu behandeln und zu langen Haftstrafen in Militärgefängnissen zu verurteilen."

In der "Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. Januar 1994 zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft" lautet Artikel 11: "verurteilt die Mitgliedsstaaten, in denen, wie Amnesty International erklärt hat, Haftstrafen gegen Kriegsdienstverweigerer verhängt werden, und fordert insbesondere, daß die griechische Regierung dringend die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den in dieser Entschließung aufgeführten Grundsätzen nachzukommen."

Seit 1988 versprach die griechische Regierung, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und einen alternativen Zivildienst einzuführen. Das hatte jedoch nichts an der Verurteilung von Karanikas am 5. Oktober 1995 zu vier Jahren Gefängnis geändert.

Doch inzwischen erhielt der Fall von Nikos Karanikas zunehmend internationale Bedeutung und damit exemplarischen Charakter. In einem Interview in der Fernsehsendung der ARD Europamagazin am 4. November 1995 hatte ich die Forderung des Europaparlamentes an die griechische Regierung nachdrücklich wiederholt, nun endlich ihre Versprechen zu erfüllen und einen Zivildienst einzuführen. Der damalige griechische Verteidigungsminister Gerassimos Arsenis, der noch im September des Jahres im griechischen Fernsehen behauptet hatte, ein Zivildienst sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich, erklärte daraufhin in dieser Sendung, es brauche noch etwas Vorbereitungszeit, aber in etwa zwei Jahren würde eine Verfassungsänderung des entsprechenden Artikels 4 der griechischen Verfassung vollzogen sein.

Amnesty International hatte Nikos Karanikas als einen Gefangenen aus Gewissensgründen adoptiert und forderte ebenso seine unmittelbare Freilassung. Bei seiner Berufungsverhandlung am 19. Dezember 1995 waren Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Vertreter von internationalen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) anwesend. Sie traten vor dem Militärgericht als Zeugen der Verteidigung auf. Diese massive Intervention hat sicher dazu beigetragen, daß Nikos Karanikas nach dem Urteil "ein Jahr Gefängnis mit drei Jahren Bewährung" freigelassen wurde.

Infolge des internationalen Drucks wurde am 5. Juni 1997 vom griechischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, in dem zum ersten Mal in Griechenland das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anerkannt worden ist.

Damit sich dieser langwierige und beschämende Prozeß der Einführung demokratischer Standards in den künftigen EU-Mitgliedstaaten nicht wiederholt, muß schon vor dem Beitritt gesichert sein,

- daß das Recht auf Kriegsdienstverweigerung mit zu den Menschenrechtskriterien gehört, die
  Beitrittsstaaten erfüllen müssen, um in die Europäische Union aufgenommen werden zu können,
  und

- daß dieses Recht in den künftigen Beitrittstaaten vor der Aufnahme in die EU eingeführt ist.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird heute international nicht mehr nur als ein Recht gesehen, das Wehrpflichtigen quasi als Gnadenakt eingeräumt wird, sondern es ist fundamentaler Bestandteil des Menschenrechtes auf Gewissensfreiheit.

Das Europäische Parlament hat dies in seiner Resolution vom 18. Januar 1994 zur Militärdienstverweigerung Artikel 5 sehr eindeutig dargestellt: "Das Europäische Parlament ist der Überzeugung, daß das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen sich gemäß Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, zu deren Achtung sich die Europäische Union verpflichtet hat, und daß daher die Harmonisierung der einschlägigen Rechtsvorschriften in die Zuständigkeit der Europäischen Union fällt."

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird vom Europäischen Parlament in Artikel 1 dieses Beschlusses "als ein rein subjektives Recht" angesehen, "so daß der Dienst an der Gemeinschaft durch Ableistung eines Militär- oder Zivildienstes erfolgen kann". Somit wird der alternative Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer nicht nur als zweitklassige Ausnahme, sondern als wirkliche Alternative mit gleichem Wert für die Gemeinschaft gesehen.

Dieser Interpretation zufolge trägt die Europäische Union durchaus Verantwortung und muß gewährleisten, daß in ihren Mitgliedsstaaten dieses Menschenrecht nach internationalen Standards anerkannt wird, wie sie in den entsprechenden Resolutionen der Vereinten Nationen, des Europarates und des Europäischen Parlamentes niedergelegt sind.

In einer von mir veröffentlichten Studie, deren Aktualisierung gerade abgeschlossen ist, läßt sich nachlesen, wie der Stand der Entwicklung in den Beitrittsstaaten in Bezug auf das Recht der Kriegsdienstverweigerung und der Einführung eines Zivildienstes ist. Ich will hier nur eine kurze Zusammenfassung vortragen:

In fast allen untersuchten Ländern, mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien, haben nach 1990 große Veränderungen im Militärsektor stattgefunden. In acht Ländern wurde das Recht auf Kriegsdienstverweigerung eingeführt.

Die am besten funktionierenden Zivildienste haben Slowenien, Ungarn, Polen und Tschechien, auch wenn es in den beiden letztgenannten Ländern noch Schwierigkeiten gibt.

Estland ist wegen des geringen Bedarfs an dienenden Wehrdienstpflichtigen in dieser Hinsicht ein Sonderfall ebenso wie die beiden anderen baltischen Staaten. Sie sind in ihren Bemühungen, vor allem was die praktische Umsetzung des Zivildienstes betrifft, leider noch nicht so weit vorangekommen.

Die Slowakei hat durch ihre letzte Gesetzesänderung eher einen Schritt zurückgemacht.

Rumänien akzeptiert nur Angehörige von religiösen Minderheiten als Verweigerer und in Bulgarien existiert das Recht auf KDV noch nicht. Dort werden entsprechende Regelungen vorbereitet, aber die Bemühungen sind nicht sehr vielversprechend.

In der Republik Zypern gibt es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nur in Form von waffenlosem Dienst in der Armee, also keinen zivilen Ersatzdienst. Im türkisch besetzten Nordzypern ist das Recht auf KDV nicht gestattet.

Ich hoffe, daß sich die Situation in den unterschiedlichen Beitrittstaaten im Verlauf des Beitrittsprozesses entsprechend verbessern wird und daß diese Studie einen nützlichen Beitrag dazu leisten wird.

Natürlich hat das subjektive Recht "Kriegsdienstverweigerung" auch Auswirkungen auf militärpolitische Strategien. Gerade in Ländern in Konfliktgebieten könnte die Anerkennung dieses Rechtes eine pazifizierende Rolle spielen. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung hat damit auch eine zivilisatorische Kraft. Insofern wird die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in den europäischen Staaten, durch die Forderung nach einem Schutz von Deserteuren aus Kriegsgebieten von außerhalb der EU vor Verfolgung ergänzt. So hat das Europäische Parlament

Während des Krieges in Ex-Jugoslawien beispielhaft in der Entschließung vom 28. Oktober 1993 "die Völkergemeinschaft" aufgerufen, "Normen zum Schutz von solchen Deserteuren und Militärdienstverweigerern aufzustellen, die sich nicht an nationalistischen Kriegen beteiligen wollen" und "fordert alle Mitgliedsstaaten auf, durch die Unterstützung von Desertion und Militärdienstverweigerung die militärische Macht der Aggressoren im früheren Jugoslawien zu schwächen und klar zu machen, daß sie Militärdienstverweigerern und Deserteuren aus Aggressorstaaten Asyl gewähren".

Wie dringend die Umsetzung solcher politischen Ziele ist, hat nicht nur der Krieg in Jugoslawien gezeigt. Deshalb ist Solidarität und Unterstützung für Menschen wie Nikos Karanikas, den türkischen Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke und alle Kriegsdienstverweigerer in Europa, die der Verfolgung ausgesetzt sind, ein Gebot der Menschlichkeit, aber auch eine politische Tat, die für den Frieden in Europa durchaus eine Rolle spielen kann.

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Christof Tannert war bis Juli 1999 Mitglied des Europäischen Parla/FONT><